Rüstung, militärisch-industrieller Komplex und Ukraine-Krieg
Dass die Bosse der deutschen Rüstungsindustrie begeistert sind von den feurigen Reden der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP, kann man sich lebhaft vorstellen. Dass die Top-Manager dieser Branche von der Politik des SPD-Kanzlers Olaf Scholz mit dessen 100 Milliarden Euro Sonderfonds für Rüstung mehr als angetan sind, liegt ebenfalls auf der Hand. Bleiben bei der Ampel die Grünen. Das Verhältnis Rüstungsindustrie zu den Grünen wurde jüngst in einem Interview mit Thomas Müller, dem Chef des Rüstungskonzerns Hensoldt,auf den Punkt gebracht. Frage (Handelsblatt): „Dringen Sie mit Ihrer Argumentation bei der Bundesregierung durch? Die Grünen sind schließlich aus der Umwelt- und Friedensbewegung hervorgegangen.“ Antwort Müller: „Wir hatten schon vor der Wahl Gespräche mit der Führungsriege der Grünen, auf deren Einladung übrigens. Ich muss sagen, dass dieser Austausch von P ragmatismus und Realismus geprägt war. Wie das [von Robert Habeck geführte] Wirtschaftsministerium derzeit gegenüber unserer Industrie agiert, kann ich nur begrüßen.“1
Kann man die Aktualität der Losung von 1914 „Ich kenne keine Parteien mehr!“ besser auf den Punkt bringen? Alle drei Regierungsparteien und die beiden Oppositionsparteien CDU/CSU und AfD unterstützen den Hochrüstungskurs der Regierung. Und die Spitze der Grünen hatte bereits lange vor Beginn des Ukraine-Kriegs der Rüstungsindustrie gegenüber signalisiert, dass die Grünen auch als Regierungspartei den allgemeinen Aufrüstungskurs, der ja bereits seit mehreren Jahren verfolgt wird, unterstützen würden – „pragmatisch und realistisch“. Die enge Verknüpfung von Rüstungsindustrie und Politik ist ein entscheidendes Wesensmerkmal des militärisch-industriellen Komplexes.
Waffenproduktion im Kapitalismus
Die Herstellung von Waffen ist im Kapitalismus zunächst schlicht ein Business. Der Gebrauchswert der hier hergestellten Produkte – Zerstörung von Gebäuden, Verseuchung von Gebieten und Verletzung und Tod von Menschen – ist sekundär. Entscheidend ist die Frage, ob man mit der Ware Rüstung Gewinne machen kann und wenn ja, wie hoch die Profitrate ist. Das hatte Hermann Göring auf den Punkt gebracht, als er 1938 in einem Gespräch mit Autobossen, die zur Umstellung auf Rüstungsfertigung aufgefordert wurden, ausführte: „Was, meine Herren, bedeutet das alles, wenn Sie eines Tages statt Flugzeuge Nachttöpfe herstellen. Das ist ja einerlei.“2
Ja, das ist einerseits einerlei. Profit ist Profit. Andererseits ist Rüstungsproduktion nicht dasselbe wie die Fertigung von Sanitärwaren. Denn die Nachfrage nach Nachttöpfe und ähnlichen Produkten setzt sich zusammen aus einem Heer von Hunderttausenden Individuen. Eine erste Besonderheit im Rüstungssektor besteht jedoch darin, dass der Staat die entscheidende Nachfrage stellt – sei es der „eigene“ Staat in Form von Rüstungsaufträgen für die Armee des Landes, seien es andere Staaten in Form der Bestellung von Rüstungsgütern, die dann exportiert werden. Im Fall des Ukraine-Kriegs gibt es noch die optimale Situation, dass der eigene Staat bestellt und bezahlt – und dieser dann die Rüstungsgüter auf eigene Kosten in die Ukraine liefern lässt.
Mehr als 95 Prozent der Rüstungsgüter treffen auf diese staatliche Nachfrage. Das hat enorme positive Folgen für die Rüstungsunternehmen. Rosa Luxemburg beschrieb dies wie folgt: Es tritt „an die Stelle einer großen Anzahl kleiner zersplitterter und zeitlich auseinanderfallender Warennachfragen (…) eine zur großen, einheitlichen Potenz zusammengefasste Nachfrage des Staates. (…) In Gestalt der militaristischen Aufträge des Staates wird die zu einer gewaltigen Größe konzentrierte Kaufkraft der Konsumentenmasse außerdem der Willkür, den subjektiven Schwankungen der persönlichen Konsumption entrückt und mit einer fast automatischen Regelmäßigkeit, mit einem rhythmischen Wachstum begabt.“3
Insofern ist der Rüstungssektor fast nie von den klassischen Zyklen der kapitalistischen Produktion betroffen. Es gibt kein Auf und Ab der Profite. Selten kommt es zu einer echten Branchenkrise. Das im Bereich der Tod bringenden Waffen angelegte Kapital ist fast immer das sprichwörtlich blühende Leben.
Umfang der Rüstungsindustrie
Die weltweite Rüstungsbranche ist demnach von einer langfristigen Konjunktur geprägt. Internationale Anspannungen, die verbreitete Androhung von Kriegen und das Auslösen von Kriegen selbst sind gut fürs Geschäft. So erlebte die weltweite Rüstungsbranche im Zweiten Weltkrieg mit dem Koreakrieg, mit dem Vietnamkrieg und mit dem Kalten Krieg im gesamten Zeitraum 1940 bis 1990 einen kaum verminderten Boom. Der Kollaps der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten war dann schlecht für das Geschäft; die Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen und der internationale „Krieg gegen den Terror“ boten hier unzureichenden Ersatz. Die Zunahme der Spannungen zwischen dem Westen einerseits und Russland und China andererseits führte dann ziemlich exakt Anfang des 21. Jahrhunderts dazu, dass die Branche wieder erblühte. Die konkreten Zahlen, wie in der Grafik abgebildet, zeigen: Der wesentliche Anstieg fand zwischen 2000 und 2010 statt. Ausgerechnet die Jahre 2014 bis 2017 sind von Stagnation geprägt – trotz der Inbesitznahme der Krim durch Russland. Seit 2017 gibt es dann einen neuen steilen Anstieg – und dies deutlich vor dem russischen Ukrainekrieg. Der Krieg selbst hat nur einen bestehenden Trend beschleunigt.
Dass es bei der aktuellen Nato-Hochrüstung darum gehen würde, mit Russland und China gleichzuziehen, ist blanker Unsinn. Von den weltweiten Rüstungsausgaben des Jahres 2020 in Höhe von 1981 Milliarden Euro entfielen auf die Nato und die direkt mit ihr kooperierenden Staaten insgesamt 71 Prozent aller weltweiten Rüstungsausgaben. Auf Russland entfielen 3 und auf China 13 Prozent; addiert bringen es Russland und China gerade mal auf 16 Prozent der internationalen Rüstungsausgaben. Dieses krasse Ungleichgewicht verstärkt sich seither durch die westliche Hochrüstung, mit der Russland in keiner Weise und China nur bedingt mithalten können.
Der Anstieg der Rüstungsausgaben unabhängig vom Ukraine-Krieg wird auch am deutschen Beispiel deutlich. Die westdeutschen Militärausgaben lagen kurz vor dem Kollaps der UdSSR bei 50 Milliarden Euro. Sie sanken bis 2005 auf weniger als 30 Milliarden Euro – und stiegen dann bis Anfang 2022 erneut auf mehr als 50 Milliarden Euro. Spätestens für 2023 wird ein neuer Schub auf rund 60 Milliarden erwartet. Um das beschlossene 2Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, sollen diese Ausgaben spätestens 2024 bei 75 Milliarden Euro liegen. Damit würde allein Deutschland deutlich mehr für Rüstung ausgeben als Russland.
Wirkungsweise von Rüstung im Kapitalismus
Eine in der Bevölkerung gängige These lautet, durch Rüstung würden Profite und Wachstum gedeihen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Zunächst können hohe und steigende Rüstungsausgaben tatsächlich zu Wachstum und mehr Arbeitsplätzen beitragen. Das war so ab dem Jahr 1933, als das NS-Regime hochrüstete. Und das ist aktuell der Fall: Derzeit sind laut Angaben der Bundesvereinigung Deutscher Sicherheits- und Verteidigungsindustrien 136.000 Menschen in der Rüstungsbranche beschäftigt; bis Ende 2022 könnten es um die 150.000 sein. Vor zehn Jahren waren es rund halb so viele. Der Umsatz – 2021 waren es 12,2 Milliarden Euro – dürfte 2022 auf rund 15 Milliarden Euro ansteigen. Da der Gebrauchswert von Rüstung aber ein höchst spezifischer ist und Otto Normalverbraucher sich eher keine Haubitze zulegt beziehungsweise die schwäbische Hausfrau sich ausgesprochen selten einen Panzer in den Vorgarten stellt, muss das Geld für diese Waffen “organisiert“ werden. Sei es über Steuern, sei es über Verschuldung. Beides findet statt – und in beiden Fällen bezahlt dies am Ende zum größten Teil die Bevölkerung als Ganzes – auf dem Weg höherer Steuern oder Sozialabbau oder Inflation.
Von Linken werden Rüstungsausgaben oft mit anderen staatlichen Ausgaben verglichen; die DKP Offenbach beispielsweise fragte in einem Flugblatt: „Wie viele Medizinstudienplätze und Arbeitsplätze für Ärzte und Pflegekräfte könnten mit 75 Milliarden Euro geschaffen werden: Investitionen in das Leben und die Gesundheit statt in Tod und Vernichtung!“ Von einem humanistischen Standpunkt aus lautet die Antwort natürlich, dass staatliche Ausgaben für das Leben den Ausgaben für den Tod vorzuziehen seien. Allerdings stellt sich die Sache aus der Logik des Kapitals anders dar. Rüstungsausgaben fließen überwiegend in einen privatkapitalistischen Sektor; sie stärken also die Unternehmen und auch die kapitalistische Klasse. Staatliche Ausgaben für Bildung oder Gesundheit oder Kultur hingegen stärken „nur“ die Zivilgesellschaft; aus Sicht des Kapitals sind das entgangene staatliche Gelder für die eigenen profitablen und politischen Zwecke.
Auf längere Sicht allerdings kann sich Rüstung auch für die kapitalistische Gesellschaft rächen. Die Verschuldung kann in Inflation und Finanzcrash münden. Das gab es in Deutschland 1923, 1929 und 1948. Das Ausbleiben von Investitionen in Bildung und Infrastruktur kann die Verwertungsbedingungen des Kapitals auf mittlere Frist erschweren und die internationale Konkurrenzfähigkeit beschädigen. Der Aufstieg Japans nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Herausforderer der USA wurde oft und zu Recht damit begründet, dass Japan jahrzehntelang nur sehr geringe Rüstungsausgaben hatte. Kurz: Ein Hochrüsten kann kurzfristig die innerkapitalistischen Widersprüche ausbügeln. Mittel- und langfristig stellt dies jedoch auch eine wirtschaftliche Belastung dar.
Ukraine-Krieg und militärisch-industrieller Komplex
Olaf Scholz hat seine Zeitenwende-Rede und die Ankündigung des 100-Milliarden-Euro-Fonds für Hochrüstung im Geheimen vorbereitet. Man darf davon ausgehen, dass es entsprechende Absprachen mit der Rüstungsbranche gab. Faktisch gibt es eine enge Vernetzung zwischen den führenden Vertretern der Rüstungskonzerne, den maßgeblichen Militärs von Nato und Bundeswehr, einem eher engen Kreis von Regierungsvertretern und Abgeordneten und ausgewählten Medienleuten, darunter den Chefs der großen Print- und elektronischen Medien. Und so setzte direkt nach der Zeitenwende-Rede des Kanzlers eine massive mediale Kampagne für den verschärften Hochrüstungskurs ein. Das weitgehende Verschmelzen von Rüstungsindustrie, Politik und Medien wird auch als militärisch-industrieller Komplex bezeichnet. Bei Rosa Luxemburg heißt es in diesem Zusammenhang: Es befindet sich „der Hebel dieser […] rhythmischen Bewegung der militaristischen Kapitalakkumulation in der Hand des Kapitals selbst – durch den Apparat der parlamentarischen Gesetzgebung und des zur Herstellung der sogenannten öffentlichen Meinung bestimmten Zeitungwesens.“5 Es geht dabei auch, wie vor dem Ersten Weltkrieg, um eine allgemeine Militarisierung der Gesellschaft. Jüngst hieß es in einem Kommentar in der Süddeutschen: „Die Bundeswehr soll jetzt wieder zur Landesverteidigung in der Lage sein. Eine solche Armee braucht aber Platz. Sie wird sichtbarer sein. Sie wird üben müssen, ihre Panzer zu verlegen. Und dafür muss sie raus auf die Straßen.“6
Anmerkungen:
1 „Panzer allein reichen nicht“ – Interview mit dem Chef des Rüstungskonzerns Hensoldt in: Handelsblatt vom 24. April 2022.
2 Zitiert in: O.M.G.U.S. – Ermittlungen gegen die Deutsche Bank, Nördlingen 1985, S. 150.
3 Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913, Seite 442.
4 Quelle für die Grafik: blog Kai Kleinwächter, Zeitgedanken; Beitrag vom 27. April 2022. https://zeitgedanken.blog/2022/04/27/sipri-global-steigende-militarausgaben/
5 Wie Fußnote 3.
6 Süddeutsche Zeitung vom 5. März 2022.