Die Lüge vom erschwinglichen Essen

Pestizide und ihre versteckten Kosten

Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist die Bedeutung von Lebensmittelpreisen für die gesellschaftliche Stabilität erneut in das allgemeine Bewusstsein zurückgekehrt. Damals gab es in über 40 Ländern so genannte Food Riots, Hungerrevolten, die mehrere Regierungen ins Wanken brachten und zum Sturz der Regierung von Haiti führten.

In Haiti hatte sich der Preis für einige Grundnahrungsmittel in Wochenfrist verdoppelt. Die Wucht und Reichweite der Proteste war so groß, dass das Online-Magazin NATO Review im Juni 2008 dem Thema „Ernährung und Sicherheit“ gleich vier Beiträge widmete. Doch die damalige Explosion der globalen Lebensmittelpreise war nicht auf Missernten zurückzuführen, was sich anhand einschlägiger Statistiken der Welternährungsorganisation gut belegen lässt. Schuld an den Preissteigerungen waren vor allem massive Spekulationen, insbesondere an der Chicagoer Rohstoffbörse.

Die Food Riots des 21. Jahrhunderts sind aber auch das Resultat eines von Weltbank und Internationalem Währungsfonds verstümmelten Welternährungssystems. Zu den Auflagen der Austeritätspolitik gehörten die drastische Verringerung staatlicher Reserven von Getreide und anderen Lebensmittelvorräten, die Aufgabe kontrollierter Lebensmittelpreise, die durch staatliche Stützung halbwegs stabil gehalten wurden, und der Abbau von Handelsbeschränkungen, mit denen zuvor der Binnenmarkt geschützt wurde.

Billiger essen

Schritt für Schritt wurde die Vision des damaligen US-Landwirtschaftsministers John Block umgesetzt, der 1986 sagte: „Die Idee, dass sich die Entwicklungsländer selbst ernähren sollen, ist ein Anachronismus aus vergangener Zeit. Diese Länder können ihre Ernährungssicherheit besser gewährleisten, indem sie auf landwirtschaftliche Produkte der USA zurückgreifen, die in den meisten Fällen viel billiger sind.“

Umgekehrt waren diese Länder ihrerseits gehalten, verstärkt zu exportieren, um ihre Schulden zu begleichen. So hat sich in den vergangenen 30 Jahren zum Beispiel die globale Produktion von Kakao mehr als verdoppelt und die von Soja mehr als verdreifacht. Sowohl die „viel billigeren“ Produkte aus den USA und der Europäischen Union als auch die Erzeugung der Exportprodukte des globalen Südens basieren zum allergrößten Teil auf industriellen Produktionsmethoden unter intensivem Einsatz von Agrochemikalien. Parallel zu dieser Entwicklung wurden signifikante Teile der armen Landbevölkerung in urbane Arbeitslosenheere oder in Beschäftigte einer Schattenökonomie verwandelt, wodurch einerseits Lohndumping möglich und andererseits billiges Essen zur sozialen Ruhigstellung erforderlich wurde – letztendlich weltweit.

Diese Hintergründe bleiben jedoch verborgen, wenn man dem Mantra der agrochemischen Industrie glaubt, dass Pestizide dringend benötigt werden, um die Weltbevölkerung mit ausreichendem und „erschwinglichem“ Essen zu versorgen. Es gibt zwei Beweislinien, um diesen Mythos zu dekonstruieren.

Die erste fußt auf dem inzwischen durch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen erbrachten Beweis, dass unter bestimmten Rahmenbedingungen sowohl jetzt als auch die im Jahr 2050 erwarteten rund zehn Milliarden Menschen ohne Pestizide ernährt werden könnten. Dabei spielen die Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Als Stichworte seien genannt: die Vermeidung eines überhöhten Konsums an Fleisch- und Milchprodukten, die Reduzierung des Flächenverbrauchs für Agrotreibstoffe, eine systematische Förderung agrarökologischer Anbauverfahren und die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Dann stünde auch 2050 genügend Nahrung für alle zur Verfügung, ohne dass Agrochemikalien zum Einsatz kommen müssten.

Die zweite Beweislinie bezieht sich auf die Erschwinglichkeit der Nahrungsmittel. In Fachkreisen ist bekannt, dass Pestizide im Allgemeinen und Herbizide im Besonderen vor allem betriebswirtschaftliche Mittel darstellen, mit denen billiger produziert werden kann. Doch dass Essen dadurch verbilligt würde, ist ein Trugschluss. Denn ein beachtlicher Teil der Kosten, die durch Einsatz von Pestiziden „effizient“ gemachter Produktion entstehen, wird vergesellschaftet. Um die verdeckten Kosten für Letztere soll es im Weiteren gehen.

Dicke Rechnung

In einer ersten, im Jahr 2016 veröffentlichten Übersicht 1 unterscheiden Denis Bourget und Thomas Guillemaud bei den „versteckten und externalisierten“ Kosten der Pestizidanwendung vier Kategorien:

1. Sogenannte regulatorische Kosten (Kosten zur Finanzierung von Behörden, die für die Genehmigung von Pestiziden und die Überwachung des Pestizideinsatzes zuständig sind bis hin zu Kontrollanalysen von Lebensmitteln und Grundwasser),

2. Kosten für Arbeitsschutzausrüstungen,

3. Kosten für Gesundheitsschäden und

4. Kosten für Umweltschäden.

All diese Kosten werden nicht von den Pestizidherstellern und, wenn man Punkt 2 ausklammert, auch nicht von den Landwirten getragen, wobei der Vollständigkeit halber erwähnt sei, dass die Unternehmen bei der Registrierung eines Pestizids eine Gebühr zahlen.

Wie man sich leicht vorstellen kann, variieren diese Kosten von Land zu Land beträchtlich, was nicht nur mit dessen Größe, sondern auch mit den dort herrschenden Verhältnissen zusammenhängt. Standardisiert auf den Wert des Dollars von 2013 ermittelten Bourget und Guillemaud etwa jährliche regulatorische Kosten von 150.000 Dollar in der Republik Niger und fünf Milliarden Dollar in den USA.

Ähnliche geographische Unterschiede gibt es bei den Kosten für den Arbeitsschutz, denn die Bauern und Bäuerinnen in den Ländern des globalen Südens benutzen schon aus Kostengründen wenig oder gar keine Arbeitsschutzmittel, und den abhängig Beschäftigten der großen Agrarunternehmen wird nicht selten die Bereitstellung von Schutzausrüstung versagt.

Die südafrikanische Organisation Women on Farms Project berichtete, dass Manager Schutzkleidung im Vorwege von behördlichen Kontrollbesuchen austeilen und anschließend wieder einsammeln ließen. Neben ökonomischen Gründen spielen Unwissenheit und die klimatischen Verhältnisse in den Ländern des Südens eine Rolle für den ungenügenden Gebrauch von Schutzausrüstungen. Wer möchte schon bei über 30 Grad mit Schutzmaske oder gar Schutzanzug herumlaufen? Die Vernachlässigung des Schutzes hat entsprechende Folgen für die Gesundheit der Betroffenen.

Das bringt uns zu Punkt 3 unserer Betrachtungen, zu den Kosten für die gesundheitlichen Folgen des Pestizideinsatzes. Vereinfacht gesagt, müssen jedes Jahr Millionen Menschen aufgrund von Schädigungen durch Pestizide stationär behandelt werden – sofern ein Krankenhaus überhaupt erreichbar ist –, damit die Lebensmittelpreise so niedrig gehalten werden können, dass andere, nämlich jene, die in schlecht bezahlten Jobs schuften, sich ihr Essen kaufen können. Für die daraus erwachsenden Kosten, die nicht vom Verursacher, der Pestizidindustrie, sondern entweder von den Betroffenen selbst oder über Versicherungsbeiträge von der Allgemeinheit getragen werden, gibt es in Teilbereichen Schätzungen, in anderen Bereichen nur Vermutungen.

Gift und Galle

Die Kosten für akute Vergiftungen, die nur die Spitze des Eisberges darstellen, lassen sich relativ einfach abschätzen, weil hier der kausale Zusammenhang zwischen der Vergiftungsursache (Pestizid) und den Folgen direkt hergestellt werden kann. Deshalb gibt es für diesen Bereich die meisten Studien, wobei für eine korrekte Schätzung nicht nur die Kosten der medizinischen Behandlung, sondern auch der Lohnausfall bis zur Wiedergenesung berücksichtigt werden muss.

Aus den zwölf Publikationen, die von Bourget und Guillemaud analysiert wurden und die sich auf neun Länder des globalen Südens beziehen2, ergeben sich durchschnittliche Kosten von 55 Dollar, also rund 50 Euro, pro betroffenem Farmer und Jahr. Multipliziert man das mit der wissenschaftlich geschätzten Zahl von jährlich 385 Millionen unbeabsichtigten akuten Pestizidvergiftungen3, ist man weltweit bei knapp 20 Milliarden Euro allein für akute Vergiftungen. Dabei dürften Kosten von unter zehn Dollar pro Fall, wie sie für China, Nepal oder Zimbabwe berichtet wurden, drastische Unterschätzungen darstellen.

Während die Kosten akuter Vergiftungen stark variieren und allem Anschein nach deutlich unterschätzt wurden, ist eine monetäre Bewertung chronischer Gesundheitsschäden durch Pestizide nahezu inexistent und fehlt für Länder des globalen Südens völlig. Das ist umso dramatischer, als dort eine Dauerbelastung mit Pestiziden existiert, die viel höher ist als bei uns. Damit verbunden sind höhere Fallzahlen an chronischen Erkrankungen wie Krebs oder Parkinson.

Für die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer gibt es kaum publizierte Kostenberechnungen für akute Vergiftungen. Stattdessen konzentrieren sich die wenigen Hochrechnungen auf chronische Erkrankungen, die in völlig anderen Dimensionen liegen, obwohl – wie oben erwähnt – die Belastung mit Pestiziden deutlich niedriger ist als im globalen Süden. Das Spektrum der Hochrechnungen reicht von den Kosten für die in Frankreich als landwirtschaftliche Berufskrankheit anerkannten Fälle von Parkinson, 46,7 Millionen Euro im Jahr 2017, bis zu einer EU-weiten Schätzung der jährlichen Kosten für die hormonschädigenden Wirkungen von Pestiziden, die sich auf 120 Milliarden Euro belaufen.4 

Die Umweltkosten von Pestiziden sind noch schwerer zu berechnen, dürften sich aber mindestens im Bereich von dreistelligen Milliardensummen bewegen. Dafür spricht, dass allein in Frankreich jährlich rund 300 Millionen Euro ausgegeben werden, um Pestizidrückstände aus dem Trinkwasser zu entfernen.

Auch aus Deutschland ist bekannt, dass in vielen Wasserwerken eine kostenintensive Aktivkohle-Filtrierung durchgeführt werden muss, um die geltenden Normen einzuhalten. Die Tatsache, dass laut Uno-Statistiken weltweit über zwei Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, vermittelt eine Vorstellung von der Dimension des Problems. Viele andere Umweltschäden wie der Verlust an Biodiversität oder die Minderung der Bodenfruchtbarkeit durch Glyphosat lassen sich oft gar nicht mit Geld bemessen.

Und so weiter?

Bei einem globalen Umsatz von etwa 60 Milliarden Euro pro Jahr verursachen die Pestizidunternehmen externalisierte Kosten, die um ein Vielfaches höher liegen und die von der Allgemeinheit getragen werden. Dies geschieht teilweise in finanzieller Form durch Gebühren, Steuern und Versicherungsbeiträge. Einen großen Teil dieser Kosten bezahlt jedoch die Bevölkerung des globalen Südens, insbesondere die ländliche Bevölkerung, mit reduzierter Lebensqualität und verkürzter Lebenserwartung. Diese Kosten gilt es in Rechnung zu stellen, wenn die Pestizidindustrie behauptet, einen unverzichtbaren Beitrag zur Welternährung zu leisten. Immerhin gibt es sowohl auf EU-Ebene als auch in Deutschland inzwischen ernsthafte, aber von der Industrie bekämpfte Bemühungen, den Einsatz von Pestiziden zu beschränken und den Export von so genannten hochgefährlichen Pestiziden zu verbieten.

Peter Clausing ist promovierter Landwirt und Toxikologe und wissenschaftlicher Berater des Pestizid Aktions-Netzwerks (PAN Germany).

Anmerkungen:

1 Denis Bourguet u. Thomas Guillemaud: „The hidden and external costs of pesticide use“. 2016.

2 Brasilien, China, Elfenbeinküste, Indien, Nepal, Philippinen, Sri Lanka, Vietnam, Zimbabwe.

3 Wolfgang Boedeker, u.a.: „The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review“. 2020

4 Christophe Alliot, u.a.: „The social costs of pesticide use in France“. 2022; Leonardo Trasande, u.a.: „Burden of disease and costs of exposure to endocrine disrupting chemicals in the European Union: an updated analysis“. 2016.