Tempowahn und Eisenbahn

Bündnis für den Widerstand gegen Schädigungen jeglicher Art – Alliance pour l´opposition à toutes les nuisances*

Die Bewegungsfreiheit war als Freizügigkeit einer der wichtigsten Gründe für den Umsturz despotischer Regime. Doch am Ende sind es nun die Waren, die Bewegungsfreiheit genießen, während die Menschen, zu zahlenden Handelsgütern degradiert, von einer Ausbeutungsstätte zur anderen transportiert werden. Das Befreiungsversprechen hat sich am Ende in die bedauerliche Gewissheit verkehrt, nirgend mehr zu Hause zu sein und sich ständig auf die Suche nach sich selbst machen zu müssen. Der [französische Hochgeschwindigkeitszug] TGV entspricht diesem letzten Stadium. Es liegt tatsächlich eine gewisse Logik darin, eine Landschaft so schnell wie möglich zu durchqueren, wenn daraus beinahe alles verschwunden ist, was es wert war, dort zu verweilen, und wenn deren parodistische Nachbildung jederzeit im Euro-Disneyland [sic!] konsumiert werden kann, das zweckmäßig an einem Hauptknotenpunkt des Streckennetzes platziert wurde.

Die Betreiber von Verkehrsprojekten versäumen es nicht, bei jedem neuen Vorhaben an ein scheinbar nicht zu hinterfragendes Naturgesetz zu erinnern: „Geschwindigkeit bedeutet Zeitgewinn“. Der gesunde Menschenverstand erkennt diese Tatsache insofern an, als sie mit den Gesetzen der Physik übereinstimmt. Die Praxis jedoch scheint sie in dem Maß zu widerlegen, wie die in den Verkehrsmitteln bzw. für die Verkehrsmittel verlorene Zeit mit deren Geschwindigkeit zunimmt.

Für die Physik ist die Geschwindigkeit eine Funktion von Zeit und Entfernung. Zum Unglück der Technokraten leben wir aber nicht in der begrifflichen Welt der Physik. Je höher die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs, desto größer ist auch der Widerstand der Umgebung: der physikalischen (Luftwiderstand und Reibung), der natürlichen (Gelände und Oberflächenbeschaffenheit) und der menschlichen (Reaktion der Anwohner auf die zu erwartenden Schädigungen). Je mehr Mittel aufgewendet werden müssen, um diese hartnäckigen Widerstände zu überwinden, desto mehr Arbeitskraft wird es kosten, um diese Mittel zu produzieren. Umso geringer wird also unterm Strich die tatsächliche Geschwindigkeit der Fahrgäste ausfallen, nämlich das Verhältnis zwischen den Entfernungen, die sie zurücklegen, und der gesamten für die Beförderung aufgewendeten Zeit.

Rechnet man die gesamte für den Verkehr aufgewandte gesellschaftliche Arbeitszeit zusammen – etwa für Bau, Betrieb und Instandhaltung der Verkehrsmittel sowie für diverse Auswirkungen wie Gesundheitsschäden –, so stellt man fest, dass die moderne Gesellschaft mehr als ein Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit für diesen Bereich verausgabt: Das ist deutlich mehr, als alle vorindustriellen Gesellschaften jemals für ihre Fortbewegung aufgewendet haben. Jenseits einer bestimmten Geschwindigkeit sind schnelle Verkehrsmittel kontraproduktiv und kosten ihre Nutzer mehr Zeit, als sie einsparen. Die Lohnabhängigen verschwenden ihre Zeit damit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die Konsumenten verschwenden ihr Leben damit, Zeit zu gewinnen.

Die Menschen aber möchten diesen Zwang abschaffen, der Zeit zu einem seltenen Gut und ihr Dasein zu einer endlosen Jagd nach einem Lebensstil macht, der ihnen als wünschenswert dargestellt wird, während ihnen ihr wirkliches Leben zwischen den Fingern verrinnt: „Wäre der Tag, die Woche doch schon vorbei! Wären nur schon Ferien! Wäre ich doch endlich in Rente!“ Derart hilfloses Trachten lässt den Technokraten freie Bahn, die – ganz kühle Objektivität – technische Lösungen anbieten können, bei denen solchen menschlichen Regungen mit materiellen Dingen und reibungslos funktionierenden Maschinen begegnet wird.

Dank der Verkehrsmittel können wir weiter und schneller reisen und an immer mehr Orte gelangen, die wiederum in erster Linie des großen Andrangs wegen erschlossen und so zu etwas Alltäglichem werden. Einmal erschlossen, spezialisieren sich die Gegenden, weil die verschiedenen Tätigkeiten und Beschäftigungen nun an anderen Stellen im Land konzentriert werden: Technologieparks, Freizeitparks, Industrie-, Handels- und Verwaltungszentren, Supermärkte, Schlafstädte, Vororte usw. Das macht selbstverständlich noch schnellere Verkehrsmittel notwendig, um die auf diese Weise neu geschaffenen Entfernungen zu bewältigen. Wenn wir in einem einzigen Jahr eine längere Strecke zurücklegen als unsere Vorfahren in ihrem ganzen Leben, so tun wir das nicht, um anderswohin zu kommen, sondern um uns immer an dieselben Orte zu begeben.

Im Hamsterrad

Verödete ländliche Gegenden, drangvolle Enge in namenlosen Vorstädten und unbewohnbaren Städten, standarisierte Lebensplanungen, ein völlig von wirtschaftlichen Erfordernissen beherrschtes Dasein, eine sogenannte Frei-Zeit samt ihren Beschäftigungen, die selbst Waren geworden sind, sowie das zunehmende Gefühl der Absurdität eines solchen Lebens – so sieht das Los der Mehrheit in unserer Zeit aus. Das schnelle Befördern von Waren und Menschen ist von einem in erster Linie wirtschaftlich begründeten Erfordernis zum Selbstzweck geworden. „Wir haben die Welt verkleinert“, brüstet sich eine Chartergesellschaft. Der gesamten Bevölkerung wurde als Grundbedürfnis aufgezwungen, was die Lebensschablonen der Manager zum Funktionieren benötigen – dieser Hofschranzen im Dienste der Warenmobilität, die bloße biologische Wurmfortsätze der Wirtschaft sind.

Was immer man auch halten mag von der wenig beneidenswerten Dauerhektik der Geschäftsleute oder der jungdynamischen Durchschnittsburschen, die fast immer den Eindruck machen, als kämen sie mit ihrem Mountainbike direkt aus der Metro oder dem Büro – man muss leider einräumen, dass ihr Tempo zum Modell geworden ist.

Der Wahn einer allumfassenden Dringlichkeit hat sich der Bevölkerung bemächtigt. Unsere Zeitgenossen, die aus so vielen verschiedenen Beschäftigungen wählen können, scheinen diese allesamt fieberhaft auskosten und vor allem keine versäumen zu wollen. Man muss unbedingt hin! Kaum von der Maloche zurück, muss man auf allen Hochzeiten tanzen, in die Berge und ans Meer fahren, in die Tropen und an den Polarkreis – und das alles in Rekordzeit: so sehr scheint unser Dasein buchstäblich ausgelaugt und eingeschrumpft zu sein. Ganz ungehemmt äußert sich diese Tyrannei der Geschwindigkeit vor allem in der Dynamik des Geschäftslebens. Wirtschaftliche Schwankungen sind überall in „Echtzeit“ präsent und erscheinen dadurch umso flüchtiger; die Hektik der Businessmen ist umso hoffnungsloser, weil alles, ohne Ende, permanent von vorne beginnt. Das billige Heldenepos, von der neoliberalen Ideologie um das Tun und Lassen von Wirtschaftsbossen, Golden Boys und sonstigen Marionetten zusammenfabuliert, hat letztlich Wirkung gezeigt: Das Reisen muss abgeschafft werden, nur das Ankommen zählt.

Die Menschen wollen sich nicht länger in einem angenehmen Rhythmus fortbewegen, nicht zuletzt deshalb, weil sie vor der Rätselfrage, wie ein eigenes Leben zu erfinden sei, kapituliert haben.

In den modernen Verkehrsmitteln ist eine quasi schizophrene Abkapselung entstanden, indem jede mögliche Gemeinschaft sowie jede echte Individualität beseitigt wurde. Walkmens ersetzen heute die Reiselektüre, die mit der Eisenbahn aufkam. Und in den Zugabteilen installierte Bildschirme sollen die darin herrschende drückende Stille ausfüllen. Was keinen Reiz mehr hat, muss verkürzt und unterhaltsam gemacht werden. Unterwegs zu sein, ist nur noch tote, verlorene Zeit, Zeit der Langeweile. Schnell und weit zu fahren, war zunächst theoretisch wünschenswert. Für die meisten Menschen ist es indes praktisch unverzichtbar geworden, weil sie unterwegs nichts zu tun und niemanden zu treffen haben. Diesem irregeleiteten Bedürfnis entspricht der TGV vollkommen. Mehr als nur ein verbesserter Zug ist er etwas anderes: „ein Airbus im Tiefflug“, wie der Trottel vom Dienst in Le Monde so schön schreibt.

Blitzblankes Dekor wie im Schnellrestaurant, das Klima ebenso konditioniert wie die Fahrgäste, synthetische Lebensmittel, eine einlullende Atmosphäre – alles soll dem Beförderten anzeigen, dass er, misshandelt und eingezwängt in die technologischen Erfordernisse der Transportmaschinerie, tatsächlich nach den Bedingungen des heutigen Massenflugverkehrs behandelt wird, der die ergonomischen und psychologischen Normen festlegt: maximale Raumausnutzung bei totaler Vereinzelung in der Masse.

* Der Text wurde erstmals 1991 veröffentlicht. Er war Teil einer Schrift, die sich gegen die Ausweitung der TGV-Strecken, vor allem gegen die neue TGV-Trasse Paris – Marseille, richtete, gegen die sich Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre eine Protestbewegung von Bauern, Winzern und Anwohnern gewandt hatte. Die TGV-Strecken wurden im Nachbarland in die Landschaft mit einem großen Aufwand an Erdbewegungen, Begradigung, Viadukten usw. geschlagen, wie es dies in Deutschland „nur“ bei den ICE-Neubaustrecken Köln – Frankfurt Erfurt – München gibt. Der – hier stark gekürzte – Text erschien 2015 neu in Form einer Broschüre unter dem Titel „Tyrannei der Geschwindigkeit“ im Verlag Schmetterling (Edition Tunnelblick), damals im Zusammenhang mit dem Massenwiderstand gegen Stuttgart21 stehend.