Kohleausstieg bleibt Handarbeit

Michael Zobel, Wald- und Naturführer im Hambacher Forst, im Gespräch mit Martin Gerner

Über 70 Monate gibt es Ihren Sonntagsspaziergang im Hambacher Wald. Im Mai wird der Spaziergang sechs Jahre alt. Er ist zu einer Art Bewegung geworden. Warum gewinnt dieses Treffen stetig an Zulauf?

Michael Zobel: Im Frühjahr 2014 fragte meine Partnerin Eva Töller mich: „Warst Du schon mal im Hambacher Forst?“ Nö, war ich nicht. Am 26. April 2014 waren wir zum ersten Mal da. Haben einen wunderbaren Wald kennengelernt, damals deutlich größer als heute. Damals lebten bereits seit zwei Jahren junge Menschen auf Baumhäusern im Wald, um den Rest dieses einstmals größten Waldes des Rheinlands vor der Abholzung für den nahenden Braunkohletagebau zu retten. Die Begegnungen haben uns so beeindruckt, dass die Idee einer Führung im Hambacher Forst entstand. Für mich als Naturführer und Waldpädagoge naheliegend. Am 11. Mai 2014 war die erste Sonntagsführung mit 50 Teilnehmern. Das war die Initialzündung für regelmäßige Spaziergänge, einmal im Monat sonntags. Beim größten Spaziergang am 18. September 2018 sind hier 15.000 Menschen erschienen. Seit damals haben wir rund 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehabt. Eine gut e dreistellige Zahl jeden Monat ist im Moment die Regel. Die Themen Klimawandel, Kohleausstieg, Bewahrung der Schöpfung sind aktuell wie nie. Der Hambacher Forst ist ein Symbol für diese Themen. Deshalb ist der Zulauf nach wie vor sehr groß.

Wo steht der juristische Streit um den Hambacher Forst, der ja nur einer von drei Tagebauen in NRW ist?

Kaum ein Wald in Deutschland hat in den vergangenen Jahren, speziell 2018, eine solche Aufmerksamkeit erhalten. Seit 1978 wird der Hambacher Forst im Städtedreieck Köln, Düsseldorf, Aachen für Braunkohle abgeholzt. Seitdem sind 90 Prozent dieses wunderbaren Waldes verschwunden. Einstmals 5500 Hektar groß. Aktuell sind noch rund 550 Hektar erhalten. Um die geht es jetzt. Der BUND hat vor drei Jahren vor Gericht erstmals einen Rodungsstopp erwirkt. Seit drei Jahren wurde im Hambacher Forst nicht mehr großflächig gerodet. Für 2020 kündigt nun auch die Politik an, den Rest des Hambacher Forstes erhalten zu wollen. Gerettet ist der Wald allerdings entgegen den offiziellen Statements nicht. Es wird zwar nicht gefällt, aber stattdessen baggern die Braunkohlebagger bis auf 50 Meter an den Waldrand. Das bedeutet, dass dem ohnehin gestressten Wald im wahrsten Sinn des Wortes „das Wasser abgegraben wird“. Deshalb muss der Kampf um den Hambacher Forst weiterge hen.

Kann man dem Rodungsstopp des letzten Stücks Hambacher Forst vertrauen?

Nein, ich traue dem Rodungsstopp überhaupt nicht. Er sollte dem Protest und der öffentlichen Aufmerksamkeit die Kraft nehmen. Aber die Bagger baggern sich ja weiter an den Wald heran. Mehr als eintausend Pumpen entziehen dem Rheinischen Revier das Grundwasser. Es sind große Zufahrtstraßen in den Wald gebaut worden. Alles Faktoren, die in absehbarer Zeit den Tod des Hambacher Forstes bedeuten können, wenn nicht sofort Maßnahmen zur Rettung des Restwaldes ergriffen werden, wie etwa in einem Gutachten der Universität Eberswalde gefordert wird.

Wie viele Menschen wurden bislang umgesiedelt und mit welchen sozialen Folgen?

Der Tagebau Hambach, als der größte der drei Tagebaue im „Rheinischen Revier“, bedroht aktuell noch zwei Dörfer. Manheim, ein Ort mit tausendjähriger Geschichte, verschwindet gerade in unfassbarer Geschwindigkeit von der Landkarte. „Rückbau“ wird diese Zerstörung umschrieben: Jeden Tag werden dort Wohnhäuser zerstört. In wenigen Tagen beginnt der Abriss der Manheimer Kirche. Wann die Kirche genau abgerissen wird, weiß keiner ganz genau. Alles ist vorbereitet. Aus der Baggerfirma gibt es unbestätigte Informationen, die auf März oder April hindeuten. Ein Grund, warum der jüngste Waldspaziergang an der Kirche in Manheim beginnen wird.

Der andere Ort ist Morschenich, dort sind viele Häuser leer, der „Rückbau“ hat noch nicht begonnen. Der Ort wirkt wie ein Geisterdorf. Wenn der Hambacher Forst tatsächlich erhalten werden soll, macht der Abriss dieser Dörfer überhaupt keinen Sinn, denn sowohl Manheim als auch Morschenich liegen hinter dem Wald. Niemals würde ein Kohlebagger die Orte erreichen.

Experten und Wissenschaftler fordern eine klimatische und industrielle Kehrtwende, um unsere Lebensgrundlagen zu schützen. Wo stehen wir da?

Zur Zeit bin ich wütend. Traurig auch. Und manchmal verzweifelt. Hier vor Ort werden zur Erzielung kurzfristiger Gewinne und für den Erhalt eines überkommenen Geschäftsmodells wertvoller Wald zerstört, beste landwirtschaftliche Böden vernichtet, Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Gegen jede Vernunft, gegen breiten gesellschaftlichen Widerstand. Zehntausende Menschen gehen auf die Straße, ohne dass die Politik angemessen handelt, und das führt zu diesem Gemisch von Gefühlen.

Der Hambacher Forst ist, gemessen am Amazonas, eine Fußnote. Wo siedeln sich die NRW- und die deutsche Debatte im globalen Maßstab an?

Im Vergleich zu Buschbränden in Australien, zu Abholzungen im Amazonas-Gebiet oder zur Ölsandförderung in Kanada, um nur einige Beispiele zu nennen, ist der Hambacher Forst tatsächlich ein kleines Problem. Aber der Hambacher Forst liegt vor unserer Haustür. Er ist ein greifbares Beispiel dafür, was auf unserer Welt schief läuft. Ein Beispiel dafür, wie wir mit unserer Weise zu leben und zu wirtschaften die Grundlagen kommender Generationen hier und weltweit sprichwörtlich verheizen. Die Welt schaut auf Deutschland, auf die Energiewende, auf unseren Umgang mit Ressourcen. Bei kaum einem Thema wird die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und offiziellen Statements so deutlich wie beim Anblick der dinosaurier-gleichen Kohlebagger im Rheinischen Revier.

Wie sehen Sie ihre Rolle zwischen Aktivisten hier, Polizei und Betreibern dort? Haben Sie einen mäßigenden Einfluss auf beide Seiten und worin besteht der?

Ganz schwierige Frage. Was ich seit nun fast sechs Jahren tue, ist so etwas wie eine ständige Gratwanderung. Ich möchte möglichst vielen Menschen zeigen, was hier bei uns passiert. Ich habe eine sehr klare Meinung. Die wird auf dem Spaziergang auch deutlich. Aber darum geht es nicht. Ich möchte mit den Führungen im Wald und in den Dörfern dazu beitragen, dass Menschen miteinander sprechen. Für mich ist das die wichtigste Fähigkeit, die wir haben. Wenn meine Art der Kommunikation dazu beiträgt, Spannungen aus dem Konflikt zu nehmen, ein unfriedliches Thema friedlich zu machen, gerne. Ich bin schon mehrfach eingeschaltet worden, wenn es um Vermittlung ging. Meine Möglichkeiten darf ich allerdings auch nicht überschätzen.

Wie geht es dem deutschen Wald? Früher war das Wort Waldsterben sogar in Frankreich ein fester Begriff. Hat er sich erholt, wie die Fische im Rhein angeblich?

Dem deutschen Wald geht es schlecht, in vielen Teilen sehr schlecht. Zwei trockene Sommer haben ihm zugesetzt, sichtbar sind die immensen Schäden zuerst an der Fichte. Viele Förster sagen mir, dass wir uns schnell von der Fichte als Waldbaum verabschieden müssen. Aber auch den Buchen und vielen anderen Baumarten geht es ähnlich, der Klimawandel setzt ihnen zu. Veränderungen in der Natur, in der Pflanzen- und Tierwelt hat es immer gegeben. Aber noch nie in dieser Geschwindigkeit. In den Wäldern wird der dramatische Klimawandel besonders sichtbar. Nein, erholt hat sich da gar nichts, ganz im Gegenteil.

Mit Fridays for Future u.a. gibt es neue Protestbewegungen. Die sich radikalisieren könnten, sagen Sie. An was denken Sie dabei?

Ich denke, die jungen Menschen lassen sich nicht mehr bremsen, nicht mehr einlullen. (Heute werden Entscheidungen getroffen, die vor allem die Zukunft der heutigen jungen Generation betreffen. Hunderttausende, Millionen von Menschen waren 2019 auf den Straßen rund um den Globus. Bisher ohne erkennbare Wirkung. Also muss der Druck auf die Verantwortlichen noch größer werden. Das wird geschehen.) Radikal im Wortsinn „an die Wurzeln der Probleme gehen“. Die jungen Menschen realisieren, dass „Latsch(en)“-Demonstrationen und Petitionen nicht ausreichen. Protestformen wie Blockaden, Besetzungen, Aktionen zivilen Ungehorsams werden immer mehr werden. Da kann ich meine Sympathie nicht verhehlen. Bewegungen wie Fridays for Future geben mir Hoffnung. Sie werden die Entscheider zum Handeln zwingen. Das Klima wird nicht durch Reden, sondern nur durch Handeln geschützt.

Wie stehen Sie zur Gewaltfrage?

Wie oft ich das gefragt werde. Da kann ich nur für mich sprechen. Für mich ist Gewalt gegen Menschen, egal wer gegen wen, inakzeptabel. Ansonsten verlange ich von allen Akteuren, dass sie gut überlegen, was für ein großes Ziel, zum Beispiel schnelles Ende der Braunkohleverstromung, förderlich ist und was nicht.

Was bedeutet der jüngsten Kohlekompromiss von Politik und Betreibern?

Der Kohlekompromiss ist eine der großen Enttäuschungen. Ein Trauerspiel, das zeigt, was so viele Menschen immer weiter von der Politik entfernt. Ergebnis: Gigantische Entschädigungszahlungen für längst abgeschriebene Kraftwerke; Verschiebung von dringend nötigen Abschaltungen; Geschenke für Kohlekonzerne; Inbetriebnahme eines völlig überflüssigen Kohlekraftwerkes in Datteln. Die Herren Laschet, Altmeier und andere Lobbyisten klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und belügen so die Öffentlichkeit. Wegen eines Kompromisses, der die Dramatik der Klimakrise komplett verkennt. Um etwas Positives darin zu finden: Der Kohlekompromiss, wie zuvor das sogenannte Klimapaket, werden meiner Ansicht noch viel mehr Menschen klar machen: Kohleausstieg bleibt Handarbeit.

Martin Gerner ist Lunapark 21-Autor, freier Korrespondent für ARD und Printmedien, Fotojournalist sowie Privatdozent für Konflikt- und Peacebuilding Studies. www.martingerner.de, www.generation-kunduz.com