Her Majesty´s Prison Belmarsh

Hochsicherheitsknast und GesellschaftskriseGefängnisse sagen viel aus über die Verfasstheit eines Landes. Wer sitzt dort ein? Warum und unter welchen Bedingungen? Die Mauern von HMP Belmarsh erzählen Geschichte und Geschichten über die verrotteten Zustände im Vereinigten Königreich. Ein Bericht des Justizausschusses im Londoner Unterhaus konstatierte im April 2019, dass die Anzahl der Gefängnisinsassen in England und Wales sich im Laufe der letzten 25 Jahre von 44.2546 auf 82.384 fast verdoppelt habe. Die Kapazitäten würden mit den Anforderungen nicht mithalten, viele Gefängnisse seien überbelegt. Die Gewerkschaft der Gefängniswärter POA weist inzwischen fast wöchentlich darauf hin, dass die Gefängnisse voll mit Menschen seien, die dort nicht hingehören. Vielmehr brauche es einen Ausbau psychosozialer Betreuungs- und Therapieangebote im Land.

Wikileaks-Gründer und Whistleblower Julian Assange hat hier mehr als 50 Tage in Isolationshaft verbracht. Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechtsfragen, Nils Melzer, sprach deshalb wiederholt von Folter. Am 24. Februar 2020 begann in Großbritannien das Verfahren über eine mögliche Auslieferung Assanges an die USA. Assange zeigte im Gerichtssaal Spuren von so genannter „weißer Folter“. Er war sichtlich angeschlagen, unkonzentriert und konnte den Vorgängen nur schwer folgen.

Belmarsh hat im „Krieg gegen den Terror“ eine wesentliche Rolle gespielt. In den Jahren nach den Anschlägen des 11. September 2001 wurden hier zahlreiche Menschen ohne Verurteilung auf unbestimmte Zeit festgehalten. Man hatte sie als „Gefährder“ eingestuft. Daher auch der Spitzname: Guantanamo Großbritanniens.

Ort: Thamesmead, London

Offizielle Bezeichnung: HMP Belmarsh [Her Majesty´s Prison Belmarsh]

Bezeichnung im Volksmund: Großbritanniens Guantanamo

Sicherheitsstufe: Kategorie A

Kapazität für „normale“ Gefangene: 862

Kapazität im Hochsicherheitstrakt: 48

Aktueller Zustand: Überbelegung · Unterfinanzierung · Personalmangel

Häftlinge mit schwarzer und dunkler Hautfarbe: 70 Prozent

Häftlinge mit Anordnung einer psychologischen Untersuchung: 300

Häftlinge mit Drogenproblemen: 450

Prominentester Insasse seit April 2019: Julian Assange

Die Entscheidung über die Auslieferung erwartet Julian Assange in einem berüchtigten Gefängnis

Bei der Überbelegungskrise in den britischen Gefängnissen treffen die Auswirkungen jahrelanger Sparpolitik auf die Ergebnisse einer immer repressiveren Staatsdoktrin. Schon New Labour Premierminister Tony Blair versuchte mit dem Slogan: „hart gegen das Verbrechen, hart gegen die Ursachen von Verbrechen“ zu punkten. Gemeint war natürlich nicht das tägliche Verbrechen in den Wolkenkratzern der City of London. Als es im Sommer 2011 in verschiedenen englischen Großstädten zu Jugendunruhen kam, wurden hunderte junge Menschen oft wegen Lappalien für Monate eingesperrt. Schon der versuchte Ladendiebstahl einer Wasserflasche konnte in der damaligen Atmosphäre Knast bedeuten.

Belmarsh ist eines von drei Gefängnissen mit Hochsicherheitstrakt in England und Wales. Laut einem Bericht des britischen Gefängnisinspektorats aus dem Jahr 2018 treffen hier „junge Erwachsene und Gefangene mit geringem Risiko“ auf rund 100 Gefangene mit „unbefristeten Haftstrafen“, darunter „einige der gefährlichsten Hochrisikogefangenen des Landes“. Ein in Großbritannien oft gehörter Satz über die dortigen Gefängnisse ist, dass es sich bei ihnen um „Universitäten des Verbrechens“ handelt. Wer nicht als Schwerverbrecher hineinkommt, kommt als voll ausgebildeter Berufsverbrecher wieder hinaus. Laut dem Gefängnisinspektorat verteilen sich die fast 900 Gefangenen in Belmarsh derzeit auf rund 120 „Gangs“, Tendenz steigend. Im Vergleich zur letzten Überprüfung im Jahr 2015 sei die Zahl gewaltsamer Vorfälle angestiegen. Einige davon seien „ernsthaft“ gewesen, es sei in Belmarsh aber nicht so schlimm wie in andere n Gefängnissen.

Um die Betreuung der Insassen von Belmarsh ist es schlecht bestellt. Das Gefängnisinspektorat ortet einen „signifikanten Personalmangel“. Der parlamentarische Justizausschuss konstatiert in seinem Bericht vom April 2019, es sei „in den vergangenen Jahren überhaupt nicht in die Gefängnisse investiert worden“. Eine Folge davon sei, dass die Zahl der Wiederholungstäter ansteige. Das Finanzministerium müsse sich überlegen, ob man die daraus resultierenden Mehrkosten für die Justiz von 15 Milliarden Pfund pro Jahr „nicht besser investieren“ könne.

Im Bericht über das Belmarsh-Gefängnis ist nachzulesen, was Personalnot für die Insassen bedeutet. „Die außerhalb der Zellen verbrachte Zeit ist im Vergleich zu unserem letzten Besuch im Jahr 2015 signifikant reduziert worden.“ Dies sei für viele Gefangenen eine schlechte Situation. „Die Zellen von 60 Prozent der einsitzenden Männer werden nur kurz, maximal drei Stunden täglich, aufgesperrt.“ Nur zehn Prozent aller Insassen können sich laut Bericht zwischen sieben und acht Stunden täglich außerhalb ihrer Zellen bewegen.

Der Personalmangel geht mit Überbelegung in den Zellen einher. In den meisten der eigentlich für zwei Personen ausgelegten Zellen sind laut Gefängnisinspektorat drei Insassen untergebracht. Nur 17 Prozent der Gefangenen haben die Möglichkeit, sich täglich zu duschen. Die Duschen seien in einem desolaten Zustand. Nur 31 Prozent der Inhaftierten können wöchentlich ihre Bettwäsche wechseln. Die Personalnot führt auch unter den Schließern zu Frustrationen, die sie teilweise an den Gefangenen auslassen. Insbesondere unter Gefangenen mit schwarzer Hautfarbe sowie Gefangenen ethnischer Minderheiten habe es Beschwerden gegeben. Nur 57 Prozent der Gefangenen geben an, von den Schließern „mit Respekt“ behandelt zu werden.

Gelingt es einem Gefangenen, seine Zelle für ein bis zwei Stunden hinter sich zu lassen, kommt gleich das nächste Problem: Langeweile. Mit dem Beschäftigungsangebot sieht es in Belmarsh schlecht aus. „Der Zugang zur Bibliothek ist eingeschränkt“, heißt es im Inspektoratsbericht lapidar. Allgemein gebe es „unzureichenden Platz für Aktivitäten. Zahl und Qualität der Arbeitsplätze hat seit der letzten Inspektion abgenommen. Drei große Arbeitsplätze sind geschlossen worden.“ Nur die Hälfte der Insassen habe Zugang zu „sinnvollen“ Aktivitäten. Dabei würden diese gut angenommen. „Die meisten Gefangenen benehmen sich während der Aktivitäten gut und respektvoll.“

Für sich genommen sind all die oben beschriebenen Phänomene schon problematisch. In ihrer Gesamtheit werden sie zu einer Gefahr für Leib und Leben der Insassen. Laut Gefängnisinspektorat haben 91 Prozent der Inhaftierten „Probleme bei der Ankunft“ im Gefängnis gehabt. Diese Zahl sei höher als in anderen britischen Gefängnissen. 31 Prozent haben auf Befragung durch das Inspektorat angegeben, sich zum Zeitpunkt der Inspektion „unsicher“ gefühlt zu haben. 58 Prozent gaben an, sich zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Haft „nicht sicher“ gefühlt zu haben. Eine wachsende Zahl von Gefangenen ziehe es vor, „sich selbst zu isolieren“, um Gefahren aus dem Weg zu gehen.

Drei Todesfälle hat es in Belmarsh zwischen Januar 2010 und Januar 2020 gegeben. Insbesondere so genannte „verletzliche Gefangene“ finden in Belmarsh eine prekäre Situation vor. Im Umgang mit ihnen sehe sich das Personal „oft mit einer Kombination von Problemen psychischer Gesundheit, Persönlichkeitsstörungen und sehr herausfordernden Verhaltensmustern“ konfrontiert.

Der jüngste in Belmarsh verstorbene Gefangene ist Liridon Salivka, ein im Kosovo geborener britischer Staatsbürger. Er war aufgrund einer Mordanklage in Belmarsh inhaftiert und wartete dort auf seinen Prozess. Salivka gehörte zur Gruppe der „verletzlichen“ Gefangenen. Er litt unter einer körperlichen Behinderung, die ihm das Liegen auf den Gefängnismatratzen unmöglich machte. Laut Zeitungsberichten musste er deshalb oft auf dem Fußboden schlafen; die Gefängnisleitung konnte oder wollte für ihn schlicht kein adäquates Bett auftreiben. Am zweiten Januar 2020 wurde Salivka regungslos in seiner Zelle aufgefunden. Die Gefängnisleitung behauptet, Salivka sei an sich selbst zugefügten Wunden gestorben. Die Familie des Toten sieht das anders und kritisiert, dass es nie eine Autopsie des Toten gegeben habe.

Isolationshaft, Folter und Protest

Im Gegensatz zu anderen britischen Gefängnissen hat es in Belmarsh in den vergangenen Jahren kaum größere Unruhen und Aufstände gegeben. Wohl kommt es aufgrund der Zustände jedoch immer wieder zu so genannten „dirty protests“ – „Schmutzprotesten“. Dabei handelt es sich um eine von IRA-Häftlingen in Nordirland entwickelten Protestform: Man nutzt nicht mehr die Toilette, sondern verrichtet seine Notdurft auf dem Fußboden, erzeugt also „Schmutz“, um Forderungen durchzusetzen. Für 2018 sind in Belmarsh drei solcher „dirty protests“ dokumentiert.

Dokumentiert ist auch der Einsatz von Belmarsh-Gefangenen für Julian Assange. Dessen Haftbedingungen in Belmarsh wurden vom UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer als „psychologische Folter“ bezeichnet. Assange wurde zu 50 Wochen Haft in Belmarsh verurteilt, weil er gegen Kautionsauflagen verstoßen haben soll. Normalerweise gibt es für so etwas kleinere Geldstrafen. Doch für politische Gefangene – und ein solcher ist Assange – gelten andere Regeln.

Melzer kritisiert in einer Reihe von Berichten, dass man Assange nicht nur isoliert habe. Man habe ihm vielmehr systematisch den Zugang zu Anwälten und Gerichtsakten verweigert und erschwert. Am 1. November 2019 warnte Melzer eindringlich davor, dass Assange aufgrund seiner Haftbedingungen in ernster Lebensgefahr schwebe.

Am 22. November 2019 verfasste eine internationale Gruppe von 60 Ärzten einen Brandbrief an das britische Innenministerium. Darin kritisierten sie, dass es „eine Historie der Verweigerung von Gesundheitsversorgung“ für Assange gegeben habe. Außerdem stellten die Ärzte „andauernde psychologische Folter“ Assanges fest. Das Innenministerium habe auf das Schreiben nicht geantwortet, schrieben die Ärzte in einen Leserbrief an das Fachjournal „Lancet“, welcher in dieser angesehenen Medizin-Zeitschrift am 17. Februar 2020 veröffentlicht wurde.

Kennt man die alltäglichen Haftbedingungen in Belmarsh, so ist man fast geneigt, die Behandlung von Julian Assange für eine politische Zuspitzung des schlechten „Normalzustands“ im Gefängnis zu halten. Vielleicht dachte eine Gruppe von Mitgefangenen Ähnliches, als sie Anfang 2020 damit begann, sich für Hafterleichterungen für Assange einzusetzen. Insgesamt drei Petitionen an die Anstaltsleitung wurden verfasst. Mit Erfolg: Assange wurde im Februar aus der Isolation in einen anderen Gefängnisflügel verlegt.

Christan Bunke lebt in Wien. Er ist bei Lunapark21 für die Rubrik „Ort und Zeit“, die es in jedem Heft gibt, verantwortlich.


In einem am 6. Februar 2020 auf einer ganzen Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Appell, unterzeichnet von mehreren hundert Prominenten – darunter Daniela Dahn, Sigmar Gabriel, Gregor Gysi, Elfriede Jelinek, Volker Lösch, Reinhold Messner, Wolfgang Niedecken, Claus Peymann, Volker Schlöndorff, Walter Sittler, Mesale Tolu, Antje Vollmer und Günter Wallraff – heißt es: „Wir sind in großer Sorge um das Leben des Journalisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange […] Wir unterstützen die Forderung des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen zum Thema Folter, Nils Melzer, nach einer umgehenden Freilassung von Julian Assange, aus medizinischen sowie aus rechtsstaatlichen Gründen. […] Wir erinnern die deutschen Medien daran, das Assange einer der ihren und die Verteidigung der Pressefreiheit eine Grundfrage der Demokratie ist.“