[quartalslüge] Not & edel? Push & pull! Flüchtlinge, die den Arbeitsmarkt beleben, sind willkommen

Aus: LunaPark21 – Heft 31

Die schöne deutsche Mär, vorgetragen mit Fanfarenstößen und Schalmeienklängen in den höfischen deutschen Medien, lautet wie folgt: Deutschland breitet seine Arme für die in Not geratenen Menschen aus. Landesmutter Angela I. die Edle und ihre Untertanen nehmen – anders als Orban-Ungar, der Fürchterliche – allein in diesem Jahr Hunderttausende Flüchtlinge auf. Sie verweigern sich dem bitteren Klang der Worte von der „Festung Europa“ und kehren die Bulle von Dublin auf den Kehrrichthaufen der EU-Geschichte. Dafür öffnen Regierung, Länder, Kommunen und Bevölkerung die Grenzen der Republik, die Enge ihrer Herzen, Turnhallen und gar das bajuwarische Oktoberfest. Ozapft isch`s: Auch der idelle Gesamt-Syrer erhält seine Begrüßungs-Maß (aktuell allerdings zu 10,10 Euro; noch nicht im individuellen Flüchtlingsetat budgetiert!).

An dieser Geschichte stimmt wenig bis gar nichts. Es handelt sich um ein echtes Lügenmärchen, eines, das für das dritte Quartal 2015 unseres Landes bestimmend ist. Quartalslüge III/XV eben. Wie wenig an dieser Geschichte wahr ist, wissen die Bürgermeister und Gemeindevertreter vor Ort, denen der Bund nicht einmal die Hälfte der neu entstehenden Kosten für unterzubringende Flüchtlinge erstattet. Beste Kenntnis davon haben diejenigen, die in Kindergärten, Schulen, Gymnasien und Hochschulen Verantwortung tragen und nicht wissen, wie sie in den ohnehin beengten Verhältnissen, mit dem in Zahl und Ausbildung völlig unzureichenden Personal und vor allem mit den ohnehin viel zu knappen Mitteln die neu Hinzukommenden integrieren sollen. Macht nichts. Angela I. wird´s irgendwie richten – jedenfalls medial. Ansonsten setzen wir auf Hotspots in Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Italien. Und auf die Rückführung Hunderttausender Balkan-Menschen, deren Ausbildungsstandards irgendwie mit denjenigen der Menschen aus Syrien nicht mithalten können.

Die Geschichte ist vor allem deshalb verlogen, weil ganz grundsätzlich die Wanderungsbewegung in unserem Land nicht primär von den Bedürfnissen der Menschen – deren Not und Hilfsbedürftigkeit – bestimmt wird. Maßgebend sind ökonomische Faktoren. Es herrscht – ähnlich wie in den USA (siehe Seite 62) das Push & Pull-Prinzip. Unsere LP21-Grafik dokumentiert, wie seit 1960 das push&pull funktionierte. Die Zahl der Arbeitslosen in der BRD ist unten abgebildet: ein bis 2005 anschwellendes Arbeitslosenheer. Die darüber liegende graphische Darstellung zeigt die Zu- und Abwanderung in die Bundesrepublik Deutschland (bis 1990 = Westdeutschland). Die Abbildungen unterhalb der Grundlinie in dieser Grafik dokumentieren Abwanderungen (das heißt, die Summe aus Zuwanderung und Abwanderung im betreffenden Jahr war negativ). Die Säulen oberhalb dieser Linie stellen Zuwanderungen dar (es gab mehr Zugewanderte als Abgewanderte).

Natürlich gibt es keine schematisch-exakte Entsprechung. Doch als Grundtendenz ist erkennbar: In Zeiten mit steigender und hoher Arbeitslosigkeit sinkt die Zuwanderung; ab und an gibt es sogar eine Abwanderung, Republikflucht gewissermaßen. In Zeiten mit sinkender Arbeitslosenzahl oder relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen wächst die Zuwanderung. Wobei dies teilweise leicht phasenverschoben stattfindet; das Sensibelchen „Markt“ braucht ab und an etwas Zeit, um push & pull zu regeln.

Exemplarisch seien zur Erläuterung drei Phasen herausgegriffen: 1. Nach der Rezession 1966/67 (mit Abwanderung 1967!) lag die Arbeitslosenzahl zwischen 1969 und 1973 unter 200000. Es gab ab 1968 Jahr um Jahr mehrere Hunderttausend Menschen, die zuwanderten. 2. 1990/91 hatten wir einen leichten Rückgang der Arbeitslosenzahlen (auf kurz unter 2 Millionen) – die Zuwanderung setzte neu ein. Und war dann bald wieder deutlich rückläufig bis 1998, parallel mit dem in dieser Phase stattfindenden Anstieg der Arbeitslosenzahlen. 3. Auf dem bislang historischen Höhepunkt der Massenarbeitslosigkeit 2003 bis 2005 sinkt die Zuwanderung deutlich (und schlägt 2008/2009 sogar in Abwanderung um).

Und jetzt also 2015 die neue Situation: Die Brutalität, mit der die Bundesregierung und die deutsche Wirtschaft agieren – unter anderem durch relativ niedrige Löhne und eine extrem aggressive Exportwalze – ließ die Arbeitslosenzahl hierzulande wieder deutlich rückläufig sein (dafür stieg sie in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich). Parallel steigt nun hierzulande erneut die Zuwanderung. Und im Jahr 2015 mit dem aktuellen Rekordtief von „nur“ 2,8 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen*, breiten Merkel (Bundesregierung) und Grillo (BDI) ihre Arme aus. Und es strömen besagte Hunderttausende ins Land, in die Fabriken, in die Entwickler- und Ingenieurbüros. Der Bund spart Ausbildungskosten. Die Wirtschaft freut sich auf Lohndrückerkolonnen.

Wir bleiben menschlich & solidarisch. Aber eben auch kritisch & wachsam.

* Natürlich handelt es sich 2015 um die offizielle – also künstlich nach unten gerechnete – Arbeitslosenzahl; aber auch 1990 war es diese offizielle und manipulierte. Und natürlich wurden mit Hartz IV und Agenda 2010 Millionen Menschen aus den Statistiken gedrückt. Doch sie wurden eben auch weitgehend aus dem ersten Arbeitsmarkt gedrückt und werden zynisch bis zur Armutsrente zwischengelagert.

Alle Zahlen nach den offiziellen Angaben des Statistischen Bundesamtes (destatis).

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