Wieder gelesen: Die Arbeitslosen von Marienthal

Die Diskussion um die Konsequenzen der Freisetzung menschlicher Arbeitskraft durch Industrie 4.0 und weitere technologische Quantensprünge in Produktion und Dienstleistung führt wieder einmal zur Suche nach Modellen der Problemlösung außerhalb der Erwerbsarbeit. Modelle wie ‚Bedingungsloses Grundeinkommen‘ werden wieder aus der schon vergessen geglaubten Schublade gezogen. Industrieunternehmen gehen davon aus, dass ca. 50 % der Arbeitskräfte in Produktion und Verwaltung durch die ‚Kollegen Roboter´ überflüssig werden. Wieso die Aufregung? Haben die Arbeiter nicht in der Vergangenheit hart um jedes Stückchen Freizeit gekämpft? Könnte die neue Freizeit nicht als Gewinn betrachtet werden? Auf der Suche nach Antworten fiel mir die 1933 erschienene Studie „die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel wieder einmal in die Hände. Jahrzehntelang war sie für (fast alle) meine Studierenden Pflichtlektüre. Sie ist längst ein Klassiker der empirischen Sozialforschung geworden.

 

Die Marienthal-Studie

Seit dieser Studie wissen wir, was Erwerbslosigkeit anrichtet und wir wissen auch, dass Erwerbslose nicht nur wirtschaftlich und gesundheitlich leiden, sondern in ihrer gesamten Existenz. Wir wissen auch, dass nicht alle Menschen gleich schwer betroffen sind. In Marienthal wurden die Menschen eines ganzen Dorfes erwerbslos gemacht, weil eine große Fabrik (Spinnerei, mit Weberei, Bleicherei und Druckerei) geschlossen und die Beschäftigten allesamt entlassen wurden. 70 bis 80 % der Menschen in Marienthal – Männer und Frauen, junge und ältere waren erwerbslos.

Alle Haushalte wurden in die Untersuchung einbezogen. Obwohl die ArbeiterInnen erfinderisch wurden und Subsistenzarbeit und Kleintierzucht betrieben, und sich gegenseitig halfen, konnte weder der ökonomische noch der psycho-soziale Verlust der Erwerbslosigkeit ausgeglichen werden.

Zur umfassenden Analyse hatte sich die Forschungsgruppe einige Wochen in Marienthal aufgehalten und anschließend das gesammelte Material gesichtet, ausgewertet und analysiert.

Sie verteilten nicht einfach Fragebögen, sondern sprachen mit den Menschen und notierten alles, was ihnen interessant erschien: Wieviel Geld die Menschen hatten, was sie zu essen, hatten, wie viele Bücher sie lasen, wie sie sich auf der Straße bewegten und wie ihr Tagesablauf war. Sie machten Aufzeichnungen über die Mahlzeiten, führten Einzelinterviews und vieles mehr. „Marienthal ist wahrscheinlich die erste Genderstudie, denn sie beobachtet und analysierte Männer und Frauen. Aber nicht nur das: Die Forschenden wollten die Bevölkerung von Marienthal nicht nur als Untersuchungsobjekte benutzen, sondern sich selbst auch nützlich machen. Deshalb führten sie u. a. die Kleideraktion durch, mischten sich in die politischen Kreise und die Arbeitervereine ein, organisierten einen Nähkurs, damit 50 Frauen (!) ihren Kindern aus alten Kleidern neue nähen konnten.

Marie Jahoda packte das ganze Material in zwei große Koffer, zog auf eine Schihütte, schrieb vormittags den empirischen Teil der Studie und ging nachmittags Ski laufen. Es entstand eine ausführliche Beschreibung der Wirkungen massenhafter Erwerbslosigkeit, deren Hauptmerkmale sowie ihren wirtschaftlichen, psychischen und sozialen Folgen. Am Fehlen der Erwerbsarbeit werden die vielfältigen Funktionen der Arbeit für das Leben der Menschen sichtbar: Sie ist nicht allein die Quelle des Lebensunterhaltes, sondern des Lebenssinnes dazu; sie ordnet den Tag und erweitert den menschlichen Horizont, sie schafft Gemeinsamkeiten und weist den sozialen Status zu und damit zugleich eine Form von Identität.

Dass die Industriegesellschaft diese Bedürfnisse allzu oft unerfüllt lässt, soll nicht dazu verführen, Manifeste gegen die Arbeit zu schreiben, sondern aktiv dagegen anzugehen. Die Studie räumt mit dem Vorurteil auf, dass vor allem Männer unter Erwerbslosigkeit leiden, weil sie ihrer Funktion als Ernährer der Familie beraubt werden. Erwerbslose Frauen leiden weniger an dem Fehlen an Arbeit, weil sie für das Überleben der Familie mehr arbeiten müssen, als vorher. Der Verlust des bezahlten Arbeitsplatzes ist aber durch den Verweis auf die Alternativrolle der unbezahlten Carearbeiterin keinesfalls zu relativieren. Frauen sind während der Erwerbslosigkeit ebenso psychisch und sozial belastet, wie Männer und sie leiden am meisten unter dem Fehlen sozialer Kontakte.

Eindeutig war und ist die politische Botschaft der Studie:

„Erwerbslosigkeit führt zur Resignation und Apathie, nicht zur Revolution“ und „Menschliche Arbeit hat nicht nur einen Ertrag, sie hat auch einen Sinn“.

Daraus lässt sich ableiten, dass es gilt, die Arbeit – und zwar die bezahlt geleistete existenzsichernde Arbeit und die unbezahlt geleistete Care-Arbeit – menschenwürdig und demokratisch zu gestalten und von ihren fremdbestimmten Elementen zu befreien. Damit dies gelingt und alle Menschen davon leben können, brauchen wir eine Umverteilung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeiten und den Sechs-Stunden-Tag im Bereich der Vollerwerbsarbeit.

 

Gisela Notz schrieb für die aktuelle Print-Ausgabe von Lunapark21 (Heft 35) den Beitrag: Roboter-Küchen sind Frauen-Küchen (S. 29)

 

 

 

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