Ende Gelände meint wirklich: Ende Kohle. Ende Braunkohle. Ende fossiler Kapitalismus. Ende mit bloßem Reden – Beginn von aktivem Widerstand
Unsere Autorin ist plötzlich linksradikal – weil sie die Gesellschaft bei ihrem Wort nimmt. Die Geschichte ihres zivilen Ungehorsams für den Kohleausstieg.
Meine Füße stolpern über den Waldboden. Plötzlich kommen von allen Seiten Polizistinnen und Polizisten auf mich zu. Ich sehe sie nur durch einen Tränenschleier hindurch. Jemand schreit: „Die kesseln uns!“.
Ich wollte keine Gewalt. Ich wollte nur etwas tun gegen diesen Klimawandel, der mir Angst macht. Als Kind war ich mit meinen Eltern bei Anti-Atom-Demos, habe in Menschenketten für Kinderrechte gestanden, bei Mahnwachen gegen den Irak-Krieg Kerzen gehalten. Die Ungerechtigkeit dieser Welt erreichte mich nur in einem Maße, das mich wütend genug machte, um etwas dagegen zu tun: Es gibt schlechte Dinge auf der Welt, aber wenn wir uns zusammentun, sind wir stärker.
Dann trat der Klimawandel in mein Leben. Eine Bedrohung, die mich nachts nicht schlafen ließ. Vielleicht ist es schon fünf nach zwölf, sagten manche. Das war 2005. Ich wuchs in ein Problem hinein, an das sich anscheinend vorher alle schon gewöhnt hatten. Aber, fragte ich meine Mutter, wie kann denn das sein, dass wir so mit unserer Welt umgehen? Sie wusste keine Antwort, und ich dachte mir, die Erwachsenen sind schon komische Leute. Aber ich passte gut in dieses System, war eine sehr gute Schülerin und wurde gelobt, wenn ich kritisch war, mir etwas nicht gefallen ließ und Verantwortung übernahm. Diese Gesellschaft, dieser Staat, sorgten für mich. Und als mein Fahrrad gestohlen wurde, kümmerte sich darum ein netter Polizist.
Die Klimakrise und ich wuchsen gemeinsam auf. Verhungernde Eisbären. Schmelzende Gletscher. Auftauende Permafrostböden. Die Schlagzeilen begannen bei: „Es wird wärmer“, dann kam das 1,5°-Grad-Ziel. Daraus wurde das 2°-Grad-Ziel. Dann hieß es: „Wir bewegen uns unaufhaltsam auf Kipp-Punkte zu, die den Klimawandel irreversibel um ein Vielfaches beschleunigen werden“. Es blieb immer weniger Zeit.
Bei der Grünen Jugend bastelten wir an einem Aktionstag ein Insektenhotel. Dann kam der Bundestags-Abgeordnete vorbei, machte ein Foto mit uns und stellte es auf Facebook. Wir diskutierten Tagespolitik und backten vegane Hanfkekse. Die Klimazerstörung ging weiter.
Letzten Sommer beschloss ich, dass es Zeit war, mehr zu tun. Ich fuhr auf das Klimacamp ins Rheinland und machte mich mit dem Bündnis Ende Gelände auf den Weg zu den Schienen, um Kohlezüge zu blockieren. Als Teil der globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit kämpft Ende Gelände für den sofortigen Kohleausstieg und dafür, den menschengemachten Klimawandel als soziales Problem zu sehen, für dessen Lösung wir grundlegend das System ändern müssen.
Der Plan war, zuerst zu einer angemeldeten Mahnwache zu laufen, und von dort auf die etwa 1,5km entfernten Schienen zu gelangen. Wir sangen unsere Protestlieder. Die Sonne schien. Als wir in einem Waldstück angekommen waren, lief Polizei an uns vorbei nach vorne. Ich machte mir keine Sorgen. Wir waren ja auf dem Weg zu einer legalen Demonstration. Was sollte passieren?
Doch plötzlich zogen sich vorne die Polizeikräfte zusammen, die Aktiven hinter mir begannen zu drücken. So wurden wir von der Masse nach vorne geschoben. Verwirrt und wütend begann ich mit den anderen um mich herum einen unserer Slogans zu rufen: „We are unstoppable, another world is possible!“. Die Polizeikette hatte sich auf einer kleinen Anhöhe gebildet, sodass wir uns nach oben drücken mussten. Zusammen mit dem Rufen raubte mir das fast den Atem. Die Aktion hatte mich vollkommen überrascht und ich geriet, eingeklemmt zwischen all den Menschen und der Polizei, in Panik. Mein Aktionspartner Joe sprach mir während der ganzen Zeit zu, ermutigte mich, tief und ruhig in den Bauch zu atmen, keine Angst zu haben, einfach weiter zu laufen. Wir hielten uns aneinander fest, um nicht zu stolpern. Dann spürte ich plötzlich einen feinen Regen. Einen kurzen Moment wunderte ich mich noch, bevor die Wirkung einsetzte und ich in hellem Entsetzen PFEFFER!! rief, um die anderen zu warnen und vielleicht auch ein bisschen um mich selbst davon zu überzeugen, was hier gerade passierte. Dann spürte ich nur noch das Brennen des Pfeffersprays in meinen Augen, in der Lunge, auf der Haut.
Wir laufen auf eine Lichtung zu, wo wir von der Polizei erwartet und sofort gekesselt werden. Joe und ich haben, wie vermutlich die allermeisten um uns herum, zuvor keinen Polizeikontakt gehabt. Uns eint die Überzeugung, dass wählen gehen und Petitionen unterschreiben nicht ausreichen. Weiter haben wir allerdings nicht gedacht. Auf diese Gewalt haben uns selbst die Aktionstrainings nicht vorbereitet. Jemand im Kessel ruft, wir sollten uns mit dem Gesicht nach außen stellen, möglichst nah zur Polizei, damit diese den Kessel nicht enger ziehen könne. So drehe ich mich um zum mir nächststehenden Polizisten.
Ich begreife: Dieser Polizist, das ist der Staat gegen mich. Jetzt, im Kessel, wird mir klar, dass meine Meinungsbildung zwar an einer staatlichen Uni stattfand, unterstützt von Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, aber dass ich mit der Umsetzung meiner Überzeugungen von ihrem Weg der Rechtsstaatlichkeit abgekommen bin. Ich beobachte: Wenn ich handle, wie ich es in der Schule gelernt habe: Verantwortung zu übernehmen. Wie ich den Kern aller Religionen verinnerlicht habe: Nächstenliebe. Wie sich die UN zum Grundsatzprogramm gesetzt hat: die Gleichheit aller Menschen. Wie in deutschen Gedenkstätten erinnert wird: die Legitimität des Widerstandes gegen ungerechte Systeme. Wie als Grundwert der Gesellschaft gilt: Solidarität. Wenn ich all das befolge, dann – gelte ich als linksradikal. Plötzlich habe ich den Staat zum Feind – weil ich die Einhaltung der Pariser Klimaverträge durchsetzen will. Zum Gefühl von Wut und Ohnmacht gesellt sich ein neues Gefühl: Dass der Staat in der Klimakrise versagt. Dass wir uns nicht auf ihn verlassen dürfen. Dass wir selbst aktiv werden müssen.
Alle teilen die Prämissen: den menschengemachten Klimawandel, die weltweite Ungerechtigkeit, dass wir jetzt entschlossen handeln müssen. Aber aus diesen Prämissen folgen keine Handlungen. Das bleiben leere Zielsetzungen. Der Soziologie-Professor Armin Nassehi nennt das „links reden, rechts handeln.“ [1] Solidarität ist ein schönes Wort, aber wenn ich die Belange von Menschen aus dem globalen Süden ernst nehme, steht da ein deutscher Polizist und schützt die Gewinninteressen eines Kohlekonzerns. Diese Erkenntnisse sind schmerzhafter als Pfefferspray.
Ich spüre zum ersten Mal, was es bedeutet, sich den Mächtigen in den Weg zu stellen. Und dann gelangen wir tatsächlich noch auf die Schienen und blockieren den Kohlezug. Ich spüre, was die Entschlossenheit der Vielen bedeutet: Hier und heute haben wir für einen kurzen Moment die Klimakatastrophe gestoppt. In diesen Stunden auf den Gleisen, zwischen Liedern, Seifenblasen, herumgereichten Keksen und selbstorganisierten Plena, kehrt mein Glauben an die Veränderung zurück. So fühlt sich eine Welt an, in der ich leben möchte. Ich weiß, dass wir gegen mächtige Interessen kämpfen müssen. Aber ich glaube auch, dass wir unstoppable sind, nicht zu stoppen. Dass eine andere Welt möglich ist. Es gibt schlechte Dinge auf der Welt, aber wenn wir uns zusammentun, sind wir stärker.
Dieses Jahr, vom 25. bis 29. Oktober, wird Ende Gelände wieder mit vielfältigen Aktions- und Beteiligungsmöglichkeiten Braunkohle-Infrastruktur blockieren. Ja, ich habe Angst, nochmal der Polizei gegenüber zu stehen. Ich weiß aber, dass Menschen um mich herum für mich da sein werden. Ich weiß, dass ich links handle – für die Mehrheit der Menschen in Deutschland, die den Ausstieg aus der Braunkohle will. Und ich weiß auch, dass ich Aufgaben ohne Polizeikontakt übernehmen kann, die genauso wichtig sind im Kampf für Klimagerechtigkeit. Ich werde linksradikal sein, wenn das heißt, Probleme an der Wurzel anzupacken und ein grundlegend falsches System grundlegend zu verändern: ein anderes Wirtschaftsmodell als den Kapitalismus und ein anderes Organisationsprinzip als den Nationalstaat. Im Herbst werde ich wieder das tun, was ich gelernt habe: Verantwortung übernehmen. Nächstenliebe zeigen. Die Menschenrechte ernstnehmen. Widerstand leisten gegen Unrecht. Solidarisch sein. Ich werde eine von tausenden Aktiven aus ganz Europa sein.
Vielleicht sehen wir uns da?
Die Autorin lebt in Berlin, studiert dort Sozialwissenschaften und will eigentlich nur, dass es allen gut geht. Ihre Erfahrungen mit Ende Gelände schildert sie unter einem Pseudonym, um sich vor der Verfolgung durch die Polizei zu schützen.
Anmerkung: [1] Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit, Murmann 2015.