„Welchen Charakter hatte die Epoche der Sowjetunion“?

Marx, die Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus und eine „formell-kommunistische Produktionsweise“ ohne Formbestimmung? Anmerkungen zu einem Artikel von Thomas Kuczynski

Dankenswerter Weise hat es Thomas Kuczynski unternommen, Entstehung und Untergang der aus der russischen Revolution hervorgegangenen Gesellschaften des „Realsozialismus“ in den Kontext der von Marx dargestellten Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus zu stellen. Damit hat er einen völlig anderen Ansatz gewählt, als die Akteurs- und Handlungsperspektive, aus der heraus das Gros der Linken jüngst über die Oktoberrevolution diskutierte.[1] Dabei fragt er auch nach dem Zusammenhang zwischen den von Marx dargestellten Stadien der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und den von ihm vorhergesagten Entwicklungsstufen einer künftigen kommunistischen Gesellschaft. In seiner Kritik am Entwurf des Gothaer Programms der Sozialdemokratie hatte Marx den Gedanken entwickelt, dass erst nach einer von der Diktatur des Proletariats geprägten Übergangsperiode die kommunistische Gesellschaft entstehen könne, die ihrerseits zunächst in jeglicher Hinsicht geprägt sein würde von den „Muttermalen“ des Kapitalismus, aus dem sie hervor gegangen sei. Marx benannte als solche „Muttermale“ in einer ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft unter anderem „die alte Teilung“ der Arbeit und deren Erwerbscharakter sowie das „bürgerliche Recht“, also die Anwendung gleichen Rechts auf unterschiedliche Individuen. Erst in einer höheren Phase, in der die kommunistische Gesellschaft sich nicht mehr auf die vom Kapitalismus ererbten, sondern auf die von ihr selbst geschaffenen Bedingungen gründen würde, könne sie die Rudimente der kapitalistischen Klassengesellschaft völlig überwinden und ihren spezifisch kommunistischen Charakter zur Totalität ausbilden.[2]

An Hand des Untergangs frühneuzeitlicher Kapitalformen, etwa der oberitalienischen Handelsgesellschaften der Renaissance-Zeit und mit Hilfe zweier Formulierungen aus dessen Vorarbeiten zum Buch Das Kapital, mit denen Marx die entwickelte Gestalt des Kapitalismus von ihren frühen, weniger entwickelten unterscheidet, will Kuczynski zeigen, dass der Untergang des „Realsozialismus“ als einer frühen Form der kommunistischen Produktionsweise wirtschaftsgeschichtlich kein besonders auffälliger Vorgang gewesen ist. Denn auch der Kapitalismus habe sich nach Marx erst gegenüber seinen feudalen Feinden endgültig durchsetzen können, als das Kapital mit der industriellen Revolution und der Schaffung der maschinellen Großindustrie sich eine eigene materielle Basis geschaffen hatte. Nun erst hätte sich die spezifisch kapitalistische Produktionsweise mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten umfassend herausbilden können. Die gesamte „reale Gestalt der Produktionsweise“ sei umgestaltet worden, weshalb erst jetzt ein Durchschnittsprofit gebildet und die Methode der Produktion des relativen Mehrwerts realisiert werden konnten. Diese Phase, in der der Kapitalismus sich auf seinen erst von ihm selbst geschaffenen Voraussetzungen entwickelte, wäre nach Marx gekennzeichnet von der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital.

Die beiden Marxschen Formulierungen zur Charakterisierung der verschiedenen Reifestadien des Kapitalismus, die Thomas Kuczynski für die kommunistische Produktionsweise erschließen will, sind die einer „bloß formell-kapitalistischen Produktionsweise“ und die der „spezifisch kapitalistischen Produktionsweise“ für deren reifes Stadium.[3] Als formell-kapitalistisch versteht Marx jenes Stadium, in dem das Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital zwar schon besteht, aber alle Produktionsbedingungen noch auf dem aus dem Feudalismus überkommenen Handwerksbetrieb beruhen. In Analogie zu diesem Marxschen Herangehen will Kuczynski nun den Untergang „des Realsozialismus“ aus der Tatsache erklären, dass zum einen die Großindustrie technologische Grundlage dieser Gesellschaften geblieben war und zum anderen das privatkapitalistische Eigentum zwar durch das Staatseigentum ersetzt worden wäre, jedoch die Unterordnung der Arbeiter unter fremdes Kommando weiterhin bestanden hätte, nunmehr unter dem Kommando des Staates und seiner Direktoren. Kommandierende und kommandierte Arbeit hätten fortbestanden. Mithin beschreibt Thomas Kuczynski nichts anderes als die Verallgemeinerung der kapitalistischen Fabrikhierarchie für alle abhängig Beschäftigten. In Anlehnung an eine Formulierung von Engels spricht er von diesem Staatseigentum als einem auf die Spitze getriebenen Privateigentum.[4]

Das Problem historischer Analogiebildung

Die Diskussion um die formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital und über den formellen bzw. reellen Charakter der „sozialistischen Produktionsverhältnisse“ ist nicht neu. So wurden nicht nur, aber auch in der DDR der 1970er Jahre in kleinen Zirkeln und wissenschaftsinternen Halböffentlichkeiten im Rahmen der Debatte über den nur formellen Charakter der kommunistischen Produktionsweise zugleich die Fortexistenz der bürgerlichen Arbeitsteilung und damit die Fortexistenz von bürgerlichen Herrschaftsverhältnissen im Sozialismus diskutiert. Der Boden des Marxismus-Leninismus (ML) musste dabei nicht einmal verlassen werden, aber für einen Teil der Diskutierenden wurden solche Überlegungen zum Durchgangspunkt hin zu einer marxistischen Kritik, die diesem System den sozialistischen Charakter gänzlich absprach. Auf dem Boden solcher Debatten über die Fortexistenz der bürgerlichen Arbeitsteilung in den Gesellschaften sowjetischen Typs ist auch jene berühmt gewordene Kritik des real existierenden Sozialismus Rudolf Bahros entstanden, die quasi ein Gegenentwurf zu Thomas Kuczynskis Deutung dieser Gesellschaften als formell-kommunistische Produktionsweise darstellt.[5] Bahro nahm mit seiner These vom „real existierenden Sozialismus“ als „Nominalsozialismus“ die dialektische Trinität in der Hegelschen Logik von „nominell-formell-reell“, die sich bei Marx wieder findet, auf und zeigte, dass sich unter der ideologischen Hülle des „Sozialismus“ gerade das Gegenteil jener von Marx definierten kommunistischen Gesellschaft verbirgt. Nicht nur Bahro, sondern ein Großteil der linken Kritik sah in der faktischen Ausweitung der kapitalistischen Fabrikhierarchie auf die ganze Gesellschaft, die auch von Thomas Kuczynski beschrieben wird, die Verneinung einer kommunistischen Produktionsweise.

Umso erstaunlicher ist es, dass Thomas Kuczynski jenen von Bahro (und anderen) geprägten theoriegeschichtlichen Kontext unerwähnt lässt und seine Sicht nicht argumentativ begründet dagegen setzt. So unterlässt er es auch zu erklären, was denn überhaupt das Kommunistische an dem „bloß formellen Kommunismus“ war. Es fehlt jener kritische Impetus, der die von ihm beschriebene tatsächliche Herrschaftshierarchie von kommandierender und kommandierter Arbeit infrage stellen müsste. Ohne diese Kritik wird die Bestimmung solcher Verhältnisse als „formell-kommunistisch“ zu deren Rechtfertigung mit einer unreifen technischen Basis, zur Apologie.

Der Grundmangel, die fundamentale theoretisch-methodische Lücke in der ganzen Argumentationskette Thomas Kuczynskis, die ihn zu einer falschen historischen Analogiebildung führt, ist die Behauptung einer kommunistischen Form, ohne die Existenz dieser Form überhaupt darzustellen und zu begründen. Damit gerät seine treffende Beschreibung der realen ökonomischen Herrschaftsstruktur in den Gesellschaften sowjetischen Typs in einen schreienden Gegensatz zur Marxschen Bestimmung einer kommunistischen Produktionsweise, auf den er sich doch beruft. Marx hatte schließlich nicht nur in seiner Kritik des Gothaer Programmentwurfes, sondern auch an anderen Stellen das Gegenteil einer allgemeinen, auf alle abhängig Beschäftigten ausgedehnten kapitalistischen Fabrikhierarchie zum Ausgangspunkt einer nachkapitalistischen Gesellschaft bestimmt: Eine freie Assoziation oder einen Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln nach einem gemeinschaftlichen Plan arbeiten. In einer Instruktion für die Delegierten des Zentralrats der I. Internationale schrieb er, dass das „bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.“ Sklavenarbeit, wie Leibeigenenarbeit so Lohnarbeit seien nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form, bestimmt dazu vor der „assoziierten Arbeit“ zu verschwinden.[6]

Und diese Form der Arbeit, die assoziierte Arbeit von freien und gleichen Produzentinnen und Produzenten war für Marx nicht erst in einer höheren Phase konstituierend für den Kommunismus, sondern dessen Ausgangspunkt. In dem zitierten Text sah Marx es als längst erwiesen an, dass die bürgerliche Arbeitsteilung innerhalb der Fabrik, die Einteilung in eine „Klasse von Meistern“ und eine „Klasse von Händen“ aufzuheben ist. Ob letztere Einschätzung bereits für das 19. Jahrhundert als realistisch gelten konnte, muss heute bezweifelt werden. Doch damit ist die Formbestimmung der assoziierten Arbeit als Ausgangspunkt einer kommunistischen Produktionsweise nicht hinfällig. Im Gegenteil, die formelle Gleichheit in der Bestimmung der gesellschaftlichen Produktion durch sozial ungleiche Individuen und Gruppen des Proletariats dürfte den tatsächlichen Widerspruch einer solchen Gesellschaft, wie sie aus dem Kapitalismus hervor geht, recht gut beschreiben. Dies aber ist etwas völlig anderes als die Verallgemeinerung kapitalistischer Fabrikdespotie durch ein Staatsmonopol. Dass unter letzteren Verhältnissen auch Ausbeutung der abhängig Beschäftigten stattfinden musste, findet in der von Kuczynski entwickelten Argumentation jedoch keinen Platz. Die Frage nach dem tatsächlichen Charakter der Gesellschaften sowjetischen Typs bleibt damit durch ihre Behauptung als „formell-kommunistische Produktionsweise“ vernebelt.

Dessen ungeachtet sollte auf dem Weg, den Thomas Kuczynski mit seinem Versuch zur Erklärung des Scheiterns des „Realsozialismus“ eingeschlagen hat, wieder mit Hilfe der Marxschen Logik und Methodik diese und andere Fragen zu beantworten, unbedingt weiter gegangen werden. Lediglich auf eine nur so zu lösende Problematik sei verwiesen:

Wenn das 20. Jahrhundert in der Realität nicht das Jahrhundert des „anbrechenden Sozialismus“ war und sich die aus der Oktoberrevolution hervor gegangenen Gesellschaften letztlich nur als spezifische Modernisierungsdiktaturen zur Lösung von Aufgaben erwiesen, die der bürgerlichen Epoche angehören, wie die Industrialisierung, die Alphabetisierung und die Urbanisierung, welchen Charakter hatte dann diese Epoche? Immerhin hatte der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen von Fordismus und Amerikanismus eine neue Blüte gesehen, während die antikolonialen und antiimperialistischen Revolutionen mit ihren Staats- und Nationenbildungen natürlich auch nicht den Horizont bürgerlicher Aufgaben durchbrechen konnten. Damit stellt sich aber zugleich die Frage nach den Perspektiven des Sozialismus unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts.

Mit der Reduktion der Debatten auf die Akteursebene, so wichtig diese sein mögen, werden wir solche Fragen jedenfalls nicht beantworten können.

Bernd Gehrke lebt als Publizist in Berlin.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Thomas Kuczynski: Eine bloß formell-kommunistische Produktionsweise? Überlegungen zum Scheitern des „Realsozialismus“ aus wirtschaftshistorischer Sicht, in: Lunapark 21 Nr. 39/2017, S. 66-68. Alle nachfolgenden Zitate Kuczynski‘s beziehen sich auf diesen Text.

[2] Vgl. Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, S. 20, 21, 28.

[3] Vgl. Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863 – 1867, Teil 1, in: MEGA2, II. Abteilung/Band 4.1, S.116f.

[4] Kuczynski a.a.O., S. 68; Friedrich Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 260.

[5] Rudolf Bahro (1935-1997) hatte 1977 das Buch „Die Alternative“ als eine Kritik am DDR-Sozialismus verfasst. Das Buch konnte nur im Westen erscheinen. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt und aufgrund einer breiten Solidaritätskampagne 1979 in die BRD abgeschoben. Anm. LP21-Red.

[6] Vgl. Karl Marx, Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats der Internationale, MEW 16, S. 11-12