Historisches zur Bitcoin-Euphorie
Kaufen, um teurer zu verkaufen, das ist die Grundformel des Handelskapitals. Deshalb meinte schon Benjamin Franklin (1706–1790) schlankweg, Handel sei Betrug (cheating). Zwar ist das für Kapitaleigentümer heutzutage nicht mehr die Hauptmethode der Bereicherung, ganz aus der Mode gekommen ist sie jedoch nicht: Sobald zum Verkauf angebotene Waren, aus welchen Gründen auch immer, knapp werden, fangen ihre Preise an zu steigen, also kann man das Gekaufte teurer verkaufen, und das Spekulieren beginnt. Jedoch, auf welche Weise der Kapitaleigner mit der ihm gehörenden Ware spekuliert, ist im Anfang noch nicht entschieden: Er kann darauf setzen, dass die Preise weiter steigen, dann wird er, sofern gut bei Kasse, nicht verkaufen, sondern zuwarten und damit Knappheit wie Preise weiter in die Höhe treiben; oder er setzt darauf, dass der „Hype“ vorbei ist, dann wird er verkaufen, wodurch sich mit dem steigenden Angebot die Knappheit vermindert, so dass die Preise fallen.
Die meisten Wirtschaftsprofessoren glauben, Entscheidungen über Halten oder Verkaufen lägen rationale Erwägungen zugrunde (rational choice theory), aber erfolgreiche Spekulanten folgen zumeist mit in langen Jahren erworbener Sachkenntnis und ohne jede Theorie einfach ihrer „Nase“ bzw. ihrem „Bauchgefühl“. Auch beim Spekulieren gilt der Grundsatz: Theorie ist, wenn man weiß, wie es geht, aber es geht nicht – und Praxis ist, wenn es geht, aber man weiß nicht, warum.
Zuweilen treibt die Spekulation auch seltsame Blüten, beginnend mit der (nomen est omen!) Tulpenmanie von 1637 in Amsterdam, nach deren Zusammenbruch die Preise auf 10 ppm (ein tausendstel Prozent!) des vorherigen Spitzenwerts gefallen sein sollen.[1] Der 1696 gestartete Versuch Schottlands, durch die Company of Scotland Geldbeträge einzusammeln und auf diesem Weg in Panama eine eigne Kolonie zu gründen (das sogenannte Darién-Projekt), kostete das Land nicht nur etwa ein Drittel seines Geldvermögens, sondern es verlor wenig später, im Unionsvertrag von 1707 mit England, die eigne Währung und sogar die Souveränität. Um 1720 folgten nahezu zeitgleich die Südseeblase in England und der Mississippischwindel in Frankreich; allerdings fielen die Kursstürze mit „nur“ neunzig Prozent nicht ganz so exzeptionell aus wie nach dem Ende der Tulpenmanie.
All diese Ereignisse fanden unter der Herrschaft des Handelskapitals statt. In der Periode des Aufbaus der materiell-technischen Basis des Kapitalismus der freien Konkurrenz dagegen verschwand zwar nicht die Spekulation – sie ist ein Merkmal jeder Marktwirtschaft –, aber Spekulationsblasen gab es nicht; es wäre auch ganz falsch, die frühen Spekulationskrisen in einen Topf zu werfen mit den später (ab 1825) auftretenden zyklischen Überproduktionskrisen.
Als die Akkumulationserfordernisse des Kapitals die Finanzkraft einzelner Unternehmer zu übersteigen begannen und nach 1850 zur Bildung von Aktiengesellschaften übergegangen werden musste, führte dies zu einer andren Art der Spekulation, dem Handel mit Aktien. An ihrem zentralen Platz, der Börse, fanden bald Aktienspekulationen bis dahin ungeahnten Ausmaßes statt, vor allem im Bereich des Eisenbahnwesens, der Immobilien und der Banken. In Deutschland waren an der dem „Gründerkrach“ von 1873 vorausgegangenen Spekulationsblase, zeitgenössischen Berichten zufolge, sogar „Hausknechte und Dienstmädchen“ beteiligt (womit übrigens die auch noch heute gängige Rede von der „Dienstmädchenhausse“ ad absurdum geführt ist).[2] Vergleichbares fand vor Beginn der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 statt. Stets ging es, wie zu Zeiten des Merkantilismus, darum zu kaufen, um teurer zu verkaufen – die Aktienkurse stiegen und stiegen, gefolgt von einem gewaltigen Börsenkrach.
Nach den verheerenden Zerstörungen infolge des Zweiten Weltkriegs stand in Westeuropa und Japan vor allem der Wiederaufbau der Industrie im Vordergrund, durch den sich auch dem US-amerikanischen Kapital neue Anlagesphären erschlossen. Nun ging es vorrangig um die Akkumulation von Realkapital und nicht um die Spekulation mit fiktivem Kapital. Nach dem 1973 erfolgten Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems wurde zwar erneut mit Währungen und Edelmetallen spekuliert, aber mit Ausnahme der Silberblase der Gebrüder Hunt, die 1980 platzte, sowie dem plötzlichen Börsenkrach von 1987, dessen Folgen relativ rasch behoben waren, hielt sich die Spekulation in Grenzen, was wohl auch an der noch nicht ausgestandenen Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Wirtschaftssystem lag, die eine gewisse Disziplinierung selbst auf diesem Feld erzwang.
Seit dem Ende des Kalten Krieges aber gibt es nahezu zyklisch auftretende Spekulationskrisen. Auf die Immobilienblase in Japan 1990 folgten die insbesondere die New Economy treffende Dotcom-Blase von 2000 und die Immobilienblase von 2008. Letztere hatte eine weltweite Finanzkrise zur Folge, die sich im Zusammenbruch mehrerer Großbanken manifestierte (Stichwort Lehman Brothers) und die Entwicklung bankunabhängiger und daher scheinbar demokratischer Kryptowährungen beförderte.
Die bekannteste Kryptowährung ist zurzeit der Bitcoin. Am 5. Oktober 2009 wurden die ersten Bitcoins verkauft, zu einem Preis von weniger als einem Zehntel US-Cent pro Stück. Von da an stieg ihr Preis, begleitet von durchaus nennenswerten Rückschlägen und Durststrecken, auf den bisherigen Höchststand von knapp 20.000 US-Dollar am 17. Dezember 2017. Wer also im Oktober 2009 für einen Dollar tausend Bitcoins gekauft hatte (ich tat es leider nicht) und sie im Dezember 2017 verkaufte, konnte bei dieser Transaktion zwanzig Millionen Dollar einstreichen – wirklich ein Spekulationsobjekt ersten Ranges, noch viel lukrativer als die eingangs erwähnten Tulpen aus Amsterdam.
Die Frage, warum Leute solche sagenhaften Preise zahlen, lässt sich im Rahmen kapitalistischer Plusmacherei auf der Basis der Greater-Fool-Hypothese zunächst sehr einfach beantworten: Wer für eine Ware wissentlich (!) einen Preis zahlt, der höher als ihr Wert ist, geht davon aus, dass er sie zu einem noch höheren Preis wieder losschlagen kann, also einen „noch größeren Idioten“ findet. Hinzu kommt jedoch, dass die Schaffung (das Mining) neuer Bitcoins wegen der dafür erforderlichen Rechnerleistung heute wirklich Geld kostet. Selbst in Island, einem von den Minern wegen seiner günstigen Naturbedingungen bevorzugten Standort (kühle Witterung sowie Erdwärme- und Wasserkraftwerke senken die Energiekosten beträchtlich), rechnet der größte Stromanbieter (Hitaveita Sudurnesja) damit, dass das Mining in diesem Jahr mehr Energie verbrauchen wird als alle dortigen Haushalte zusammengenommen. An die Stelle der Zentralbanken als Kontrollinstanz bei den „normalen“ Währungen sind bei den Kryptowährungen, aufgrund der exponentiell steigenden Energiekosten, nach einer kurzen Phase „freier Konkurrenz“ schon wieder Mono- bzw. Oligopole getreten.
Die Blütenträume einer Demokratisierung der Marktwirtschaft sind nicht gereift, sondern schon wieder ausgeträumt. Einen geradezu schlagenden Beleg dazu lieferte Anfang des Jahres ausgerechnet die North American Bitcoin Conference, die zur Bezahlung der Konferenzgebühren keine Bitcoins annahm, sondern nur Dollar, weil, so in der „Fortune“ vom 11. Januar nachzulesen, die Transaktionen mit Bitcoins zu langsam und zu arbeitsintensiv (wörtlich: labor intensive) seien. Zwar wetten, wie vor 150 Jahren, Kleinanleger („Hausknechte und Dienstmädchen“ gibt es nicht mehr) auf weiter steigende Kurse, aber Großanleger eher auf fallende. In der Tat hat sich der Bitcoin-Kurs in den letzten zwei Monaten halbiert und liegt gegenwärtig (am 22. Februar um 18 Uhr) knapp unter 10.000 Dollar. Wie er sich in Zukunft entwickeln wird, weiß niemand, denn Bitcoin hat schon manchen Kurseinbruch überstanden, so wie die anderen (zurzeit über tausend) Kryptowährungen auch.[3]
Ob aber Venezuela ausgerechnet durch die Einführung des „Petro“ aus seiner Wirtschaftsmisere herausfinden wird, darf bezweifelt werden.
Thomas Kuczynski hat 2017 im VSA: Verlag Hamburg eine neue Textausgabe von Marx‘ Kapital Band Eins herausgegeben.[4]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Earl A. Thompson: The Tulipmania: Fact or Artifact? In: Public Choice (Springer), Band 130, Nr. 1/2, 2007, S. 100.
[2] Vgl. den Verweis auf Otto Glagau: Der Börsen- und Gründerschwindel in Berlin. Leipzig 1876, S. 338, im Wikipedia-Artikel „Dienstmädchenhausse“ (abgerufen am 13. 2. 2018).
[3] Zur Gesamtproblematik vgl. The Journal of Alternative Investments, Vol. 20, No. 3 (Winter 2018), pp. 16-40 (David Lee Kuo Chuen, Li Guo, Yu Wang: Cryptocurrency – A New Investment Opportunity?).
[4] Karl Marx: Das Kapital. Band I. Neue Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski. 800 Seiten plus USB-Card, die den Text mit historisch-kritischem Apparat enthält. VSA: Verlag Hamburg. ISBN 978-3-89965-777-7. Preis € 19,80.