Er mochte die Beatles. Und er konnte tanzen; 1986 auf dem Gründungsparteitag der Vereinigten Sozialistischen Partei sogar solo auf geräumtem Parkett.
Sein Lieblingssong war „Baby You Can Drive My Car“, was überrascht angesichts seines Engagements gegen die Autogesellschaft. Die Zeile ließe sich aber auch dahin interpretieren, dass er den Wagen, den er nicht mehr braucht, anderen überlässt.
Er hätte durchaus auch die zweite Zeile unterschreiben dürfen „Yes, I‘m gonna be a star“. Denn das war er, vor allem als Redner auf zahllosen Podien überall in der Republik und auch im Ausland. Eingedenk seiner erklärten „Zugehörigkeit zum Stamm der Schwaben, einschließlich der Verteidigung des schwäbischen Komperativs ›größer wie‹“, dürfen wir ihn vielleicht auch als schwäbischen Superlativ ansehen.
Winfried war Inhaber einer Bahncard 100 und legte im Jahr Zehntausende Kilometer auf der Schiene zurück, besuchte Initiativen, nahm an Konferenzen teil, hielt Vorträge und unterstützte Protestaktionen. Im Lauf eines Vierteljahrhunderts sprach er auf rund 120 Veranstaltungen pro Jahr, allein vierzig Mal auf den Montagsdemos von Stuttgart 21. Um die hunderttausend Menschen wird er erreicht haben.
Auf den Zugfahrten schrieb er, Artikel für Bürgerbahn, für die Zeitung gegen den Krieg, für eine andere Pandemie-Politik , für Lunapark21. Er war unglaublich produktiv. Mancher eilig getippte Artikel bedurfte noch der Überarbeitung, sofern denn die Zeit dafür war.
Die schien knapp. Immer ereignete sich etwas, was nach einer politischen Antwort verlangte, was sein Eingreifen nötig machte.
Dennoch fand er Zeit zu lesen, viel zu lesen, Fachliteratur, Romane. Nach der Lektüre von Wolfgang Schorlaus Krimi „Am zwölften Tag“ um industrielle Tiermast wurde er Vegetarier.
Im geselligen Kreis von Freund:innen war er entspannt. Für seine Gäste, kochte er gern, kredenzte eine gute Flasche und vermittelte keineswegs den Eindruck, gehetzt zu sein.
Und er war ein talentierter Hobby-Tischler, fertigte Möbel und Regale in seiner Wohnung und konnte es selbst in gemieteten Ferienhäusern nicht lassen, die Fensterläden zu reparieren, wie seine Tochter Paola berichtet.
Ihr baute er auch ein stabiles Baumhaus, war stolz darauf und später ein wenig zerknirscht, als ein Zimmermann kritisierte, die Stube in den Wipfeln sei viel zu stabil und mit übertrieben dicken Bohlen gefertigt worden.
1968 – Internationaler Vietnamkongress, Attentat auf Rudi Dutschke, Pariser Mai, Niederschlagung des Prager Frühlings – in Berlin tritt der 19-jährige Winfried Wolf der frisch gegründeten GIM – Gruppe Internationale Marxisten bei, 1973 wird er Mitglied der Redaktion der GIM-Zeitung Was tun und schon bald deren Chefredakteur. 1986 fusionieren die trotzkistische GIM und die maoistische KPD/ML zur Vereinigten Sozialistischen Partei VSP und Winnie wird Chefredakteur der SoZ–Sozialistische Zeitung. Von 1997 bis 2002 sitzt er für die PDS im Deutschen Bundestag. Seit 2006 erklärt er sich als „parteilos glücklich“.
Nebenbei, nebenbei?, hat er noch ein paar Bücher geschrieben, drei oder vier Dutzend, „Der Atomverein nach Harrisburg“, „Spätkapitalismus in den achtziger Jahren“, 1981 erschien „Polen, der lange Sommer der Solidarität“ in zwei Bänden. Nach Verhängung des Kriegsrechts und dem Verbot der Gewerkschaft Solidarno ´ s ´ c folgte „Polen, der Winter gehört den Krähen“. Dann Bücher über Stahl- und Rüstungsindustrie, über kapitalistische Krisen. Mit „Sieben Krisen – ein Crash“ war er 2009 unter den ersten, die das globale Zusammenwirken verschiedener Entwicklungen in den Blick nahmen. Immer wieder schrieb er in Kooperation mit anderen, so 2016 mit Nikos Chilas über „Die griechische Tragödie“. Auch mit Ernest Mandel und Eduardo Galeano hat er zusammengearbeitet.
Die größte Wirkung aber erzielten seine Publikationen zum Verkehr. Was den Politologen und marxistischen Wirtschaftsanalytiker auf dieses Gleis setzte, erzählt Jürgen Bönig:
„Manchmal hat die Menschheit einfach Glück, wenn sich ein einzelner entscheidet. Das war mindestens der Fall, als Winfried Wolf sich auf Rat seines Doktorvaters entschied, statt über die langen Wellen der Konjunktur über Eisenbahn und Autoverkehr zu schreiben. Als Technikhistoriker freute ich mich besonders über die Darlegung der historischen Entwicklung des Eisenbahnwesens und der Autoindustrie, die so unterschiedlich verlief in Europa und in Nordamerika. Seine Analyse beruhte auf den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie, aber er trieb diese von Marx entwickelte Methode weiter zur genauen Darlegung der Rolle, die die Eisenbahn und schließlich das individuell besessene Automobil in einer bestimmten Phase der Kapitalakkumulation spielte.
Das Standardwerk von 1986, «Eisenbahn und Autowahn», auf das jahrelang Journalistinnen, unter anderem beim Spiegel, zurückgriffen, erschien gerade zum rechten Zeitpunkt – nach dem Kampf um die 35-Stundenwoche und bevor noch an der Deutschen Bahn das ausprobiert wurde, was Margaret Thatcher mit katastrophalen Folgen vorexerziert hatte – die Privatisierung der Eisenbahn. Seine genauen Kenntnisse der Unterschiede zwischen den Eisenbahnsystemen, zum Beispiel in der Schweiz oder in England, seine zahlreichen Artikel und Vorträge und seine politische Organisationsfähigkeit haben die Privatisierung der Bundesbahn und die Überführung in eine Aktiengesellschaft nach der Finanzkrise 2008 scheitern lassen – vorerst. Ohne die Hinwendung zu den Verkehrssystemen, ihrer genauen technischen und ökonomischen Analyse, wären viele Initiativen, allen voran die Gegner von Stuttgart 21, nicht in der Lage gewesen, so wirkungsvoll zu argumentieren.“
Auch in seinem letzten Buch geht es um Transport und Verkehr, aber zugleich um mehr. Mit „Tempowahn“, so der Titel, hat Winfried Wolf eine wunderbar gelungene Geschichte der Beschleunigung vorgelegt, philosophisch und faktenreich.
Zu sagen, „er wurde als Chefredakteur geboren“, wäre wohl nicht korrekt. Aber mit Anfang zwanzig nahm er diesen Posten ein: Was tun, dann SoZ, und seit ihrer Gründung 2008 Lunapark21.
Jürgen Bönig erinnert sich, dass in der Was tun manchmal ein Bild von einer aus dem Fenster blickenden Katze zu sehen gewesen sei, deren Bedeutung sich ihm nicht erschlossen habe. Was Jürgen nicht wusste, was wir nicht wussten, Winfried W. war ein Katzennarr, der an keinem dieser Tiere vorbeigehen konnte, ohne stehen zu bleiben und Kontakt zu suchen.
Eine Katze, ein elegantes Tier, ohne Rudel, ohne Herde. Selbständig. Entspannt in der Ruhe, dennoch beobachtend und stets zu blitzschneller Reaktion fähig.