Neuer Anlauf Bahnprivatisierung droht

Alte und neue Projekte der Bahnprivatisierung – 10-Punkte-Katalog für eine „BRD“ als „Bahnsinnige Republik Deutschland“

(Aus: LP21 Extra 2017/18)

Das Bündnis Bahn für Alle ist so alt, wie Angela Merkel Kanzlerin ist. Dafür gibt es einen Grund: 2005 wurde Bahn für Allemit dem Ziel gegründet, die Bahnprivatisierung zu verhindern. Die damals gebildete GroKo II [1], die neue CDU/CSU-SPD-Regierung unter der damals neuen Kanzlerin Angela Merkel, hatte im Koalitionsvertrag festgehalten, mit einem Börsengang eine Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG (DB) vorzunehmen. Wobei es maßgeblich Gerhard Schröder, der aus dem Amt scheidende Kanzler, und der damalige bayerische Wirtschaftsminister Otto Wiesheu waren, die dieses Ziel in den Koalitionsvertrag hineinschrieben. Wiesheu wurde kurz darauf für seinen Privatisierungssondereinsatz mit einem Bahnvorstandsposten belohnt.

Das damalige Projekt der Bahnprivatisierung war zunächst brachial: Die DB sollte einschließlich der Infrastruktur privatisiert werden („integrierter Börsengang“). Die damals gewählte Konstruktion ist insofern interessant, als Teile der heutigen ÖPP-Privatisierungsstrategie darin enthalten waren. Da die mehrheitliche Verantwortung für die Infrastruktur nach GG Art.87e – ein Artikel, der erst 1993 in die Verfassung hineingeschrieben wurde – beim Bund liegt, wurde die folgende, grotesk anmutende Konstruktion, die sich „Eigentumssicherungsmodell“ nannte, entwickelt: Danach sollte die DB AG zwar formell aufgespalten werden in eine teilprivatisierte DB AG mit Nah-, Fern-, Schienengüterverkehr und Logistik auf der einen Seite und den weiterhin zu 100 Prozent bundeseigenen Infrastrukturgesellschaften für Netz, Bahnhöfe und Energieerzeugung auf der anderen Seite. Gleichzeitig sollte der Bund jedoch einen Vertrag mit der teilprivatisierten DB AG abschließen, wonach die reale Verfügung über das Eigentum an der Infrastruktur auf 15 bis 18 Jahre an die teilprivatisierte DB AG abgetreten würde. Gleichzeitig sollte der Bund garantieren, dass jährlich rund 3,5 Milliarden Euro Steuergelder in die Infrastruktur fließen (womit die Renditen der privaten Investoren gesichert würden). Und am Ende der Vertragszeit sollte die reale Verfügung über die Infrastruktur nur dann an den Bund zurückfallen, wenn dieser einen zweistelligen Milliardenbetrag an die teilprivatisierte DB AG als „Wertausgleich“ zahlen würde.

Dieses Vorhaben, das als 42 Seiten starker Gesetzentwurf mit Titel „DB PrivGes“ (Deutsche Bahn Privatisierungsgesetz) im Detail vorlag, scheiterte – unter anderem auf dem SPD-Parteitag im Oktober 2007 am Widerstand der Delegierten.

Im ersten Halbjahr 2008 gab es dann jedoch den zweiten Versuch, „nur“ den Bahnbetrieb (Schienenpersonennahverkehr, Schienenfernverkehr und Schienengüterverkehr) zu privatisieren. Zu diesem Zweck war Anfang 2008 klammheimlich der Bahnkonzern in zwei Holdings aufgespalten worden: die Dachgesellschaft DB AG und eine DB ML (Mobility Logistics); in letzterer waren Nah-, Fern- und Schienengüterverkehr, Logistik und die ausländischen Beteiligungen zusammengefasst worden. Die Teilprivatisierung sollte nun „nur“ bei DB ML erfolgen.

Auch dieses Vorhaben scheiterte – am Widerstand in der Politik und in der Öffentlichkeit, aufgrund eines spektakulären Bruchs einer ICE-Achse im Juli 2008 in Köln und mit der Finanzkrise vom September 2008. Umfragen, die Bahn für Alle in Auftrag gegeben hatte, ergaben: Mehr als 70 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnten jede Art Bahnprivatisierung ab. Eine vergleichbar große Mehrheit wünschts sich eine Bahn in öffentlichem Eigentum. Bahn für Alle verbucht es bis heute als großen Erfolg, dass damals diese Projekte einer Bahnprivatisierung verhindert werden konnten.

Doch seither hat sich im Schienenverkehr viel verändert – überwiegend zum Negativen. Es gibt – wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen (siehe Artikel zu Leipzig Seite 70ff) einen schleichenden Privatisierungsprozess. Es gibt die systematische Zerstörung der Schieneninfrastruktur. Und es gibt einen fortgesetzten Verlagerungsprozess von der Schiene auf die Straße und zum Luftverkehr. Verantwortlich sind dafür alle bisherigen Bundesregierungen und das jeweilige Top-Management der Deutschen Bahn AG unter Hartmut Mehdorn (1999-2009), unter Rüdiger Grube (2009-2017) und unter Richard Lutz (seit März 2017).

Aktuell ist zu befürchten: Eine neue Bundesregierung könnte einen neuen Anlauf für eine materielle Bahnprivatisierung starten. Vorstellbar sind die Beteiligung von „Investoren“ an DB-Tochtergesellschaften oder gar bei der DB Holding (DB AG). Einen solchen Vorstoß gab es bereits in der vergangenen Legislaturperiode. Das wurde in der Öffentlichkeit mit dem Hinweis verkauft, die Bahn benötige dringend „frisches Kapital“ – und dies komme von großzügigen Investoren. Dieser Vorstoß scheiterte dann doch. Anzunehmen ist, dass die Bundestagswahl (2017) zu nah herangerückt war und man einen neuen öffentlichen Widerstand während des Wahlkampfs fürchtete.

Einiges spricht dafür, dass ein solcher Vorstoß sich wiederholen könnte. Denkbar ist jedoch auch die Privatisierung eines Teilbereichs der DB, zum Beispiel des Schienengüterverkehrs (DB Cargo), des Fernverkehrs (DB Fernverkehr) oder des Nahverkehrs (DB Regio). Propagandistisch könnte das „verkauft“ werden mit dem Argument, es gehe um „mehr Wettbewerb auf der Schiene“.

Fortgesetzter Privatisierungsprozess

Zum Zeitpunkt der Bahnreform 1994 wurden noch 95 Prozent aller Verkehrsleistungen auf der Schiene von der neu gegründeten Deutschen Bahn AG bestritten. Diese Vormachtstellung hat die DB bis Anfang 2018 nur im Fernverkehr erhalten können. Im Bereich des Schienenpersonennahverkehrs und im Bereich Schienengüterverkehr entfallen inzwischen jeweils mehr als 40 Prozent auf andere Betreiber. Es handelt sich dabei teilweise um rein private Gesellschaften. Oft aber auch um Unternehmen in öffentlichem Eigentum, zum Beispiel um Tochtergesellschaften von Nachbarbahnen, die jedoch wie rein privatwirtschaftliche Firmen agieren.

Auch wenn es in diesem Prozess einige belebende Elemente gibt, so ist das Gesamtergebnis doch kritisch zu sehen: Es existiert ein Flickenteppich bei Tarifen und Fahrplänen. Die Folge vieler Neuausschreibungen sind Chaos und enorme Extrakosten. Die öffentlichen Gelder für den Schienenverkehr als Ganzes liegen heute höher als vor der Bahnreform – obgleich es immer weniger öffentliche Kontrolle gibt.

Koloss DB außer Kontrolle

Das größte Problem ist jedoch: Die Deutsche Bahn AG bewegt sich fast völlig außerhalb jeglicher öffentlicher Kontrolle. Gleichzeitig wandelte sie sich radikal: Sie transformierte sich zunehmend zu einem Global Player: Anfang 2018 werden knapp 50 Prozent des Umsatzes der DB AG im Ausland erzielt – und dies überwiegend nicht im Bereich des Schienenverkehrs. Im Inland baute die DB gewissermaßen Zug um Zug Schienenverkehr ab: Es gab die Einstellung des Stückgutverkehrs Mitte der 1990er Jahre, die Einstellung der InterRegio-Zuggattung 2001/2002; die Einstellung des Nachtzugverkehrs 2016. Der Reisekomfort wurde erheblich verschlechtert: Die Beinfreiheit wurde von ICE-Gattung zu ICE-Gattung verkleinert. In den Zügen wurde das Personal massiv reduziert. Die Servicequalität hat deutlich abgenommen. Der Speisewagen findet oft schlicht nicht statt (es gibt ihn erst gar nicht. Oder es gibt kein Personal, keine warme Speisen, ein reduziertes Angebot). Die Pünktlichkeit der Züge hat sich verschlechtert (2017 waren auch nach den unzureichenden Kriterien der DB AG nur circa 78 Prozent aller Züge „pünktlich“. Dabei werden jedoch komplett ausgefallene Züge gar nicht statistisch erfasst: In jeder Woche gibt es den Ausfall von mehr als hundert Zügen! Hinzu kommt: Das Tarifsystem ist so intransparent wie noch nie. Die offiziellen Tarife („Flexpreis“) haben sich im Zeitraum 2003 bis Frühjahr 2018 um 45 Prozent im Fernverkehr, um 50 Prozent im Nahverkehr und um 85 Prozent bei der BahnCard50 erhöht.

Fahren auf Verschleiß

Katastrophal sind die Auswirkungen der DB-Unternehmenspolitik im Bereich der Infrastruktur. Während die DB die Investitionen auf meist fragwürdige Großprojekte (wie Stuttgart 21, Neubaustrecken Wendlingen-Ulm und Nürnberg-Erfurt) konzentriert, wurden das Schienennetz um 17 Prozent abgebaut, 40 Prozent aller Weichen, 45 Prozent aller Ausweichgleise demontiert und 90 Prozent aller Gleisanschlüsse gekappt. Der Zustand der Schienentrassen verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. In der Folge verlängerten sich Fahrtzeiten auf wichtigen Strecken (zum Beispiel auf der Verbindung Stuttgart – München im Zeitraum 1994 – 2018 um 23 Minuten).

Dies steht in krassem Widerspruch zu der Tatsache, dass die Bundesmittel für die Infrastruktur deutlich erhöht wurden. Von mehr als 5000 Bahnhöfen sind weniger als 100 noch mit Personal besetzt; der Zustand von 95 Prozent der Bahnhöfe ist schlicht abstoßend. Die Deutsche Bahn verletzt damit nicht nur ihre Verpflichtungen als Bahn in staatlichem Eigentum mit Serviceverpflichtungen, wozu es im Allgemeinen Eisenbahn-Gesetz, AEG §4, heißt: „Die Eisenbahnen sind verpflichtet […] die Eisenbahninfrastruktur […] in betriebssicherem Zustand zu halten“. Sie verhöhnt auch das Verfassungsgebot: Grundgesetz Artikel 14, Absatz 2 lautet: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Die Deutsche Bahn AG agiert heute bereits so, als handle es sich um einen rein privatkapitalistischen Konzern. Dabei befindet sich das Unternehmen zu 100 Prozent in Bundeseigentum. Und es ist die jeweilige Bundesregierung, die ihrer Verpflichtung zur Kontrolle des Konzerns und zur Umsetzung einer nachhaltigen Verkehrspolitik im Schienenbereich nicht gerecht wird. Das systematische Fahren auf Verschleiß aber ruft Privatisierungsforderungen förmlich auf die Tagesordnung. Der Tenor lautet: Schlimmer als bei der zu hundert Prozent bundeseigenen Deutschen Bahn AG kann es doch gar nicht mehr werden. Lasst es uns mit Privatisierung versuchen. Oder einem Mix aus etwas privat und einiges an ÖPP.

Privatisierungsstopp und 10-Punkte-Katalog für eine Bahn mit Zukunft

In dieser Situation ist von einer neuen Bundesregierung und mit Blick auf einen neuen Koalitionsvertrag der folgende 10-Punkte-Katalog zu fordern:

Erstens Abzulehnen sind alle Schritte in Richtung einer materiellen Privatisierung der DB AG. Auch einer Hereinnahme von [Finanz-] Investoren in die DB AG oder in große Töchter der Deutschen Bahn AG wird widersprochen. Das 100-Prozent-Eigentum an der Deutschen Bahn AG muss erhalten bleiben.

Zweitens Von der Bundesregierung sind klare Vorgaben für den Schienenverkehr als Ganzes und für die DB insbesondere zu fordern. Ziele müssen dabei sein: Optimale Qualität. Ausbau der Schiene. Höchste Servicequalität. Verlagerungen von Straße und Luftverkehr auf die Schiene. Das Top-Management der Bahn muss „Schiene leben“ und persönlich überwiegend im Schienenverkehr verkehren.

Drittens Notwendig ist der Schutz der gesamten Schieneninfrastruktur (Trassen, Bahnhöfe, Energiebereich). Die Deutsche Bahn AG hat gezeigt, dass sie dazu nicht bereit und nicht in der Lage ist. Es muss geprüft werden, in welcher organisatorischen Form die Infrastruktur bei Erhalt eines gemeinsamen inneren Arbeitsmarktes zusammengefasst werden kann, um diesen Schutz zu gewährleisten.

Viertens Notwendig ist die Halbierung der Trassenpreise für den Schienengüterverkehr und für den Schienenpersonenverkehr. Nur so kann es zu dem erforderlichen Aufschwung des Schienenverkehrs kommen.[2]

Fünftens Die gesamten Auslandsengagements der DB AG (vor allem Schenker Logistics, Arriva) müssen verkauft; zerstörerische Großprojekte wie Stuttgart 21 und Fehmarnbelt-Tunnel sind zu stoppen. Die damit erzielten Einnahmen – bzw. die nicht zu tätigenden, bislang fest eingeplanten Ausgaben – in einer Gesamthöhe von 15 bis 20 Milliarden Euro müssen für Investitionen im Kerngeschäft – im Bereich Schiene im Inland – investiert werden.

Sechstens Das Schienennetz muss deutlich ausgebaut und auf den Stand gebracht werden, den es auf deutschem Boden (BRD und DDR) in den 1950er Jahren hatte. Dies erfordert eine Erweiterung des Netzes um gut 30 Prozent.

Siebtens Notwendig ist die 100-Prozent-Elektrifizierung des Netzes (in Teilbereichen – Stichstrecken – als Akkubetrieb). Jegliche Dieseltraktion im Normalbetrieb wird aufgegeben. Allein dadurch können erhebliche Synergien erzielt werden. Vor allem ermöglicht dies tatsächlich, dass Schienenverkehr komplett mit alternativer Energie betrieben wird (Wasser, Wind und Solarstrom).

Achtens Es gibt eine deutliche Reduktion der Normaltarife (um mindestens ein Drittel), eine Halbierung der Preise für BahnCard50 und BC100 und die Umsetzung eines transparenten, einfachen Tarifsystems.

Neuntens Falsch ist die schlichte Forderung „Verlagerung von Lkw-Gütertransport auf die Schiene“. Dies führt – zu Recht! – zu breiten Protesten gegen einen wachsenden Bahnlärm. Notwendig sind vielmehr Maßnahmen, die eine massive Reduktion des gesamten Güterverkehrs – vor allem des Lkw-Transports – bewirken (auf weniger als die Hälfte des aktuellen Niveaus). Erst auf dieser Basis kann eine Verlagerung des verbleibenden Güterverkehrs auf Binnenschiff und Schiene gefordert werden.

Zehntens Das langfristige Ziel im Schienenverkehr ist und bleibt eine integrierte, ganzheitliche Bahn in öffentlichem Eigentum – unter anderem mit Integralem Taktfahrplan („Deutschland-Takt“). Die Schweiz und die SBB sind hier weiterhin – jedenfalls aus deutscher Sicht – vorbildlich. Im Nachbarland wird seit Jahrzehnten demonstriert, dass eine bürgernahe Bahn und eine Flächenbahn mit einem Halbstundentakt-Fahrplan und mit hoher Akzeptanz in der Bevölkerung machbar sind.

Winfried Wolf ist engagiert bei Bahn für Alle (BfA) und in der Bahnfachleutegruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB). Im Januar 2018 erschien neu: W. Wolf, abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands. Köln 2018, PapyRossa, 380 Seiten, Hardcover, 20 Euro.

Anmerkungen:

[1] Weitgehend in Vergessenheit geriet, dass es in der BRD 1966 bis 1969 eine erste Große Koalition unter Kanzler Georg Kiesinger und Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt gab. Große Koalitionen sind fast immer mit großen undemokratischen Vorhaben, für die die Verfassung geändert werden muss, verbunden. Die GroKo I hatte die Notstandsgesetze durchgesetzt. Die GroKo II (2005-2009) hatte die Bahn privatisieren wollen. Die GroKo III (2013-2017) hatte das Tarifeinheitsgesetz mit der damit verbundenen erheblichen Einschränkung des Streikrechts und die in diesem LP21-Extraheft beschriebenen GG-Änderungen für einen neuen Privatisierungsschub via ÖPP durchgesetzt.

[2) Eine Halbierung der Trassenpreise für den Güterverkehr scheint beschlossene Sache zu sein. Allerdings wird nun wie folgt argumentiert: Da es diese Halbierung mit den entsprechenden Kostenminderungen beim Schienengüterverkehr geben würde, könne es keine Trassenpreisreduktion im Personenverkehr geben. Das ist kontraproduktiv. Im Übrigen macht eine Förderung des Schienengüterverkehrs nur Sinn im Kontext einer generellen Reduktion des Gütertransports. Siehe Punkt 9.