Mord-Bilanz

Zugegeben, ich bekam einen Schreck, als ich von Alexander Gaulands Rede am 2. Juni 2018 hörte: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahre erfolgreicher deutscher Geschichte.“

Welche Taten hatte Gauland in der Geschichte der deutschen Staaten entdeckt, die maßloser waren als der Holocaust und das Entfesseln eines Weltkrieges, so dass die durch Staat und Gesellschaft verübten Menschheitsverbrechen unbedeutend erscheinen konnten wie ein Häufchen Kot?

Gauland, ehemaliges CDU-Mitglied und ehemaliger Leiter der hessischen Staatskanzlei unter Walter Wallmann, redete auf dem Bundeskongress der Jungen Alternative im thüringischen Seebach. Doch so, wie er es sagte, hat er es gar nicht gemeint.

Sondern noch schlimmer, nämlich so als verschwände die unmoralische Tat, wenn sie nur verdünnt genug betrachtet werde. Der Satz „Wir hatten eine ruhmreiche Geschichte und die dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre“ ging dem berühmt gewordenen Zitat voran. So als könne man eine Art Gesamtbilanz aller Taten ziehen, in der Verbrechen weniger groß erscheinen, weil sie durch Nichtverbrechen ausgeglichen würden – und im Durchschnitt sei dann alles gut.

Das Verfahren ähnelt dem Jüngsten Gericht, das die Taten jedes Menschen einst wägen und werten werde. Gauland bemühte ein Art Göttin der Geschichte, die das Geschehene nach Art einer Bilanz betrachtet, bei der es auf den Saldo von guten und schlechten Taten und den vielen mittelmäßigen ankomme, so dass das bisher größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit im Ergebnis unbedeutend, ohne Gewicht sei.

Und egal, wie groß das Verbrechen, wenn man den Zeitraum des Vergleichs ausreichend lang genug wählt und viele gute Taten sucht, die die schlechten Taten auf sonderbare Weise ausgleichen sollen, verlöre sich jegliche Schuld.

Aber gibt es ein solches Abwiegen vor einem Gericht der Welt überhaupt? Wird vor einem weltlichen Gericht ein begangenes Verbrechen buchhalterisch mit den anderen Tätigkeiten des Angeklagten verrechnet, die in gar keinem Zusammenhang stehen mit der Tat? Hören wir jemals ein „Hohes Gericht der Weltgeschichte, der Angeklagte ist von der Anklage des Mordes freizusprechen, weil er stets seiner Mutter am Muttertag Blumen mitbrachte und immer seinen Schäferhund streichelte!“?

Was Herr Gauland über die Moral von der Geschichte sagte, ist schrecklicher und maßloser als eine Relativierung des Holocaust. Er nimmt für sich in Anspruch, keine Moral gelten zu lassen für die Taten seiner Partei. Denn wo ließe sich nicht etwas Gutes im Leben eines Angeklagten finden oder in der Geschichte eines Staates, das kumuliert zum Ausgleich jeglicher Mordtaten herangezogen werden könnte? Und wenn die Vergangenheit als Ausgleichsmaßnahme nicht genug hergibt, nimmt man halt Kredit bei der Zukunft, um jeglichen moralischen Einspruch gegen ein Verhalten abzuwehren, das man selbst als kriminell bezeichnet. Gauland meint also im Klartext, für Staatsverbrechen gäbe es keinen moralischen Maßstab außer dem des Erfolges.

Nicht nur die von Gauland beschworenen tausend Jahre, die angeblich Deutschlands Geschichte ausmachen, sondern auch die Gleichsetzung von Holocaust und Kriegsverbrechen mit Vogelkot erinnern an das Gefasel des feigen Herrn Hitler. Der schrieb am Ende vom Urteil der Geschichte, dem er sich stelle, bevor er seine Geliebte heiratete, sich mit ihr vergiftete, in einen Teppich wickeln und verbrennen ließ. Dabei hatte auch er bloß gemeint, mit seinen Verbrechen gegen die Menschheit durchzukommen, weil er siegreich bleiben und jegliches Gericht aus dem Weg räumen würde.

Bleibt die Frage, für welche Verbrechen, zu denen der jetzige Ehrenvorsitzende Gauland und seine Partei auffordern, sie noch Kredit bei der „deutschen Geschichte“ zu haben glauben oder wie weit sie gehen können, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

Jürgen Bönig schreibt Geisterbahn, um zu verstehen, welche Gespenster wir erkennen und aus dem Weg räumen müssen.