Zum 4. Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung*
Antje Asmus. Lunapark21 – Heft 21
Seit Ende 2012 liegt der Entwurf für den 4. Armuts- und Reichtumsbericht mit einem Schwerpunkt auf soziale Mobilität innerhalb der Lebensphasen vor. Die Bundesregierung ist verpflichtet, in jeder Legislaturperiode über die soziale Lage in Deutschland Auskunft zu geben.
Zu den Kernaussagen: Die Armutsquote in der Bevölkerung stieg bis 2005 an und lag ab 2007 bis 2011 relativ konstant zwischen 14 und 16 Prozent. „Besonders betroffen von einem relativ geringen Einkommen waren den aktuellen Berechnungen zufolge vor allem Jugendliche, junge Erwachsene und Personen in Haushalten von Alleinerziehenden“ (S. VIIIf.). Armutsquoten geben an, wie hoch der Anteil von Personen einer Gruppe ist, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Die repräsentative Einkommens- und Verbrauchsstichprobe weist für 2008 eine Armutsrisikoschwelle von 1063 Euro aus. Unter diesem Einkommenswert wird nach dieser Definition von Einkommensarmut ausgegangen. Weiter gewachsen ist die materielle Ungleichheit. Die untere Hälfte der Haushalte verfügt nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte mittlerweile mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen.
Ungleichheiten in den Lebenslagen sind aus Sicht der Bundesregierung konstitutiver Bestandteil einer durch Freiheit und Wettbewerb gekennzeichneten sozialen Marktwirtschaft und Ergebnis unterschiedlicher Lebensentwürfe. Sie „können allerdings zu Akzeptanzproblemen führen, wenn sie ein gesellschaftlich anerkanntes Maß übersteigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Ungleichheiten vorrangig nicht auf persönlichen Fähigkeiten und individuellen Leistungen basieren. Die Identifikation dieser gesellschaftlich akzeptierten Grenze ist überaus schwierig“ (S. 21).
Anders als bei dem Familien- oder beim Gleichstellungsbericht der Bundesregierung handelt es sich beim Armuts- und Reichtumsbericht nicht um ein wissenschaftliches Gutachten, sondern um ein regierungsamtliches Dokument, erstellt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertisen. Das ist beachtenswert, denn der Begriff „Armut“ ist eine politisch ausgehandelte Konstruktion, die mit Werte- und Normenvorstellungen verbunden ist. Davon hängt ab, in welchem Ausmaß sie (an)erkannt wird und welcher Handlungsbedarf abgleitet wird.
Nach Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes ist die Bundesregierung verpflichtet, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern. Der erste Gleichstellungsbericht hatte 2010 empfohlen, konsistente Rechtsgrundlagen dafür zu schaffen, damit Männer und Frauen über den Lebensverlauf hinweg den gleichen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe erhalten. Diesem Leitbild hatte sich die Bundesregierung angeschlossenen.
Umso mehr verwundert es, dass im Armuts- und Reichtumsbericht eine konsequente geschlechtsspezifische Darstellung zentraler Indikatoren zur Messung von Armut und Reichtum fehlt. Operiert wird mit Durchschnittswerten bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Obwohl der Schwerpunkt des Berichts auf der Mobilität während der Lebensphasen liegt, werden die spezifischen Armutsrisiken während des Lebensverlaufs weder für Frauen noch für Männer identifiziert.
Viele Indizien weisen auf die Existenz von Frauenarmut hin: Der Gender Pay Gap liegt bei 22 Prozent, das heißt, der durschnittliche Stundenlohn von Frauen liegt um 22 Prozent – gut ein Fünftel – unter demjenigen von Männern. Der Gender Pension Gap liegt sogar bei 60 Prozent (siehe Lunapark21, Heft 20). Frauen machen Dreiviertel aller im Niedriglohnsektor Beschäftigten aus, ihr Erwerbsarbeitszeitvolumen und die damit verknüpften Entgelte sind in den letzten Jahren gesunken. Frauen sind schon jetzt bei der Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter überrepräsentiert. Darüber hinaus werden sie im Falle von Erwerbslosigkeit sehr viel häufiger als Männer im Rahmen der sozialrechtlich verankerten Bedarfsgemeinschaft auf das Einkommen ihres Partners verwiesen und erhalten dadurch oftmals keine eigenen Leistungen.
Ein realistisches Bild weiblicher Armutsrisiken zeigt die soziale Lage von Alleinerziehenden, die zu 90 Prozent weiblich sind. Im Gegensatz zu anderen Frauen werden Alleinerziehende als eigener Haushaltstyp statistisch erfasst. Der Armuts- und Reichtumsbericht weist für sie mit 40 Prozent eine überdurchschnittlich hohe Armutsquote aus.
Arm trotz Arbeit
Die Hauptursache von Armut im Allgemeinen ist laut Bundesregierung mangelnde Erwerbstätigkeit. Sozialpolitik müsse da ansetzen „wo die Möglichkeiten des Einzelnen nicht ausreichen, aus eigener Kraft am Wettbewerbsprozess teilzunehmen und akzeptable Teilhabeergebnisse zu erzielen“ (S. 21). „Letztlich steht es in der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, eröffnete Chancen auch zu nutzen“ (S. II). Es geht also um Chancen und deren individuelle Nutzung, nicht um Verteilungsgerechtigkeit. Frauenarmut wird einseitig zurückgeführt auf die fehlende Erwerbstätigkeit von Müttern sowie auf eine unausgewogene Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit innerhalb von Paarbeziehungen. Was der Bericht auslässt: auch kinderlose Frauen mit durchgängiger Erwerbsbiografie verfügen über weniger Einkommen als Männer.
Erwerbsbeteiligung per se ist noch kein Garant für ein Einkommen jenseits der Armutsrisikoschwelle. Seit Jahren schreitet die Prekarisierung von Berufen, die als typisch weiblich gelten – wie zum Beispiel im Handel oder im sozialen Dienstleistungssektor – voran. Ehemals sozialversicherungspflichtige Stellen werden in Minijobs und Honorartätigkeiten umgewandelt oder über Zeitarbeit besetzt. Heute kann auch bei hohen Bildungsabschlüssen nicht mehr davon ausgegangen werden, dass damit ein existenzsicherndes Einkommen erzielt wird.
Im gesamten Bericht wird auf eine kritische Diskussion der Arbeitsmarktentwicklungen verzichtet. Im Gegenteil: Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sowie die Weiterentwicklung atypischer Beschäftigung wird als Ausdruck von Beschäftigungszuwachs positiv bewertet. Wie der Erste Gleichstellungsbericht zeigte, hat sich das Arbeitsvolumen der Frauen insgesamt jedoch nicht geändert, sondern immer mehr Frauen teilen sich eine gleich bleibende Anzahl von Erwerbsarbeitsstunden.
Ein Zusammenhang zwischen Erwerbslosigkeit und dem Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen gerade in „weiblichen“ Branchen wird nicht hergestellt. Dass atypische Beschäftigung, wie dies von der Bundesregierung hervorgehoben wird, eine „Brückenfunktion“ als Einstieg oder Wiedereinstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung hat, ist von verschiedenen Seiten widerlegt worden. Den naheliegenden Schluss, dass in vielen Branchen Niedriglöhne gezahlt werden, gerade weil es frauentypische sind und weil Frauen in die Zuverdienerinnenrolle gedrängt werden, zieht der Bericht ebenfalls nicht.
Insbesondere die sozialversicherungsfreien Minijobs werden in überwiegender Mehrheit von (Ehe-) Frauen ausgeübt. Dieses Konstrukt des weiblichen Zuverdienstes kann aber nur armutsfest sein, wenn der andere, bei der Mehrheit der männliche (Ehe-) Partner, ein ausreichend hohes Einkommen erzielt und durch das Ehegattensplittung sowie die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenkasse diese Niedrigeinkommen subventioniert werden. Eine isolierte Betrachtung von Haushalten von Paaren und von Alleinerziehenden verstellt den Blick auf biografische Zusammenhänge: das überdurchschnittliche Armutsrisiko bei Alleinerziehenden resultiert häufig aus der in der vormals gelebten Partnerschaft noch gemeinsam getragenen Arbeitsteilung.
Eine Individualisierung und Privatisierung der Ursachen von Erwerbslosigkeit, Unterbeschäftigung und Niedriglöhnen, wie es der Bericht nahe legt, wenn er von Armut als Ergebnis „individueller Lebensentwürfe“ spricht, ist vor diesem Hintergrund unangemessen.
Datenerhebung macht Frauen unsichtbar
Aus feministischer Perspektive besteht ein weiteres großes Manko des Armuts- und Reichtumsberichts in dem Verzicht auf eine Erfassung von unbezahlten Reproduktionsarbeiten in der Familie als Beitrag zur Generierung von Wohlstand und als Voraussetzung für bezahltes Arbeiten am Markt. Sie fallen als „nicht produktive“ Arbeit eindeutig unter den Tisch. Anschaulich wird dieses Defizit auf eklatante Weise im Abschnitt zur Pflege. Hier wird den Frauen angelastet, dass sie höhere Pflegekosten als Männer verursachen, weil sie eine längere Lebenserwartung haben. Unberücksichtigt bleibt an dieser Stelle ihr Beitrag in der Pflege als unbezahlte Leistung und die damit verbundenen staatlichen „Einsparungen“.
Werden Frauen im Bericht erwähnt, dann fast durchgängig im Kontext von Haushalts- und Familienstrukturen, Bedarfsgemeinschaften oder Partnerschaften. Warum? Dass das Private politisch ist, hat sich in der Bundesstatistik noch nicht herumgesprochen. Sie geht davon aus, dass Haushalte immer gemeinsam (solidarisch) wirtschaften. Insbesondere die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, grundlegend für den Bericht, erfasst lediglich Haushaltsdaten. Individuen und damit die geschlechtsspezifische Sicht auf Einkommen verschwinden dahinter. Wie das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft im Sozialrecht zeigt, wird bei Paarhaushalten, ob mit oder ohne Trauschein, grundsätzlich ein finanzieller Einstandswillen vermutet. Im ARB klingt das so: „Außerdem ist das eigene Erwerbseinkommen gegebenenfalls nur eine Komponente des gesamten Haushalteinkommens und Erwerbseinkommen von Partnern oder Transfereinkommen kommen hinzu“ (S. 337). In alter (westdeutscher) Tradition werden Frauen auf das Partnereinkommen verwiesen. Dieses (männliche) Ernährermodell spiegelt die Statistik wider.
Außer Acht gelassen wird dabei, dass die Frage, von wem welches Geld stammt, für die innerpartnerschaftlichen Aushandlungsprozesse nicht unwichtig ist, wie es zuletzt die Forschungsergebnisse zu „Familienernährerinnen“ bestätigten. Geldeinkommen ist nicht frei von Symbolisierungen und stellt eine gewisse Unabhängigkeit sicher. Frauen müssen ihr eigenes Zimmer auch selber bezahlen können. Daten zu gezahltem Kindes- und Ehegattenunterhalt fehlen in diesen Statistiken ebenso. Auf diese Weise gelangen die Lebenslagen von Frauen nicht in den politischen Fokus. Forschungsergebnisse zeigen, dass Frauen auch in Paarbeziehungen mitunter individuell arm sind und nicht nur, wenn sie Mütter sind. Die in der Soziologie etablierte Kategorie „Individuum-in-Paarbeziehung“ könnte hier Abhilfe schaffen.
Möglicherweise stellt sich die Frage, warum es aus frauenpolitischer Sicht erforderlich ist, dass Frauenarmut im Armuts- und Reichtumsbericht gesondert herausgearbeitet wird, wo es doch bereits den Gleichstellungsbericht oder den Gender-Daten-Report gibt? Da wäre zunächst die Ressortverantwortung zu nennen: Federführend bei der Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, während die Frauen-, Familien- und Gleichstellungspolitik in der Verantwortung des Familienministeriums liegt. Den Handlungsempfehlungen des Gleichstellungsberichts folgend, muss Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik zusammen gedacht werden. Das Berichtswesen der Bundesregierung ist dafür eine wichtige Grundlage. Auch außerparlamentarische sozialpolitische Akteure in Wissenschaft und Verbänden über Medien bis hin zu Gewerkschaften rezipieren die Ergebnisse. Mitunter sind das nicht immer diejenigen, die auch mit gleichstellungspolitischen Fragestellungen vertraut sind. Umso wichtiger ist es, dass frauenspezifische Armutsrisiken über die Müttererwerbstätigkeit hinaus auch im Armuts- und Reichtumsbericht thematisiert werden.
Fazit
Der Bericht soll den „gesellschaftspolitisch Handelnden auf den verschiedenen Ebenen der Verantwortlichkeit helfen, Orientierung bei der Gestaltung einer Politik der sozialen Mobilität zu finden“ (S. III). Frauen müssen als Adressaten von Armutsbekämpfung wahrgenommen werden, weshalb es auch im Armuts- und Reichtumsbericht geschlechterspezifischer Daten bedarf.
Vermeintlich gleichstellungspolitische Forderungen wie zum Beispiel die Herstellung von Entgeltgleichheit mithilfe von Gesetzen, die Neubewertung als frauentypisch eingestufter Tätigkeiten, Frauenquoten, die Abschaffung sozialversicherungsfreier Beschäftigung oder die Einführung einer Individualbesteuerung könnten und sollten als sozialpolitische Notwendigkeiten festgeschrieben werden.
Antje Asmus ist Politologin. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse, Gleichstellung, Familienpolitik und Armut. Sie arbeitet als Referentin beim Verband alleinerziehender Mütter und Väter, Bundesverband e. V. Kontakt: asmus.antje@gmail.com
* Lebenslagen in Deutschland. Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, Stand 21.11.2012 (http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/ Einkommen-Armut/Dokumente/ARB_der_BR _vom_%2021112012.pdf, letzter Zugriff: 12.02.2013)