Feministische Entwicklungshilfe aus dem Süden

Italienerinnen als grösste Frauen-Diaspora in der Schweiz und ihr Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung

2020 gedenkt die Welt des Kriegsendes vor 75 Jahren. Aber immigrierte Akteure und Akteurinnen, die in den Nachkriegsjahren wesentlich zum Aufbau der heutigen Schweizer Gesellschaft beigetragen haben, sind kaum in die Geschichtsbücher eingegangen. Bis heute werden sie beispielsweise einfach als „Gastarbeiter“ dargestellt und noch drastischer: Immigrierte Frauen wurden fast gänzlich ausgeblendet. Gerade während der Nachkriegsjahre haben italienische Aktivistinnen beispielsweise zahlreiche Beiträge zur Positionierung der Frau in der Familie, der Wirtschaft und der Politik geleistet. Ihre Bemühungen wurden jedoch weder in ihren Communities noch in der Schweizer Gesellschaft anerkannt.

Gegen Ende der 1960er-Jahre haben junge Feministinnen aus Italien Schwung in die Schweizer Frauenbewegung gebracht, indem sie gezielt Aufmerksamkeit für die Probleme der Migrantinnen hierzulande thematisierten, Forderungen aufstellten und Bündnisse mit einheimischen Frauengruppierungen schufen. Diese Synergien zwischen ansässigen und migrierten Frauen haben dazu beigetragen, in der Schweiz Aufmerksamkeit für die vielen gemeinsamen Anliegen und Forderungen zu schaffen. Der erste landesweite Frauenstreik von 1991 ist das beste Beispiel für dieses Zusammenwirken. Mit diesem Essay sollen Beiträge der italienischen Frauen, der grössten Frauen-Diaspora in der Schweiz in der Nachkriegszeit gewürdigt werden.

Die Colonie Libere und die Frauen

Bereits 1950 kam die Hälfte der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz aus Italien. Immigranten und Immigrantinnen aus dem südlichen Nachbarland organisierten sich in den jeweiligen Städten und Dörfern in sogenannten Colonie Libere, also in Vereinsstrukturen, deren Ursprung auf italienische sozialistische und antifaschistische Gruppierungen aus der Zwischenkriegszeit zurückgeht. Im Dachverband dieser Vereine, der Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS), sowie in den einzelnen Kolonien haben Frauen in der ersten Zeit eine eher marginale Rolle gespielt. Die Vereine waren stark patriarchalisch geprägt. Die Frauen wirkten vor allem im karitativen Bereich.

Zwei Tochterorganisationen entstanden unmittelbar nach dem Krieg in der Region Zürich: die Unione Donne Italiane per la Svizzera (UDI) und die Associazione Femminile Italiana pro Infanzia (AFI). Diese Organisationen waren, wie es für die Frauenbewegung während den frühen Nachkriegsjahren üblich war, dadurch gekennzeichnet, frauenspezifische Interessen zu bewahren und sich am patriarchalen Verständnis der Geschlechter zu orientieren.

Die Präsidentin dieser Organisationen, Maria Albertini, war auch im Vorstand der FCLIS und bemühte sich, den Wirkungsbereich von sozialen und fürsorgerischen Aktivitäten zu erweitern. Bereits im Jahre 1955 hat sie auf die prekären Umstände hingewiesen, unter welchen Arbeiterinnen und Arbeiter auf Grund des Saisonierstatuts beschäftigt waren. Vor allem war ihnen gesetzlich verboten, ihre Familien nachzuholen. So wurde 1960 die Forderung nach Einrichtung von Betreuungseinrichtungen für die Kinder von Arbeitsmigrantinnen als zentral aufgestellt. Allerdings wurden diese Vorstösse von den männerdominierten Migrantenorganisationen und von vielen Migrantinnen selbst ignoriert.

Erst in den späten 1960er Jahren rebellierte die Genfer-Fraktion der FCLIS gegen das bis dahin akzeptierte Geschlechterverständnis und forderte die Gleichstellung der Frauen innerhalb der Vereinsstrukturen sowie allgemein in der Schweizer Gastgesellschaft. So beeinflusste die weltweite Frauenbewegung der sechziger Jahre auch die Strukturen der italienischen Vereine in der Schweiz. In der Folge gründeten Frauen der Colonie Libere in Genf 1965 eine auf Frauenthemen spezialisierte regionale Gruppe. Anders als in der bürgerlichen, eher älteren Frauenbewegung stand bei der neuen linken Frauenbewegung ab den 1970er Jahren die Solidarisierung zwischen einheimischen Frauen und verschiedenen Migrantinnen-Gruppierungen im Vordergrund. Mit der entstandenen Solidarisierung konnte 1967 der „Kongress der Migrantin“ organisiert werden. Diese neue linke, feministische Bewegung zeichnete sich durch eine starke Kapitalismuskritik aus.

Wie außerhäusliche Kinderbetreuung in der Schweiz entstand

Migrantinnen haben nicht nur wegen ihres mitgebrachten Wissens, sondern auch mit ihren Erfahrungen viel zur Verbesserung des Status der einheimischen und der migrierten Frau beigetragen. Als Beispiel dafür sei die Einführung der Kinderkrippen hervorgehoben. Mit der Ankunft der männlichen italienischen Arbeiter während der 1990er-Jahre kamen auch tausende Italienerinnen in die Schweiz. Dies zeigte sich auch in der Mitgliederzusammensetzung des FCLIS: Gegen Ende der 1960er-Jahre bestand ein Viertel der Mitglieder aus Frauen. Zwischen 1960 und 1970 waren die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in der Schweiz Immigrantinnen aus den Haupteinwanderungsländern. Bemerkenswert dabei ist, dass verheiratete Frauen mit Migrationshintergrund eher einer bezahlten Arbeit nachgingen als verheiratete einheimische Frauen, wie die Historikerin Francesca Falk erklärt.

Für den historischen Schritt zur Einführung von Krippen in der Schweiz spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Ein starker Faktor war die Einwanderung von Menschen aus Ländern, wo Erwerbsarbeit von Frauen als Regel galt und nicht als Ausnahme. Diese Beobachtung hat auch die ehemalige SP-Politikerin und Aktivistin aus St. Gallen, Paola Höchner, in einem Gespräch mit mir erläutert. Sie selbst sei während dieser Zeit aus Italien in die Schweiz gekommen: „In Italien war es damals gesellschaftlich akzeptabel, dass Frauen einer Erwerbsarbeit nachgingen. Vor allem weil die Löhne in Italien viel niedriger waren als in der Schweiz. In Italien konnte man es sich schlicht und einfach nicht leisten, dass nur der Mann einer Erwerbsarbeit nachging. In der Schweiz war es damals anders. In der Regel gab es eine klare Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Frauen waren für den Haushalt und die Kinder zuständig und Männer waren die Ernährer“. Höchner erläuterte ausserdem, dass die feministischen Ideen der 1960er Jahre in Italien viel früher Fuss gefasst hätten als in der Schweiz. Sie sagte, dass Migrantinnenorganisationen auch später, während der 1990er-Jahre, viel Lobby-Arbeit geleistet haben für Frauenthemen, wie beispielsweise für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Diese Bemühungen wurden aber damals nicht öffentlich dargestellt, aus Angst, dass dies als Einmischung von Immigrantinnen in die inländische Politik interpretiert werden könnte.

Die gesellschaftlichen Beiträge von Migrantinnen wurden oft kaum wahrgenommen. So ist beispielsweise auch wenig bekannt, dass es Liliane Valceschini, eine Uhrenarbeiterin mit italienischen Wurzeln im schweizerischen Jura war, die mit ihren gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen den landesweiten Frauenstreik von 1991 angestossen hatte. Ihre Motivation war die immer noch existierende Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern. Sie verdienten ein Drittel weniger für die gleiche Arbeit als ihre männlichen Kollegen, obschon es den Gleichstellungsartikel seit 1981 gab.

Die Lebensumstände und die Bedürfnisse von Migrantinnen in der Schweiz waren damals und sind bis heute mit denen von einheimischen Frauen ähnlich. Einheimische Frauen waren Männern gegenüber benachteiligt und mussten mit tradierten patriarchalen Strukturen in Familie und Gesellschaft klarkommen. Frauen mit Migrationshintergrund mussten ebenfalls diese Hürden überwinden, wurden aber zudem als „Fremde“ wahrgenommen. Die Sprache und die hiesige Kultur waren ihnen grösstenteils unbekannt. Sie mussten oft ohne familiäre Unterstützung die Hindernisse überwinden. Die Einwanderungspolitik, damals wie heute, zeichnet sich nicht gerade durch eine ausgeprägte Willkommenskultur aus. Dennoch ist es offensichtlich, dass Migrantinnen eine Kultur in die Schweiz brachten, die zu Innovationen in den Geschlechterverhältnissen führten. Die Solidarität von einheimischen Frauen und Immigrantinnen, die sich mit der Frauenbewegung seit den 1960-Jahren entwickelte, war und ist wichtig zur Thematisierung von geschlechtsspezifischen Problematiken.

Carolina Hutmacher ist Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Migration. Sie ist Auslandsschweizerin und Ecuadorianerin und lebt seit 2016 in Basel. Sie hat ein vier Monate altes Baby und ist momentan auf Arbeitssuche.

Verwendete Literatur unter anderem Sarah Baumann, … und es kamen auch Frauen. Engagement italienischer Migrantinnen in Politik und Gesellschaft der Nachkriegsschweiz (Seismos-Verlag, Zürich und Genf, 2014) und Francesca Falk, Gender Innovation and Migration in Switzerland (Palgrave Studies, London 2019).