Exekutive und Legislative

Ein halbes Jahr „amtierende Regierung“ und die Lehren

Gelernt haben wir das in der Schule – jedenfalls im goldenen Westen – alle andersherum: Das Machtzentrum der Demokratie ist die Legislative. Sie entsteht aus freien, gleichen und geheimen Wahlen zwischen verschiedenen Parteien heraus, die mit unterschiedlichen Programmen und Personen, die sie repräsentieren, um die Wählerstimmen werben. Die Gewinner der so verteilten Mandate treten dann zusammen, um eine neue Regierung – das Haupt der Exekutive – zu wählen, die so von ihr abgeleitet und damit abhängig sei. Sie, die Legislative, könne die Exekutive auch jederzeit stürzen. Zwar sei das nicht mehr, wie sich in der Weimarer Republik als verhängnisvoll herausgestellt habe, möglich, ohne eine alternative Regierung zu bestimmen. Aber in Form eines „konstruktiven Mißtrauensvotums“ hänge über jeder Exekutive das scharfe Schwert der Legislative. Damit nicht genug: Alle Gesetze, die im Laufe der Legislaturperiode zu verabschieden seien, kämen aus der Legislative; die Exekutive habe diese Gesetze dann entsprechend dem Willen der Mehrheit der Volksvertreter zu exekutieren (woraus sich der Begriff selbst ableitet). Die dritte Gewalt im Staate, die Judikative, lege die Anwendung dieser Gesetze in strenger Unabhängigkeit von der vollziehenden Gewalt aus.

Soweit die Theorie der Gewaltenteilung im bürgerlichen Staat.

Die knapp sechs Monate, die zwischen den Bundestagwahlen vom 27. September 2017 und dem Druck dieser Ausgabe der Lunapark21 liegen, haben der marxistischen Staatstheorie, die sich in kritischer Reflexion dieser Theorie der Staatsgewalt im Kapitalismus entwickelt hat, ein unerwartetes Geschenk beschert.

Wenige Wochen nach der Wahl, am 4. Dezember, beklagte Die Welt : „Abgeordnete langweilen sich im Bundestag“. Sie hätten, jammerte dort einer aus der Schar der 700, die monatlich 10.000 Euro für ihre Tätigkeit oder eben auch Nichttätigkeit bekommen, „nichts zu tun“. In der Tat hatten sich bis dahin unter der Berliner Reichstagskuppel weder die Fachausschüsse konstituiert, in der üblicherweise die Regierungsvorlagen ernsthaft oder Oppositionsvorlagen formal und ohne weitere Folgen beraten werden, noch war ein einziger Regierungsposten neu vergeben worden.

Die kapitalistische Staatsmaschine aber – das ist eine der Lehren dieser Monate – läuft davon völlig unbeeindruckt weiter: Die Regierung regiert, das Parlament, ob nun mit oder ohne Ausschüsse, segnet so weitreichende Beschlüsse wie die Verlängerung der Kriegseinsätze in Afrika und anderswo ab. Und auch die Etablierung der künftig drittstärksten Armee der Welt, der europäischen Militäroperation Pesco oder SSZ (siehe LP21 Heft 40, S.6f) , ging weitgehend geräuschlos über die Bühne. Kennzeichnend ist über diese Lehre hinaus ein Detail der Begründung der Nichteinrichtung der Fachausschüsse: Diese müssten, so zitiert Die Welt Rechtskundige, „die entsprechenden Ministerien spiegeln.“ Damit wird offen eingestanden: Nicht das Parlament bestimmt die Struktur der Regierung, nicht also die Legislative die Exekutive, sondern umgekehrt: Die Legislative richtet sich entsprechend der Exekutive aus – dort und nicht im Parlament schlägt die Herzkammer des bürgerlichen Politikbetriebs. Als sich in Konturen abzeichnete, dass die neue Regierungskoalition die alten sein würde, hat das Parlament zwar die Ausschüsse mit reichlicher Verspätung doch gebildet. Eine Prägung der Arbeit ist von dort aber nicht erfolgt – keine wesentlichen Gesetzinitiativen, keine Debatten oder Entscheidungen, die auch nur ein Viertel der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erheischt hätten wie das Vor- und Abfahren von dicken Limousinen vor den Verhandlungsorten, in denen über die neue Regierung entschieden wurde.

Damit bestätigt sich eine Erkenntnis, die schon Karl Marx mit der Bemerkung auf den Punkt gebracht hat, bei Wahlen zu bürgerlichen Parlamenten könne ein Volk in der Regel nur entscheiden, wer seine Rechte mit den Füßen tritt. Im Kern sind heute die Parlamente von Washington über London und Berlin bis Warschau oder Tokio Gremien von Wahlmännern und Wahlfrauen, deren eigentliche Funktion darin besteht, einer Regierung die vom Volk per Urne erteilte Absolution mit lautem demokratischen Getöse weiterzuleiten. Danach verabschieden sich die Abgeordneten für die kommenden vier oder fünf Jahre in die Rolle des bestbezahlten Debattierclubs ihres jeweiligen Landes. Die eigentliche Gesetzgebungsarbeit geht auf die Exekutive über, aus der heraus – mit intensiver Begleitung der finanzstarken Lobbyverbände der Privatwirtschaft – diejenigen Gesetzinitiativen entwickelt werden, die das Parlament anschließend absegnet.

Für die Linke hätte dieses knappe halbe Jahr die Chance beinhaltet, die lähmende Parlamentsfixiertheit aufzubrechen. Bis in die Reihen z.B. der „Kommunistischen Plattform“ in der Partei „Die Linke“ wurde aber nicht etwa diese Chance gesehen, sondern mitgeteilt, es „muss uns sorgen“, dass wir einem „zunehmend versagenden Parlamentarismus“ gegenüberstünden. Die Partei „Die Linke“ müsse nun „in den Parlamenten und außerparlamentarisch“ aktiv werden.[1]

Das weist auf zwei Schwächen hin: Erstens sollte es Sozialistinnen und Sozialisten in der Tradition von Marx und Lenin, die nun wirklich niemals „in Sorge“ um die bürgerlichen Parlamente ihrer Zeit waren, sondern begrüßt haben, als sie in Paris durch die Commune bzw. in Russland durch Räte ersetzt wurden, keine Falten auf die Stirn bringen, wenn die Hüllen dieses die wirklichen Machtverhältnisse verbergenden Parlamentarismus zu fallen beginnen. Zweitens sollten Linke aller Schattierungen die Rangfolge ihrer Aktivitäten energisch vom Kopf auf die Füße stellen: An erster Stelle kommen außerparlamentarische Aktivitäten in den Betrieben, an zweiter Stelle außerparlamentarische Aktivitäten in den Städten und Dörfern, an dritter Stelle außerparlamentarische Aktivitäten auf allen Straßen der Republik – und an irgendeiner Stelle danach auch parlamentarische Aktivitäten. Wer diese Reihenfolge durcheinanderbringt, wird die realen Verhältnisse in diesem Lande niemals zum Tanzen bringen können.

Die Fixierung auf Parlamente und die Parteien, die sie, aus bürgerlichen Wahlen hervorgehend, bilden, ist auch deshalb verhängnisvoll, weil sie sich an Machtformen klammert, die von rechts ohnehin schon zur Disposition gestellt werden. Zwar hat es das Bundesverfassungsgericht abgelehnt, sich mit den Anträgen zu befassen, der SPD den Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag zu verbieten. Aber die Folterinstrumente waren gezeigt und liegen für den Moment bereit, in dem tatsächlich eine der Parteien nach links aus dem bürgerlichen Politzirkus auszubrechen droht. Bemerkenswerterweise nach der erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, am 12. Februar, erschien von Torsten Krauel in der Welt ein Leitartikel mit der Überschrift „Das Parlament entscheidet“ und den markigen Sätzen: „Die einzigen, die zu einer Abstimmung über den Koalitionsvertrag das Recht haben, sind die Bundestagsabgeordneten. […] Juso-Chef Kevin Kühnert ist ein Usurpator. Er ist kein Abgeordneter. Er hat keinerlei Mandat, eine Koalition im Bundestag durch eine Abstimmung außerhalb des Bundestags zu verhindern.“ Das im Grundgesetz enthaltene Parteienprivileg sage ausdrücklich, dass die Parteien bei der Willensbildung des Volkes mitzuwirken hätten – „bis zum Wahltag, heißt das…“. Mit diesem Tag hätten die Parteien „ihre verfassungsmäßige Aufgabe getan oder eben auch nicht.“ Danach also: Schnauze halten, die Abgeordneten machen lassen und danach – s.o. – die Regierung. Wenn, so Krauel weiter, das Beispiel einer zu großen Einmischung von Parteien (oder unausgesprochen von ihm, aber in der Logik dieses Gedankens liegend: sogar Bewegungen ohne Parteicharakter) in die Arbeit von Verfassungsorganen Schule mache, dann brauche „Deutschland eine gänzlich neue Verfassung, in der zum Beispiel eine Bundeskanzlerin wie der Präsident in den USA mit Verordnungen regieren darf.“

Damit ist ausgesprochen, was sich durch die Agonie des bürgerlichen Parlamentarismus zwischen Oktober 2017 und März 2018 praktisch erwiesen hat: Die rechten Kräfte bereiten sich argumentativ darauf vor, nicht nur faktisch, sondern auch formal die Hülle Parlamentarismus zu sprengen und durch eine offene Diktatur der Exekutive zu ersetzen – vielleicht vermischt mit gelegentlichen Plebisziten oder auch Wahlurnengängen, wenn die Stimmung medial so vorbereitet ist, dass das Ergebnis politisch nicht gefürchtet werden muss.

Manfred Sohn lebt in Hannover, er war Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen der Linken und von 2008 bis 2013 Mitglied des Niedersächsischen Landtags. Seit 2015 parteilos. Er schreibt u.a. für Ossietzky und die UZ. Zuletzt erschien von ihm: Falsche Feinde. Was tun gegen die AfD? Ein alternativer Ratgeber (= konkret texte 70), Hamburg 2017).

Anmerkungen:

[1] Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, Heft 12/2017, S. 1f