Visionen und Erneuerung

In den Quälereien um eine neue Bundesregierung wird CDU/CSU und SPD immer wieder vorgehalten, es fehle ihnen an Visionen. Sie benötigten eine Erneuerung.

Was den ersten der beiden Begriffe angeht, so spricht lediglich für ihn, dass einst ein schneidiger Bundeskanzler sich an ihm störte und schnarrte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Wer solche Feinde hat, verdient Freunde. Einerseits. Andererseits ist auch bei radikal Zukunftsorientierten seit geraumer Zeit eine Umkehr der einst durch Friedrich Engels beschriebenen Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu bemerken. Ihr Zug fährt in die Gegenrichtung: von der Wissenschaft zur Utopie. In dieses Nirgendwo weist auch das Reden von den Visionen.

Wer auf diesen beharrt, hatte seit der Bundestagswahl vom 24. September 2017 ziemlich viel Zeit, um zu erklären, was darunter zu verstehen sei. Bisher kam da nichts, außer dem Verweis auf Digitalisierung und Globalisierung. In deren Nennung sind die medialen Kommentator(innen) mit den von ihnen gescholtenen Politiker(inne)n einig, denen (und zugleich implizit sich selber) sie Ideenlosigkeit vorwerfen.

In Wirklichkeit geht es gar nicht um Visionen und Utopien, sondern um konkrete Optionen, die durchaus bekannt sind, die aber aus Gründen der politischen Opportunität verdrängt werden.

Halten wir uns zunächst an den Gemeinplatz Digitalisierung. Sie kann entweder zur Senkung der Arbeitszeit mit Lohnausgleich aufgrund ständiger Steigerung der Produktivität genutzt werden oder zur Beseitigung von Jobs. Die erste Variante hat kaum eine Chance, mit der zweiten wird gedroht.

Globalisierung wird oft als Naturereignis missverstanden, dem durch völlige Entfesselung der Märkte und gegenseitiges Niederkonkurrieren entsprochen werden muss, oder als Herausforderung zu einer fairen internationalen Arbeitsteilung und Lenkung finanzieller Ressourcen durch Kapitalverkehrskontrollen. Auf die zweite Option ist längst ATTAC verfallen, allerdings bisher ohne Erfolg.

Diese zwei Beispiele zeigen, dass es gar nicht an vernünftigen Ideen fehlt. Es ist eine Sache der politischen Durchsetzbarkeit.

Hierfür gleich ein drittes Exempel: Als ein US-Präsident 2009 eine Welt ohne Atomwaffen vorschlug, mochte man das eine Vision nennen. Sie war aber keine Geisterseherei, sondern man konnte sich eine – von Obama dann nicht weiterverfolgte – Strategie darunter vorstellen. 2007 wurde die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) gegründet, 2017 erhielt sie den Friedensnobelpreis. ICAN unterstützte eine Resolution der Vereinten Nationen für einen Vertrag zum völkerrechtlichen Verbot von Atomwaffen. 122 Länder stimmten 2017 dafür, nicht aber die Bundesrepublik Deutschland, die Mitglied einer nuklear bewehrten Allianz, der NATO, ist.

Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien fanden Massenunterstützung für eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten. Als Martin Schulz Anfang 2017 sich nur ein wenig in ähnlichem Sinn räusperte, löste er einen Hype aus. Nachdem er Angst vor der eigenen Courage bekommen hatte, stürzte er ab.

Der französische Ökonom Thomas Piketty schlug einen sorgfältig begründeten Plan für eine Schließung der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich vor, darunter eine Bürgerversicherung und eine Vermögenssteuer. Als er Letztere 2014 dem deutschen Wirtschaftsminister Gabriel vorschlug, bekam der vor Schreck einen Schluckauf.

Schon 1999 hatte Jörg Huffschmid in seinem Buch zur politischen Ökonomie der Finanzmärkte eine europäische Regulierung vorgeschlagen. Es ist längst vergriffen und totgeschwiegen.

Dies alles sind keine Visionen, sondern konkrete Projekte.

Da offensichtlich nicht sein darf, was aus Gründen der ökonomischen und politischen Machtverhältnisse nicht sein kann, bleiben die Plädoyers für Erneuerung der Parteien Gaukelei. Mit ihnen verbinden sich allenfalls Forderungen nach einer Art Mitmachdemokratie zwecks Einleitung eines Generationswechsels. Von den Chefs der Jungen Union und der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialist(inn)en in der SPD sind keine Vorstellungen bekannt, die von denen ihrer Altvorderen abweichen. Vielleicht ist das auch gut so. Es könnte auch noch schlimmer kommen.