Eine Welterklärung, die bleibt

Zum Tod von Immanuel Wallerstein

Die Ideenwelt großer Denker überlebt ihren körperlichen Tod. Daran ist nichts Neues, ganze Bibliotheken, Gedenktafeln und Namensnennungen sind materielle Manifestationen dieses menschlichen Vermögens, auf einmal Gedachtem, Erklärtem und Erarbeitetem aufbauen zu können und die Schöpfer der Grundlagen im kollektiven Gedächtnis zu behalten. Immanuel Wallersteins Werk wird es genau so ergehen. Diese Prophezeiung birgt kein Risiko.

Als Sohn deutsch-jüdischer Eltern, die in den 1920er-Jahren von Berlin in die USA auswanderten, kam Immanuel am 28. September 1930 in New York auf die Welt. Ein Monat vor seinem 89. Geburtstag verstarb er in der Nähe seines letzten Arbeitsplatzes als Professor Emeritus an der Universität Yale.

Wallerstein hatte das intellektuelle Format, die Welt als Ganzes zu denken. Nicht, dass er jeden Erdwinkel bereist oder über jede Gemeinschaft etwas gelesen hätte, obwohl in beiderlei Hinsicht weit mehr als die allermeisten Zeitgenossen. Er erkannte jedoch den Zusammenhang von Entwicklungen, die andere vor ihm als getrennte betrachtet hatten. Sein Opus Magnum, das vierbändige Werk „Das Moderne Weltsystem“, gibt bereits im Titel darüber Auskunft, worum es ihm geht: um das Systemische, mit dem er die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus in all ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Facetten erklärt. Zu dieser umfassenden Sicht verholfen hat ihm seine vielfältige Ausbildung als Soziologe, Philosoph, Historiker, Politikwissenschaftler und Afrikanist. Wie niemandem sonst ist es ihm gelungen, die Entstehung von Kapitalherrschaft als einen Prozess zu beschreiben, der nicht allein aus der Krise des westeuropäischen Feudalismus im 15. Jahrhundert und nu r durch diesen endogenen Faktor erklärt werden kann. Vielmehr benennt er die Ein- und Unterordnung außereuropäischer Regionen in die fortschreitende internationale Arbeitsteilung als ebenso konstitutiv für diese menschheitsgeschichtliche Transformation.

Die Herausbildung ökonomischer Zentralräume hängt für ihn notwendiger Weise mit der Peripherisierung von strukturschwachen Regionen zusammen, die damit von ersteren abhängig werden. Dieses Zentrum-Peripherie-Modell, das Wallerstein noch mit der Untergliederung in Semiperipherien ergänzt, ist für Generationen von kapitalismuskritischen Menschen zu einer Selbstverständlichkeit geworden, um das Weltsystem mit seinen regionalen Disparitäten und sozialen Ungleichheiten verstehen zu können. Wallerstein verband die philosophische Erkenntnis der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem (Ernst Bloch) mit den realen wirtschaftlichen Verhältnissen, die auf Ausbeutungsstrukturen beruhen.

Gleichwohl bleiben Gegner dieser Analyse zahlreich. Insbesondere modernisierungstheoretische Ansätze, seien sie neoklassich oder marxistisch, bedienen einen kapitalismusapologetischen bzw. einen kapitalismus-kritischen Diskurs, der den Zusammenhang im Entwicklungsprozess von Zentralräumen und Peripherien negiert. Wallerstein stellte die Existenz dieses Zusammenhangs immer wieder eindrucksvoll unter Beweis.

Der Siegeszug des Liberalismus

Im vierten Band seines „Modernen Weltsystems“ legt Wallerstein die geistigen und ideologischen Grundlagen der Globalisierung offen und weist der Französischen Revolution diesbezüglich eine wesentliche historische Rolle zu. Auch verknüpft er darin seinen ökonomischen Blick auf die (Fehl)-Entwicklungen der Welt mit sozio-kulturellen Erkenntnissen. Er stellt die Frage, wie das Zeitalter der aufblühenden Kapitalakkumulation im Liberalismus eine ideologische Basis fand, die im 16. Jahrhundert in den Anfängen kapitalistischer Landwirtschaft, noch nicht vorhanden war. Und er findet Epochales. Denn mit der Aufhebung der alten Ordnung durch die Französische Revolution war nicht nur der Monarch überflüssig geworden. Auch die Gottgewolltheit sozialer Unterschiede, mit der bis dahin jede Klassenanalyse verunmöglicht wurde, stand auf dem gesellschaftlichen Prüfstand. Die neue Frage lautete: Wie wird in Zukunft Ungleichheit erklärt und legitimiert wer den können, wenn sie nicht mehr von Gott gegeben ist? Dazu bedurfte es der Herausbildung von Ideologien und letztlich des „Siegeszuges des zentristischen Liberalismus“, dem es gelang, seine Gegenpole „Konservativismus“ und „Radikalismus“ zu zähmen und sie in weitere Ausprägungsformen des zentristischen Liberalismus zu verwandeln. Im Zentrum der Weltwirtschaft, so Wallerstein, entstanden „liberale Staaten“, deren Staatsbürgerschaften von einschließenden in ausschließende verwandelt wurden. Und dann entwickelten sich „die historischen Sozialwissenschaften als Widerspiegelungen liberaler Ideologie und als Methoden, mit denen die dominierenden Gruppen die dominierten Schichten beherrschen konnten“.

So wie Wallerstein die Grundlagen der kapitalistischen Weltherrschaft historisch nachgezeichnet hat, widmete er sich in den letzten Lebensjahren vermehrt der aktuellen Politik. In einem eigenen Blog, der in mehreren Sprachen erschien, kommentierte er aktuelle Ereignisse von der US-Politik im Nahen Osten über das Russland-Bashing bis zur großen Auseinandersetzung zwischen Washington und Peking. Mit seinem fünfhundersten Blog-Beitrag beendete er vor wenigen Monaten mit Hinweis auf sein Alter diese Art der Intervention.

Lehrer für Generationen

Noch als Student lernte der Autor den Weltsystem-Theoretiker Immanuel Wallerstein kennen, als dieser gemeinsam mit Andre Gunder Frank, Silviu Brucan, Fernando Cardoso und anderen einem Wanderzirkus gleich durch Europa zog und unter dem Label der UN-University friedenspolitische und antiimperialistische Seminare abhielt. Es war ein kalter Wintertag in den 1980er Jahren, als sich Wallerstein auf Anfrage bereit erklärte, seinen mürrischen Kollegen Andre Gunder Frank aufzurütteln und gemeinsam für ein ausführliches Gespräch zur Verfügung zu stehen. Die „Friedensburg“ Schlaining unter ihrem damaligen Direktor Gerald Mader gab den Rahmen dafür ab.

Als Lehrer war Wallerstein auf allen Kontinenten tätig. An der University of Binghamton im US-Bundesstaat New York emeritierte er nach über 30 Jahren und leitete zugleich das Fernand Braudel-Center, benannt nach dem französischen Historiker. Mit dem Gründer der Annales-Schule war er auch in Paris verbunden und arbeitete dort an der École des Hautes Études en Sciences Sociales.

Gemeinsam mit einer Reihe von Forschern rollte Wallerstein mit dependenztheoretischen und weltsystemischen Konzepten den wissenschaftlichen Diskurs von der Peripherie her auf. Seine Herkunft als weißer US-Amerikaner hinderte ihn nicht, Afrika zum Bezugspunkt zu machen, während Samir Amins Arbeiten auch in die arabische Welt ausstrahlten und Andre Gunder Frank in Lateinamerika zu Hause war. Im Gegensatz zu seinen engen wissenschaftlichen Kollegen, mit denen er in ungezählten Diskussionsbänden und über die Zeitschrift „Review“ teils heftig diskutierte, nahm Wallerstein nie beratende oder direkte politische Funktionen an. Samir Amir versuchte sich Anfang der 1960er-Jahre als Berater des Planungsministeriums im antikolonialen Aufbruch in Mali, Andre Gunder Frank beriet Anfang der 1970er-Jahre Salvador Allende in Agrarfragen und später türkische und chinesische Stellen, Silviu Brucan war Anfang der 1960er-Jahre Botschafter Rumäniens bei den Vereinten Nationen unter Gheorghe Gheorghiu-Dej und im Jahr 1989 im sechsköpfigen Revolutionskomitee für das Todesurteil von Nicolae und Elena Ceausescu mitverantwortlich, und Fernando Enrique Cardoso bekleidete zwischen 1995 und 2003 das Amt des brasilianischen Präsidenten. Man sieht also, dass ein dependenztheoretisches bzw. weltsystemisches intellektuelles Rüstzeug auch für höchste – und höchst unterschiedliche – Ämter geeignet ist. Immanuel Wallerstein hingegen blieb seiner Profession als Forscher und Lehrer treu. Seinen Platz im Kreise großer Denker wird er als Mitbegründer der Weltsystem-Theorie einnehmen.

Wallersteins Opus magnum, seine vier Bände zum modernen Weltsystem, sind im Promedia Verlag erschienen.

Hannes Hofbauer lebt in Wien, ist seit Gründung von Lunapark21 in der LP21-Redaktion und als Geschäftsführer der Lunapark21 GmbH aktiv. Er ist Autor und Verleger und leitet den Promedia-Verlag.