DER TARTUFFE

KAPITAL UND IDEOLOGIE – eine Inszenierung in Dresden

spezial 1: kapital, reichtumsakkumulation & ideologie

Am 2. Oktober 2021 wird am Staatsschauspiel Dresden meine Inszenierung mit dem sperrigen Titel „Der Tartuffe von Soeren Voima nach Molière und Kapital und Ideologie nach Thomas Piketty“ Premiere haben – niedrige Corona-Fallzahlen vorausgesetzt.

Mit Tartuffe hat Molière einen demagogischen Antihelden geschaffen, dem es gelingt, die bislang halbwegs intakte bürgerliche Familie von Orgon zu zerstören, indem er Orgon und dessen Mutter davon überzeugt, sich einer neuen Ideologie anzuschließen. In Molières Zeiten waren es die Auswüchse der Religion, die das Sozialgefüge der Gesellschaft beeinflussten und in neue Bahnen lenkten. Heute ist es die Ideologie der Ungleichheit, die unsere Gesellschaft prägt. Seit ungefähr 1980 ist es weltweit zu einem Siegeszug neoliberaler Ideologien gekommen, die bestehende Sozialsysteme attackieren. Vermögenssteuern wurden gesenkt oder abgeschafft, die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat zu einer Spaltung der Gesellschaften geführt, praktisch in allen Teilen der Welt. Dies geschieht mit dem Versprechen, dass der zunehmende Reichtum der oberen ein bis zehn Prozent zum Wohlstand für alle führt.

Der französische Ökonom Thomas Piketty schreibt in „Kapital und Ideologie“ dazu: „Der weltweite Wiederanstieg der sozio-ökonomischen Ungleichheiten gehört zu den destruktivsten strukturellen Veränderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind… Es gibt bei den Reichsten eine Einkommens- und Vermögenskonzentration, die offensichtlich außer Kontrolle geraten ist.“

Die Aktualisierung

Gemeinsam mit dem Autor Christian Tschirner (Pseudonym: Soeren Voima) haben wir, der Dramaturg Jörg Bochow, die Ausstatterinnen Cary Gayler und Carola Reuther und ich, eine Überschreibung von Molières „Tartuffe“ vorgenommen, welche die Handlung in die nahe Vergangenheit und Gegenwart verlegt. In unserer Lesart lässt sich mit der Familie von Orgon eine ganze Gesellschaft von Tartuffe überzeugen, Ungleichheit als einzigen Weg zu Prosperität zu akzeptieren. In einem Epilog und kontrapunktisch zum Handlungsgeschehen laden die Thesen Thomas Pikettys, die von den Schauspielerinnen und Schauspielern spielerisch vorgetragen werden, zum anschließenden Diskurs ein. Im letzten Teil der Inszenierung unternehmen wir den Versuch, den Kern des Piketty-Werks in einer halben Stunde zu performen.

80er-Jahre-Stillstand und 90er-Jahre-Aufbruch

1. Akt Ein Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs. Orgon befindet sich in der Klemme zwischen den Forderungen des Marktes und seinen menschlichen Regungen. Er ist ein aufsteigender SPD-Kommunalpolitiker und gemeinsam mit seiner Mutter Pernelle Erbe von Papas Haus. Sein familiärer Auftrag ist, das gemeinsame Erbe, welches er in Form einer großen WG mitbewohnt, zu verwalten und zu mehren. Das gestaltet sich in den 80er Jahren als schwierig, da die Befreundeten und Bekannten alle entweder pleite sind oder es aus politischen Gründen ablehnen, für das Wohnen zu zahlen. In dieser verzweifelten Situation kommt ihm sein Studienfreund Tartuffe aus Chile, den er an der Chicagoer Wirtschaftsuni kennengelernt hat, zu Hilfe. Auf dem Höhepunkt des Miet-Konflikts erklärt der neue WG-Mitbewohner mit den schillernden Theorien des Akzellerationismus, dass der Kapitalismus nur durch absolute Affirmation zu überwinden sei. Da kommt Orgon die Geschichte zu Hilfe: Die Mauer fällt, das ideologische Konkurrenzsystem des Kapitalismus bricht zusammen.

2. Akt In den 90er Jahren gelingt es Orgon zunehmend, eine Zahlungsmoral in seinem Haus zu etablieren – wie seine Partei SPD verändert sich auch er. Konsequent unterstützt Tartuffe Orgon, die WG-Bewohnenden gegeneinander auszuspielen. Sie führen im Haus durch einen explodierenden Kachelofen einen Schockzustand herbei, was die Bewohnerschaft in zwei Lager spaltet. Nun kann Tartuffe Orgon überreden, das Haus in Appartements zu teilen, und diese an die Einzelnen aus der Ex-WG zunächst zu vermieten und dann zu verkaufen. Da diese kein Kapital haben, bietet Tartuffe günstige Kredite einer Bank von einem gewissen „Herrn Lehmann“ an. Orgon, durch die Machtübernahme von Rot-Grün enorm motiviert, steht zum ersten Mal auf Seiten der Gewinner.

Gier, Gegenwart und Ungleichheit

3. Akt Tartuffe überredet Orgon und seine Mutter, aus dem gewonnenen Kleinkapital richtig viel Geld zu machen. Er verkauft seinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern US-Subprime-Kredite und entfacht eine allgemeine Geld-Euphorie. Orgon verfällt dem Größenwahn und den Drogen, möchte nun sogar in die Bundespolitik. Als seine Freundin Elmire Tartuffe zu einem Interview bittet, und Orgon das Gespräch belauscht, kommt heraus, dass Tartuffe auf das Fallen der Kurse der faulen Aktienpakete gewettet hat. Die Immobilienblase ist geplatzt, Orgon und Pernelles Aktienpakete sind wertlos, zudem wird ihre Hypothek fällig. Die ehemaligen WG-Leute werden arbeitslos oder ihr Business geht baden. Tartuffe bekommt alle Wohnungen überschrieben. Er hat es geschafft, sich alles von allen anzueignen.

4. Akt Orgon fällt – wie seine Partei und die Hausbewohnerinnen und Hausbewohner – ins Bodenlose. Obdachlos und aus dem eigenen Haus verstoßen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine letzte Chance wahrzunehmen: als Mitspieler in einer von Tartuffe initierten, zynischen Realityshow – „Der dümmste Mieter“.

Tartuffe startet von einer Luxus-Kommandobrücke aus eine „Selbstoptimierungs-Challenge“ um das letzte, verbliebene Zimmer, während er sich selber als Gott des Geldes und Antidemokrat inszeniert. In diesem darwinistischen Treiben steht plötzlich die Tochter von Elmire, ein achtjähriges Mädchen, vor dem Haus. Sie behauptet, Tartuffe sei ihr Vater, und bringt sich als zukünftige Erbin ins Spiel. Tartuffe verweist höhnisch darauf, dass er ja noch lange zu leben habe. Und gibt damit einen Hinweis, wie man das Problem der Ungleichheit lösen könnte…

Der Epilog

Im Epilog steigen die Schauspielerinnen und Schauspieler aus ihren Rollen aus, und in die Theorie von Piketty ein. Den Figuren im Stück ist es gelungen, Tartuffe zu beseitigen. Das Böse verschwindet bei uns im leeren Aufzugsschacht. Das gibt´s aber nur im Theater. In der Wirklichkeit bleibt alles, wie es ist: Tartuffe lebt weiter. Ein paar wenige werden immer reicher. Die Mehrheit wird ärmer. Um das zu ändern, muss also systemisch gedacht werden. Piketty erklärt es mit den Ideologien.

Pikettys Hauptthese lautet: Die Ungleichheit ist keine wirtschaftliche oder technologische, sie ist eine ideologische und politische Ungleichheit. Markt und Wettbewerb, Gewinn und Lohn, Kapital und Schulden – all das sind soziale und historische Konstruktionen, die von Rechts-, Steuer-, Bildungs- und Politiksystemen abhängig sind – und von den Begriffen, die man sich davon macht. Jede Gesellschaft beantwortet die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und einer gerechten Wirtschaft mit anderen Vorstellungen. Es kommt in der Geschichte also ganz entscheidend auf Ideen und Ideologien an. Gesellschaften sind somit Konstruktionen, die auf diesen Erzählungen basieren. Ihre Ungleichheiten sind nicht naturgegeben, sondern gemacht. Das heißt im Umkehrschluss: Es sind immer auch andere Gesellschaften möglich. Ideologien sind veränderbar, Ungleichheit ist veränderbar. Es waren vor allem soziale oder politische Mobilisierungen und konkrete Versuche, die historische Veränd erungen möglich machten. Das beweist die Geschichte der Ungleichheitsregime.

Deshalb widmen wir uns am Ende vor allem dem vielleicht spannendsten Teil von Pikettys Buch: seinen Vorschlägen, wie man Ungleichheit verringern kann. Wenn man den Kapitalismus überwinden möchte, ist nach Piketty die Frage nach gerechtem Eigentum zentral. Der erste Grundpfeiler zur Überwindung des Kapitalismus und der Kapitalkonzentration wäre eine bessere Machtverteilung in Unternehmen, so dass gesellschaftliches Kapitaleigentum geschaffen werden kann. Die Arbeitnehmervertretungen in Verwaltungsräten sind heute letztlich machtlos: Bei Stimmengleichheit geben die Stimmen der Aktionäre den Ausschlag. Wenn die Beschäftigten aber mehr Geld zur Verfügung hätten, – etwa durch progressive Besteuerung – könnten sie Aktien ihrer Unternehmen erwerben, um damit die Stimmenmehrheit zu kippen. Wenn man dann noch für die gewichtigsten Aktionäre größerer Unternehmen ein Höchststimmrecht einführen würde, wären die Bedingungen dafür g eschaffen, die Macht von Kapitaleignern zu beschneiden.

Progressive Steuersysteme und Kapitaleigentum auf Zeit

Ein zweiter Grundpfeiler besteht in progressiven Steuersystemen. Die Jahre zwischen 1950 und 1980 haben – bei wirtschaftlich historisch hohen Wachstumssraten – gezeigt, dass die progressive Besteuerung von Erbschaften und Einkommen ein wirksames Instrument dafür ist, maßlose Eigentumskonzentrationen aufzulösen. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass diese beiden Steuern nicht ausreichen, und deshalb um eine jährliche progressive Vermögenssteuer ergänzt werden sollten. Das gilt vor allem für die größten Vermögen. Denn das steuerrelevante Einkommen der Superreichen macht heute nur einen unbedeutenden Teil des Vermögens aus, während sich der Großteil des ökonomischen Einkommens in Familienholdings oder Zweckgesellschaften anhäuft. Die Beschränkung auf die Anwendung der progressiven Einkommensteuer führt daher fast automatisch dazu, dass die größten Vermögenseigentümer lächerlich geringe Steuern zahlen, die in keinem Verh ältnis zu ihrem Reichtum stehen.

Es geht Piketty darum, am Sockel der Verteilungshierarchie, ganz unten, mehr Eigentum zu schaffen, und seine Konzentration an der Spitze, bei den Reichsten, zu begrenzen. Das Prinzip des Kapitaleigentums auf Zeit ist dabei eine radikal neue Sichtweise auf die Eigentumsverhältnisse.

Durch Besteuerung von Erbschaften und Vermögen wird Kapital lediglich als temporärer Besitz definiert und eine Zirkulation der Güter ermöglicht. Damit auch die ärmsten 50 Prozent Vermögenswerte bilden und am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, ist zum Beispiel die Kapitalausstattung für alle jungen Erwachsenen ein spektakulärer Vorschlag. Finanziert durch eine progressive Steuer auf Privateigentum, würde jede und jeder mit 25 Jahren ein Startkapital von 120.000 Euro erhalten. Eigentum könnte so zirkulieren und temporär werden.

Auswege aus der Ungleichheit

Piketty skizziert in „Kapital und Ideologie“ noch mehr Auswege aus der Ungleichheit. Er empfiehlt die Übertragung der europäischen Steuerhohheit auf eine neu zu gründende europäische Versammlung, die dann gemeinschaftliche Steuern auf Körperschaften, hohe Einkommen, große Vermögen und CO2 erhöbe. Das würde den ruinösen Steuer-Unterbietungswettbewerb in der EU beenden. Die massive Steuer- und Kapitalflucht, vor allem aus ärmeren Ländern, könnte durch das globale Verbot von Offshore-Steueroasen und „exit-tax“-Regelungen für Unternehmen, die inländisch produzieren, aber im Ausland gering oder kaum versteuern, unterbunden werden.

All diesen Maßnahmen liegt die Vorstellung zugrunde, dass Eigentum eine soziale Beziehung ist. Die Idee, es gäbe strikt privates Eigentum und ein naturwüchsiges Anrecht bestimmter Personen auf bestimmte Güter, wird radikal in Frage gestellt. Akkumulation von Gütern ist stets Frucht eines sozialen Prozesses. Sie zehrt von öffentlichen Infrastrukturen, von sozialer Arbeitsteilung und von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Deshalb ist es folgerichtig, dass Eigentum nicht mehr dauerhaft gebunden bleibt, sondern zu temporärem Eigentum wird.

Mobilisierung und Veränderung

Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte, das Versagen der neoliberalen Ideologie ist nicht mehr zu leugnen. Piketty weist darauf hin, dass sich die Menschen durch das Verstehen historischer Zusammenhänge das ökonomische und historische Wissen zurückerobern können. Denn die Mobilisierung der Bevölkerung in Fragen der Ungleichheit und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen darüber, was gerecht ist, sind von entscheidender Bedeutung für gerechtere Gesellschaften. Gesellschaftlicher Druck von unten und in der Folge systemische Veränderung können nur erzeugt werden, wenn das Wissen um die Geschichte der Ungleichheit und ihrer Veränderungsmöglichkeiten zu einem mehrheitlichen Glauben an Veränderung, zu kollektivem Aufbegehren und zu einem breiten Bewusstseinswandel führen. Die Geschichte der Ungleichheit illustriert, wie schnell Veränderungen vonstattengehen, und welch unterschiedliche Richtungen sie nehmen können, und dass es keine p er se egalitäre oder inegalitäre Kultur gibt, sondern einfach kontroverse soziopolitische Wege.

Wenn wir das System „Tartuffe“ loswerden wollen, müssen wir jetzt damit anfangen, diese neuen Wege zu gehen.

Volker Lösch gilt als einer der wichtigsten politischen Theatermacher der Gegenwart und hat bisher mehr als 100 Inszenierungen realisiert. In seinen Arbeiten bringt er häufig Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen mit professionellen Darstellerinnen und Darstellern zusammen. Im Musiktheater inszenierte er zuletzt Beethovens »Fidelio« am Theater Bonn, verknüpft mit Geschichten von politischen Gefangenen in der Türkei. Seine letzte Schauspiel-Inszenierung fand mit »Volksfeind for Future« am Düsseldorfer Schauspielhaus statt, eine Überschreibung von Ibsens »Volksfeind«, mit einer Kritik des E-Pkw-Hypes und unter Hinzufügung von Interviews mit Klima-Aktiven.