Der Istanbul Kanal

Traum des Präsidenten

Seit Jahrtausenden dient der Bosporus, die durch Istanbul führende Meerenge, der Schifffahrt als Durchgangsroute zwischen Schwarzem Meer und dem Marmarameer. Drum herum wuchs Istanbul zu einer 16 Millionen Einwohner zählenden Metropole heran. Die Stadt ist ein Drehkreuz zwischen Nord- und Süd zu Wasser und zwischen Asien und Europa zu Land.

Pläne für den Bau einer parallel zum Bosporus verlaufenden Wasserstraße gab es immer wieder. Verschiedene Herrscher des osmanischen Reichs studierten diese Idee in den Jahrhunderten zwischen 1500 und 1900. Doch ständig wurde sie verworfen. 2011 holte der damalige Premierminister und heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdo ˘ gan die Idee aus der Versenkung. Was den osmanischen Emiren zu risikoreich schien, ist für deren selbst ernannten Nachfolger gerade richtig. Auch wenn Erdo ˘ gan selber von einem „verrückten Projekt“ spricht, das aber durchaus positiv meint.

Dem „verrückten“ Projekt liegt eine kapitalistische Wachstumslogik zugrunde. Alles wird immer größer, massiver, wuchtiger. Vor allem die Frachtschiffe und Öltanker, deren 45.000 jedes Jahr den Bosporus durchqueren. Doch der Bosporus hat viele Kurven. Den Schiffsbesatzungen verlangt er einiges navigatorisches Geschick ab. Immer wieder kommt es zu Unfällen und Zusammenstößen. 1994 gab es eine regelrechte Katastrophe, als ein Tanker mit einem Frachter kollidierte und 20.000 Tonnen Rohöl vor Istanbul ergossen. Aufgrund damals beschlossener Reformen kommt es heute zu langen Wartezeiten für Gefahrguttransporte. Der neue Kanal, sollte er fertig gebaut werden, soll das ändern und somit helfen, den derzeit an vielen Ecken und Enden stockenden Welthandel zu beschleunigen. Soweit die Idee von Erdo ˘ gan und seiner AKP-Regierung.

Ob die Rechnung aufgeht, ist umstritten. In den letzten Jahren ist der Schiffsverkehr durch den Bosporus um 43 Prozent zurückgegangen. Die Gründe sind vielfältig – größere Schiffe, Rückgang der Ölreserven, oder auch die geänderte Geostrategie wichtiger Spieler wie zum Beispiel Russland. Der dem Projekt zugrunde liegende Umweltverträglichkeitsbericht geht dennoch davon aus, dass sich die Zahl der jährlich durchfahrenden Schiffe bis zum Jahr 2070 auf 86.000 erhöhen wird.

Doch es geht hier nicht nur um den Bau einer Wasserstraße, so gigantisch diese mit einem durch die Arbeiten anfallenden Aushub von 1,2 Milliarden Kubikmetern Erdreich auch sein mag. Denn bei der Grundsteinlegung für das Projekt im Juni dieses Jahres ging es um den Baubeginn einer achtspurigen Autobahnbrücke, die den Kanal nach seiner Fertigstellung überqueren soll. Insgesamt sechs solcher Brücken sind geplant, sie alle verbinden den Kanal bei Fertigstellung mit transnationalen Autobahnen. Eine Schnellbahnverbindung soll es ebenfalls geben. Hinzu kommt ein neues Güterterminal in direkter Nähe zum Flughafen Istanbul. Auch dieser Flughafen ist ein von Erdo ˘ gan protegiertes riesiges Infrastrukturprojekt. Hier zeigt sich, dass der Kanal einer Verknüpfung verschiedener Verkehrswege zu Wasser, zu Lande und in der Luft dienen soll. Die Rolle Istanbuls als Knotenpunkt globaler Lieferketten soll gestärkt werden.

Neue Großstädteim Erdbebengebiet

Wo derartige Knotenpunkte entstehen, ist das Baukapital nicht weit. Nicht weniger als zwei neue Großstädte für zwischen 500.000 und einer Million Einwohner sollen entlang der geplanten Route errichtet werden. Dafür müssen ganze Ortschaften und die in ihnen lebenden Kleinbauern weichen. Historisch betrachtet ist das Umland von Istanbul unter anderem für die Zucht von Wasserbüffeln bekannt. Die Tiere schätzen das großflächige Weideland. Damit wäre es für immer vorbei, würde das Projekt wie geplant realisiert. Schon jetzt sind die Weideflächen drastisch reduziert. Der Bau des Flughafens Istanbul hat bereits einen großen Teil vernichtet.

Dabei fällt nicht ins Gewicht, dass ein Masterplan aus dem Jahr 2009 die Bebauung der nördlich von Istanbul gelegenen Gegenden aus Gründen des Erdbebenschutzes verbietet. Laut Regierungspropaganda werden die neuen Großstädte erdbebensicher gebaut. Man wird sehen. Schon jetzt gibt es aber Proteste aus der Istanbuler Stadtverwaltung: Mit dem Geld für die Riesenprojekte könne man ganz Istanbul erdbebensicher machen. Ein offenes Ohr findet Istanbuls zur kemalistischen Oppositionspartei CHP gehörender Bürgermeister Ekrem Ímamo ˘ glu damit aber nicht. Über allem hängt der Geruch der Vetternwirtschaft. Denn neben Großinvestoren aus Kuwait, Saudi Arabien und Katar hat auch Erdo ˘ gans Schwiegersohn und türkischer Finanzminister Berat Albayrak Land entlang der Kanalroute aufgekauft.

Nicht nur wegen des Verlustes der Weideflächen laufen Umweltschützer seit Jahren gegen den geplanten Kanal Sturm. Sie befürchten nichts weniger als das Kippen des Marmarameeres, wenn dereinst Schmutzwasser aus dem schwarzen Meer dorthin fließt. Ein ganzes Meer, so die große Angst, könnte dann zu einer lebensfeindlichen Zone werden. Schon jetzt ist das Marmarameer durch Abwässer und Industrieabfälle belastet. Auch gegen die geplante Abholzung der letzten Waldbestände im Großraum Istanbuls protestieren die Umweltschützer. 200.000 Bäume sollen den Baumaßnahmen geopfert werden.

Wasserversorgung gefährdet

Für Unmut sorgt außerdem die Gefährdung der Trinkwasserversorgung der Millionenmetropole Istanbul. Diese kann nur aufgrund bestehender gigantischer Infrastrukturen aufrecht erhalten werden. Eine solche Infrastruktur ist der Sazlıdere-Stausee. Er soll durch den Istanbul-Kanal durchbohrt werden. 20 Prozent des für Istanbul bestimmten Trinkwassers könnten dadurch verloren gehen. Als Ersatz ist laut Informationen der „Deutschen Welle“ der Bau eines neuen Stausees 200 Kilometer östlich von Istanbul geplant. Viele Einwohner befürchten dadurch aber eine Verteuerung der Wasserpreise. Kein Wunder, dass 80 Prozent der Istanbuler:innen gegen den neuen Kanal sind.* Unter der gesamten türkischen Bevölkerung lehnen 49 Prozent den Kanal ab. Wenn Erdo ˘ gan durch sein Megaprojekt die Bevölkerung hinter sich vereinen will, ist ihm das bislang nur unzureichend gelungen.

Unter türkischen Eliten sorgt der Istanbul-Kanal für Verwerfungen. Im April 2021 wandten sich 103 pensionierte Admiräle an die Öffentlichkeit. Sie befürchten, dass Erdo ˘ gan mit dem Bau des Istanbul-Kanals den Vertrag von Montreux aufkündigen möchte. Zehn von ihnen wanderten dafür ins Gefängnis. Der Vorwurf der Regierung lautete, die Admiräle hätten geplant, die „verfassungsmäßige Ordnung“ beseitigen zu wollen.

Der Vertrag von Montreux wurde 1936 geschlossen und regelt die Durchfahrt durch den Bosporus. Die Türkei ist darin verpflichtet, Handelsschiffen die freie Durchfahrt zu garantieren. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF-Deutsch soll Erdo ˘ gan bei Fertigstellung des Istanbul-Kanals die Sperrung des Bosporus für Tankschiffe planen und den Vertrag für Montreux somit aushebeln. Der Istanbul-Kanal soll für alle Schiffe kostenpflichtig werden, quasi eine Art Maut-Schnellstraße auf See. Kriegsschiffen von Mächten, die keine Anrainerstaaten entlang der Schwarzmeerküste sind, legt der Vertrag Restriktionen auf. Es könnte sein, dass diese für den Istanbul-Kanal nicht mehr gelten sollen. Das würde die ohnehin schon politisch labile Schwarzmeerregion weiter destabilisieren – etwa wenn US-amerikanische Flottenverbände den Istanbul-Kanal nutzen wollen.

Christian Bunke lebt in Wien. Er betreut die Rubrik „Ort & Zeit“.

* https://www.internethaber.com/mak-danismanliktan-olay-kanal-istanbul-anketi-yuzde-80-destek-vermedi-2122954h.ht