Da ist die fehlende Weltsolidarität zu nennen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bislang 80 Prozent aller Corona-Impfungen in Ländern mit hohen und mittleren Einkommen erfolgt. Noch kein einziges armes Land hat eine Impfrate von zehn Prozent erreicht. Die westlichen Regierungen betätigen sich als Interessenvertretung der jeweils nationalen Pharma-Industrie. Patente werden nicht freigegeben und explodierende Pharma-Profite als Standort-Stärke interpretiert.
Eine Zero-Covid-Politik wurde in Europa, in Nordamerika und in Russland nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Null-Covid-Politik in China wird kurzschlüssig als „autoritär“ verworfen; die entsprechende Politik in einem Dutzend westlich orientierter Staaten wurde solange weitgehend ignoriert, bis sie als Ergebnis von Isolation und neu entstandenen Virus-Mutanten kollabierte. Letzteres wird schadenfroh kommentiert.1
Die Eindämmung der Pandemie erfolgte willkürlich mit Jojo-Lockdowns und sich widersprechenden Maßnahmen: strikte Auflagen in Restaurants und öffentlichen Verkehrsmitteln, aber Fußballstadien mit Zehntausenden ohne Maske und Abstand. Die Arbeitswelt, insoweit Home-Office nicht stattfinden kann, wird bei Corona-Schutzmaßnahmen fast durchweg ausgeklammert. Dabei ergaben Stichproben, dass es sich hier oft um Hotspots handelt. Stichworte: Fleischindustrie, Baustellen, Logistik-Zentren.
Was passierte 2020 in den von der Pandemie besonders heimgesuchten Altenheimen? Deutlich zu wenig. Entsprechend gab es dort 2021 erneut mehrere Hundert Corona-Todesfälle.2 Trotz der dramatischen Erfahrungen in der ersten Corona-Welle in den Krankenhäusern wurden 2020 weitere 20 Krankenhäuser geschlossen; aktuell sind 30 Kliniken von Schließung bedroht. Die Zahl der Intensivbetten wurde deutlich reduziert, vor allem weil Tausende Klinikbeschäftigte ihren Job an den Nagel hängen. Im Frühjahr 2020 wurde beklagt, dass die Gesundheitsämter personell völlig unzureichend ausgestattet seien. Wurde seither das Personal aufgestockt? Antwort: So gut wie nicht. Erneut ist es so, dass die Gesundheitsämter ab einer bestimmten Inzidenz die Neuinfektionen nicht mehr verfolgen können.
Es gab bislang unvorstellbar hohe finanzielle Unterstützungsleistungen – für die großen Unternehmen. Damit verglichen sickerte nur ein Rinnsal an staatlichen Hilfen in die Bereiche Handwerk, Kneipen und Kultur mit ihren Hunderttausenden Kleinexistenzen. Die Impfkampagne wurde ohne einen Gesamtplan und ohne eine zentrale Werbekampagne geführt. Seit Sommer sind Dutzende Impfzentren geschlossen. Dabei will man jetzt plötzlich 30 Millionen Booster-Impfungen durchführen und setzt darauf, dass 20 Millionen Menschen, die sich bislang weigerten, sich impfen zu lassen, als Resultat der Impfpflicht-Drohung die Ärmel hochkrempeln.
Im Zeitraum Frühsommer bis Anfang Dezember 2021 waren alle Parteien, die für den Bundestag kandidierten, damit beschäftigt, Covid-19 kleinzureden und der Bevölkerung zu versichern, es werde nie und nimmer eine Impfpflicht geben. Das primäre Ziel dabei war, bei den Wahlen gut abzuschneiden. Damit nahm man den unnötigen Tod Tausender Menschen in Kauf (siehe Seite 8).
Schließlich gab es keine organisierte, medial wirksame Antwort auf die tausendfachen Fake News der Corona-Leugner. Ja, man bereitete der Ellbogengesellschaft auf vielfältige Weise den Boden: so durch eigene Ignoranz („Masken nutzen nichts!“), mit einem Zickzack-Kurs und mit der genannten, völlig unzureichenden finanziellen Absicherung der im besonderer Weise von den Corona-Maßnahmen betroffenen Kleinexistenzen.
Nicht zuletzt ist zu nennen: Es gelang zu keinem Zeitpunkt, die im Prinzip bestehenden wissenschaftlichen Einsichten in Sachen Pandemie in einer allgemein als Autorität anerkannten Institution zu bündeln und dafür die geeigneten medialen Mittel bereitzustellen. Das ist auf Weltebene der Fall: Die WHO ist faktisch abgetaucht – und in erheblichem Maß von Pharma-Riesen und problematischen Großspendern gekapert.3 In Deutschland gab es in der ersten Phase Ansätze, die deutlich machten, wie wichtig eine solche autoritative Stimme wäre. Das RKI und ihr Präsident spielten hier eine wichtige Rolle. Doch dieser Vertrauensvorsprung wurde bald durch den beschriebenen Zickzack-Kurs der Politik verspielt. Das RKI setzte dem kaum etwas entgegen – was aufgrund der Abhängigkeit des Instituts vom Gesundheitsminister auch kaum möglich war.
Womit ich bei den drei zentralen Gründen bin, die hinter dieser fatalen Gesamtbilanz stehen.
Zunächst einmal ist hier der Charakter der Pandemie zu nennen. Die tausendfach wiederholten Formulierungen „Das Virus kennt keine Grenzen“ und „Corona trifft Arm und Reich“ sind falsch. Die Pandemie hat eine deutlich soziale Seite. Sie trifft überwiegend die finanziell Schwachen, die prekär und die in engen Wohnverhältnissen Lebenden und die zur Arbeit mit viel direkten zwischenmenschlichen Kontakten Gezwungenen. Im Frühjahr 2021 ergab eine Untersuchung in Köln, dass die Inzidenz in den Vierteln der Reichen bei Null und in den Bezirken der Armen bei 700 lag.4 Wenn das so ist – was sollte dann die Herrschenden zu einer wirksamen Pandemie-Politik veranlassen, zumal es keinen Druck von unten gibt und Linke ebenso wie Gewerkschaften sich um das Thema so gut wie nicht kümmern?
Die zweite Ursache. Wirksame Pandemie-Bekämpfung und überzeugende Aufklärungsarbeit für eine solche Politik setzen die kollektive, öffentlich organisierte und auf der Basis von offenem Wissensaustausch basierende Zusammenarbeit voraus. Das ist jedoch das Gegenteil von den Grundsätzen, die in der kapitalistischen Gesellschaft Ton und Takt angeben: Konkurrenz, Ellbogen-Mentalität und darwinistische Grundhaltung.
Die dritte Ursache: Das Covid-19-Virus ist nicht irgendeine neue Krankheit, die einfach weggeimpft werden kann. Ihre Wurzeln haben viel zu tun mit der immer weiter gesteigerten Globalisierung, mit der Zurückdrängung von Natur und Wildtierwelt, mit der Massentierhaltung und mit Zoonose, dem Überspringen von Infektionskrankheiten, die bei Wirbeltieren natürlicherweise vorkommen, auf Menschen. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die Wildtiermärkte in China zu erwähnen, sondern auch die Nerzfarmen in Dänemark, Polen, in den Niederlanden und Spanien, in denen 2020 mehr als 15 Millionen Tiere gekeult werden mussten, weil sie sich als Covid-19-Virenträger erwiesen und weil sich Dutzende Beschäftigte in den Nerzfarmen infizierten.
Und nein, ich kenne kein Patentrezept, wie man im gegebenen Stadium die Pandemie bekämpfen muss. Karl Lauterbach wird sich nicht als Heilsbringer erweisen, auch wenn mit ihm deutlich mehr Kompetenz und Offenheit ins Gesundheitsministerium einkehrt. Sicher ist, dass eine wirksame Pandemiebekämpfung mit der Selbst-organisation der Menschen (wofür Gewerkschaften ein wichtiges Medium wären), mit Solidarität von unten, und mit einem grundsätzlich internationalen Ansatz verbunden sein muss. Und dass letzten Endes das bestehende Wirtschaftsmodell durch ein völlig anderes, auf Dezentralität, Planung und Zusammenarbeit basierendes, ersetzt werden muss. Anderenfalls wird Pandemie auf Pandemie folgen und eine Mutante die andere jagen – und dies in immer kürzeren Zyklen. Was dann für die Pharma-Konzerne ein Traum und für die Menschheit der Alptraum wäre.
Anmerkungen:
1 In der „Süddeutschen Zeitung“ (25.8.2021) fand sich die folgende Logik: „4,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner gibt es in Neuseeland, Deutschland hat im Vergleich 38,7. Diese erschreckend niedrige Zahl und die niedrige Impfquote führen dazu, dass der Null-Covid-Kurs […] momentan alternativlos ist.“ Die Tatsache, dass es auch Anfang Dezember 2021 in Neuseeland nur 25 Corona-Tote gab, dass es bezogen auf 100.000 Menschen nur 0,9 Corona-Tote sind, in Deutschland jedoch mit 122, exakt 135 Mal mehr, wird nicht erwähnt.
2 Hannelore Crolly und Freia Peters, Die Rückehr des Alptraums, in: Die Welt vom 4.11.2021.
3 Dieser Charakter der WHO muss offen analysiert werden – um einen Weg zurück zu einer autoritativen Institution zu finden. Dieser muss darin bestehen, dass die WHO in Gänze durch öffentliche Gelder und nicht mehr durch Zuwendungen der Pharma-Konzerne finanziert wird. Diese Analyse ist auch wichtig, um dem Geraune über Bill Gates und Zwangsimpfungen den Boden zu entziehen.
4 Am 27. April 2021 lag die Inzidenz in Köln als Durchschnittswert bei 240. Es gab eine Null-Inzidenz in Köln Fühlingen und Hahnwald und eine 700er-Inzidenz in Köln Libur.