„Wir retten euch – wer rettet uns?“

Streik gegen Berliner Krankenhauskonzerne

Der vermutlich längste und heftigste Krankenhausstreik Deutschlands ging Ende Oktober 2021 in Berlin zu Ende. Seit dem 9. September 2021 streikten die Beschäftigten Pflegekräfte von Charité, Vivantes und den Tochtergesellschaften.

Der Streik endete mit dem Sieg der Beschäftigten. Sie gewannen deshalb, weil sie sich über die Konzerne, die Berufsgruppen und Standorte hinweg nicht auseinanderdividieren ließen, sondern solidarisch blieben. Die Er-fahrung des Zusammenhaltes und der Solidarität wissen sie auch für die Zukunft zu nutzen. „Der Kampf war hart, aber er hat sich gelohnt“, schrieb das Bündnis Gesundheit statt Profite. Die Krankenhausbewegung hat mit ihrem Sieg Geschichte geschrieben.

Situation der Krankenpflege

Gesundheits- und Krankenpfleger sind noch typische Frauenberufe. Im Jahr 2020 waren – laut Bundesanstalt für Arbeit -– 80 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Krankenpflege Frauen.

Krankenschwestern protestierten schon vor der Pandemie gegen den Personalmangel, blieben aber ungehört. Durch die Pandemie hat sich die Belastung um ein Vielfaches verstärkt; das Pflegepersonal arbeitet am Limit. Schuld daran, dass das Gesundheitswesen direkt auf eine Katastrophe zusteuert, ist die falsche Politik der letzten Jahre. Auch während der Pandemiewellen wurden Stellen abgebaut und Kliniken zugesperrt. Das erhöhte den Arbeitsdruck. Für wichtige Patientengespräche bleibt keine Zeit. Viele Pflegekräfte haben sich bei der Arbeit infiziert, etliche starben daran. In der Zwischenzeit gab es viele Kündigungen, weil die physischen und psychischen Dauerbelastungen nicht mehr zu stemmen sind.

„Wir wollen endlich mal wieder pflegen, statt nur den Dienst zu überleben!“, schrieben Pflegekräfte der Charité bereits 2015 beim ersten erfolgreichen Streik für mehr Personal, auf ihre Transparente. Damals kämpften die Frauen gegen die Einführung des Fallpauschalensystems, mit dem festgelegt wurde, wieviel Geld das Krankenhaus für eine bestimmte Leistung bekommt. Dadurch verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen, Pflegepersonal wurde aus Kostengründen abgebaut. Ein Berliner Arbeitsrichter legitimierte den Streik damals so: „Die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers endet dort, wo der Gesundheitsschutz der Beschäftigten anfängt.“ Der 2015 erstrittene Entlastungstarifvertrag ließ der Klinikleitung jedoch zu viel Spielraum, die Personalbesetzung ohne größere Konsequenzen zu unterschreiten.

Unerhörte Krankenschwestern

Sechs Jahre später wurde in Berlins Krankenhäusern erneut protestiert. Im Mai 2021 hatten die Beschäftigten der zwei großen Krankenhäuser Charité und der Vivantes-Tochtergesellschaften ein 100-Tage-Ultimatum an die Konzerne gestellt. Sie forderten einen Tarifvertrag zur Entlastung des Personals und die Bezahlung aller Beschäftigten nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Am 12. Mai startete die Berliner Krankenhausbewegung mit einer großen Demonstration vor dem Roten Rathaus in die Tarifauseinandersetzung. 63 Prozent der Belegschaft stand hinter ihnen. Rot-rot-grüne Politiker:innen und viele andere solidarisierten sich. In allen Stationen wurden Forderungsdiskussionen geführt, die am 9. Juli im Stadion der Alten Försterei zusammengetragen wurden.

Nachdem das Ultimatum ergebnislos verstrichen war, traf man sich vom 20. bis 22. August zum Soli-Camp am Urban-Klinikum in Kreuzberg; der dreitägige Warnstreik begann. Die Arbeitgeber ließen Verhandlungstermine platzen und starteten Einschüchterungsversuche gegen einzelne Aktive. Eine Einigung blieb aus. In einer Urabstimmung votierten fast 100 Prozent der Beschäftigten für einen unbefristeten Erzwingungsstreik.

Am 9. September war es so weit: Sechs Wochen lang haben sich bis zu 2000 Krankenschwestern der landeseigenen beiden größten Krankenhauskonzerne in Berlin Charité und Vivantes und den Vivantes-Tochterunternehmen selbst ermächtigt: „Wir haben genug! Wir streiken!“ und zwar unbefristet. Das gemeinsame Vorgehen und die vielen Unterstützenden machten ihnen Mut, bei ihren Forderungen zu bleiben. Während des Streiks zogen sie vor das Berliner Abgeordnetenhaus und vor die SPD-Zentrale, riefen zu Demonstrationen auf und zu einer Großdemo am 9. Oktober am Hermannplatz unter dem Motto: „Wir retten euch – wer rettet uns?“ Diejenigen, die dort sprachen, waren fast alle auf verschiedenen Plätzen der bestreikten Krankenhäuser tätig. Sie sprachen nicht als Bittstellerinnen, sondern als Kämpfende für ihre Rechte und die ihrer Kolleg:innen. Es gelang ihnen, Bündnispartner:innen aus allen Bevölkerungskreisen zusammenzuhalten.

Während die Beschäftigten für ihre Ziele kämpften, erreichten sie täglich Solidaritätsschreiben aus dem ganzen Land. Tausende erklärten ihren Beitritt zur Gewerkschaft und schlossen sich den Aktionen an. Vor allem aber erkannte die große Mehrheit der Patient:innen und der Berliner Bevölkerung, dass der Streik auch ihre Angelegenheit ist. Dazu verhalfen die klaren Forderungen und die Tatsache, dass alle Verhandlungen und Gespräche für alle Beschäftigten transparent geführt wurden. Unbefristete Arbeitsniederlegung und Beharrlichkeit erwiesen sich als die Mittel, das Anliegen zum Erfolg zu bringen.

Aufgrund des politischen Drucks suchten die Krankenhausleitungen nach zehn Tagen das Gespräch. Zunächst um den Streikenden mitzuteilen, dass sie erst mit ihnen reden würden, wenn sie den Streik beenden. Sie hofften, die Einheit der Beschäftigten durch getrennte Verhandlungen, verschiedene Tarife, Schlichtungen und Aussetzen der Streiks zu schwächen und zu unterlaufen. Aber selbst die Hoffnung, dass die Vivantes-Beschäftigten nach einem Abschluss an der Charité allein weiterkämpfen müssen und ihnen die Kraft ausgehen würde, den gleichen Tarifvertrag durchzusetzen, bestätigte sich nicht. Als die Pflegekräfte der beiden Unternehmen sich am 12. Oktober bereits auf Eckpunkte für einen Entlastungstarifvertrag der Pflegebeschäftigten geeinigt hatten, streikten sie weiter, bis auch die Forderungen der Töchterunternehmen und damit sämtliche Forderungen durchgesetzt waren.

Solidarisch erfolgreich

Nach 30 Streiktagen an der Charité, 35 bei Vivantes und 43 bei den „Töchtern“, konnte am 29. Oktober, nach den Erfolgen bei Charité und Vivantes, ein Eckpunktepapier für die Tochterunternehmen durch die Gewerkschaft ver.di und Vivantes unterzeichnet werden, durch das entscheidende Verbesserungen – insbesondere in den unteren Lohngruppen – erkämpft waren. Der Erfolg konnte erzielt werden, weil die Solidarität zwischen den Belegschaften der verschiedenen Krankenhäuser und den Menschen aus den sozialen Bewegungen die Politik und die Klinikleitungen zum Handeln brachten.

Das unterstrich auch die Gewerkschaftsfunktionärin Silvia Bühler: „Erzielen konnten wir dieses gute Ergebnis nur, weil die Beschäftigten mit großer Entschlossenheit und Ausdauer gekämpft haben“. Die noch immer viel zu dünne Personaldecke in den Krankenhäusern sei gefährlich für PatientInnen und gefährde die Gesundheit der Beschäftigten. 

Die dünne Personaldecke wird nicht so schnell dicker werden. In dem wochenlangen Arbeitskampf sind die Mitarbeitenden über die Konzerne, Standorte und Berufsgruppen hinweg zusammengewachsen. Sie haben gelernt: Kämpfen lohnt sich, vor allem wenn man zusammensteht. Diese Erkenntnisse werden sie auch in Zukunft zu nutzen wissen.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin. Sie schreibt zu Themen wie Feminismus, Familismus, Alternative Ökonomie, Geschichte der Arbeiter(innen)bewegung etc. Zuletzt erschienen: Genossenschaften. Geschichte, Aktualität und Renaissance, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2021