10 Downing Street

Wahrzeichen des britischen Exzeptionalismus

Wer etwas über die Geschichte der Number 10, des Amtssitzes britischer Premiers, lernen möchte, der findet sich vielleicht auf der offiziellen Homepage ebenjener Regierung wieder. Dort ist von der Tendenz zum Understatement, welches den Menschen auf den britischen Inseln gerne nachgesagt wird, wenig zu spüren. Es wird geklotzt, nicht gekleckert. „10 Downing Street, der Sitz der britischen Premiers seit 1735, konkurriert mit dem Weißen Haus als das wichtigste politische Gebäude der Welt in der Neuzeit. Hinter seiner schwarzen Tür wurden in den letzten 275 Jahren die wichtigsten Entscheidungen getroffen, die Großbritannien betreffen“, schreibt der Historiker Sir Anthony Seldon.

Das wichtigste politische Gebäude der Neuzeit also, nur durch das Weiße Haus in Washington übertroffen, und auch das nur vielleicht, man konkurriert um den Alphastatus auf der Welt. Da können Berlin und Paris einpacken, Beijing und Moskau erst recht. Dafür steht es aber recht bescheiden da, es zeigt seine Macht nicht offen. Wieder Sir Anthony: „Das Gebäude ist viel größer, als es von der Fassade her scheint.“ Da ist er doch wieder, ein Schatten des Understatements.

Regierungssitze, ihre Geschichte, ihre Positionierung im Gesamtgebilde der Hauptstadt sowie die Erzählungen, die um sie ranken – all dies ist Teil des Mythos, den die herrschenden Klassen einer Nation beziehungsweise eines Staates über sich selbst erzählen möchten. Die 10 Downing Street bildet da keine Ausnahme.

Sie ist ein Wahrzeichen des britischen Exzeptionalismus. Dieser Exzeptionalismus prägt den britischen Nationalismus, wie er schon im Kindergarten eingeimpft wird, wie er in den Schulen gelehrt und an den Universitäten verfeinert wird. Er gibt den Rahmen vor, in dem britische Politikerinnen und Politiker über ihren Staat und dessen Geschichte sprechen, und die Haltung, die von Celebrities ihrer Nation gegenüber erwartet wird.

Legenden und patriotische Mythen

Kern dieses Exzeptionalismus ist, wie so oft, eine Legende: Es ist das Märchen von Großbritannien als dem Land, welches der Welt die Demokratie und die moderne Zivilisation geschenkt hat. Großbritannien ist es demnach zu verdanken, dass es in Indien überhaupt Eisenbahnen gibt. Ohne den britischen Kolonialismus , ohne Militärs und britische Politik wären die USA heute nicht die USA. Großbritannien war der offiziellen Staatserzählung nach die einzige Demokratie, die sich in Europa erfolgreich gegen die deutschen Nazis und Hitler gestellt hat. Das Vereinigte Königreich und dessen Kaufleute haben sich laut dieser Legende nicht etwa am Sklavenhandel des 17., 18. und 19. Jahrhunderts bereichert. Nein, es war das britische Parlament, welches den Sklavenhandel abgeschafft hat. Großbritannien ist laut Erzählung außerdem die ewig-währende Speerspitze der Ingenieurskunst. Der britische „Genius“ hat die Welt bereichert, mit Dampfmaschinen und Computern. Der weiße Mann, der inzwischen in der Downing Street auch eine Frau sein kann, hat Verantwortung in der Welt, und kein anderes Land wird dieser Verantwortung derart mutig, entschlossen und kühn gerecht, wie Großbritannien. Ein Land, das deshalb – zum eigenen Schutz, versteht sich – Atomwaffen benötigt.

Über die Kolonialgeschichte Großbritanniens, den damit einhergehenden Massenmord, die Folter, die systematische Niederschlagung zahlreicher Widerstandsbewegungen, oder, um ein Beispiel zu nennen: die bewusste Inkaufnahme einer Hungersnot in der langjährigen Kolonie Irland mit einer Million Toten und zwei Millionen ins Exil Getriebenen – über all dies wird bis heute in britischen Schulen nicht unterrichtet. Als der sozialdemokratische Linkspolitiker Jeremy Corbyn, der sich selbst zeitweise Hoffnungen auf einen Einzug in die Nr. 10 machte, in sein 2019er Wahlprogramm den Vorschlag hineinschreiben ließ, man könne ja auch die negativen Seiten des britischen Empire im Schulunterricht beleuchten, schlug ihm eine Welle der Empörung entgegen. Corbyn wurde günstigstenfalls mangelnder Patriotismus vorgeworfen. Konservative Massenmedien unterstellten ihm auch Landesverrat.

Vorbild Churchill

Jeder Mythos braucht Heldinnen und Helden. Und so wird gerne die Geschichte von Sir Winston Churchill erzählt, der den Bombenhagel der deutschen Luftwaffe in den Räumlichkeiten der Number 10 überdauerte, dort sogar währenddessen Gäste empfing, und dies gegen den erklärten Willen seines Mitarbeiterstabs. Ein machtvolles Bild, an dem sich derzeit nicht zuletzt auch der ukrainische Präsident Selenskyi orientiert. Weniger gern wird erzählt, dass es Churchill war, der im Jahr 1919 Giftgasangriffe auf von der Roten Armee kontrollierte Ortschaften in Nordrussland durchführen ließ, der auch Giftgaseinsätze gegen „unzivilisierte Stämme“ befürwortete, der den italienischen Faschistenführer Mussolini verehrte und der nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf das untergegangene Deutsche Reich die Meinung vertrat: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.“

Churchill wird seither gerne kopiert. Als Anfang April 1982 die zu diesem Zeitpunkt noch frische konservative Premierministerin Margaret Thatcher die britische Marine gen Argentinien schickte, um die dort gelegenen Falkland-Inseln zurückzuerobern, verbrachte auch sie den 74 Tage andauernden Krieg im Alarmzustand in der Downing Street Cynthia Crawford, Thatchers Sekretärin zum damaligen Zeitpunkt, erinnert sich in ihren Memoiren daran, dass Thatcher während der ganzen Zeit „nicht ein einziges Mal“ die Arbeitskleidung ausgezogen habe, um jederzeit an militärischen Briefings teilnehmen zu können. Nie mehr habe sie so intensiv gelebt wie zu jener Zeit, schrieb Thatcher in ihrer Autobiografie „The Downing Street Years“. Hinter der patriotischen Performance lag Kalkül. Thatcher nutzte den Falkland-Krieg, um die britische Bevölkerung nationalistisch aufzuheizen. So wurde der ideologische Boden bereitet, mit dem sie in den kommenden Jahren ihr neoliberales Privatisierungsprogramm und ihren Bürgerkrieg gegen die kämpfenden Teile der Gewerkschaftsbewegung, allen voran die Bergleute, durchführen konnte.

Ära des Niedergangs

Seither sind Jahrzehnte ins Land gegangen. Jahrzehnte, in denen das Vereinigte Königreich ein anderes geworden ist. In gewisser Weise bilden die Regierungschefs Churchill und Thatcher eine gute Klammer, um diese Veränderung abzubilden. Sie repräsentieren Stufen im fortwährenden wirtschaftlichen und politischen Abschwung des Britischen Empire. Churchill repräsentiert den Übergang von der Kolonialmacht zur europäischen Mittelmacht, Thatcher den Versuch der autoritären Lösung der inneren Krise, den dieser Niedergang ausgelöst hat. Aus der Sicht der feudalen und bürgerlichen Klassen Großbritanniens ist das Vorhaben, linke und proletarische soziale Bewegungen in Großbritannien um Jahrzehnte zurückzuwerfen, ohne dafür auf eine offen faschistische Diktatur zurückgreifen zu müssen, zwar gelungen. Der Niedergang des Vereinigten Königreichs aber konnte nicht abgewendet werden. Im Gegenteil hat sich dieser Prozess seither beschleunigt.

Der 10 Downing Street kommt eben dadurch eine historisierende Rolle zu. In den späten 1950er Jahren wurde das Gebäude aufgrund seiner Baufälligkeit beinahe aufgegeben. Doch es war Premierminister Harold Macmillan, ebenfalls ein Tory, der die Sanierung und Rekonstruktion des Regierungssitzes beschloss. Dabei mussten große Teile der Inneneinrichtung ausgetauscht und detailgetreu nachgebildet werden. Die Totalsanierung dauerte zwei Jahre, kostete die damals horrende Summe von drei Millionen Pfund (eingeplant waren ursprünglich 400.000 Pfund), und litt unter nicht weniger als 14 Bauarbeiter-Streiks, die aber leider die Fertigstellung der Sanierung nicht verhindern konnten.

Macmillan sah die Sanierung als wichtiges politisches Projekt. Seiner Auffassung nach hatte sich die Number 10 über die Jahrhunderte ihrer Existenz zu einem „ikonischen Staatsgebäude“ entwickelt, wie auch das Parlamentsgebäude von Westminster und der Buckingham Palace. Die Sanierung erfüllte somit einen patriotischen Zweck, um die Autorität des Staates in der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten. Das Empire ist zwar seit langem gestorben, und auch in den verbliebenen Überresten des Commonwealth wird darüber nachgedacht, sich der Autorität des britischen Königshauses als Staatsoberhaupt zu entledigen. Da soll doch wenigstens der symbolische Glanz des Empire in der Hauptstadt London am Leben erhalten werden, auch wenn es kostet.

Party-Tiger in der Downing Street

Um die Autorität des Staates ist es auf der britischen Hauptinsel ohnehin schlecht bestellt. Daran hatte auch Boris Johnson, der Vorgänger von Elizabeth Truss, seinen Anteil. Während der Covid-19-Pandemie erließ seine Regierung teils Notstandsgesetze, die selbst kleinste Zusammenkünfte unter freiem Himmel unter Strafe stellten. Die Polizei tyrannisierte Jugendliche und verteilte Geldstrafen in Höhe von bis zu 10.000 Pfund, unter anderem gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern, die an Kundgebungen gegen die desolaten Zustände im kaputt-gesparten Gesundheitswesen teilnahmen.

Währenddessen ging es in 10 Downing Street hoch her. Es wurden so genannte „Bring Your Own Booze-Parties“ organisiert, zu deutsch: Bring dein eigenes Bier. Nur wurde kein Bier gesoffen, sondern teurer Wein und Schampus, der extra von Lieferdiensten vor die schwarze Haustüre des Regierungssitzes gekarrt wurde. Und wenn das Personal schon feiert, dann muss natürlich auch der Boss sein Gesicht zeigen. So entstanden Bilder von Premierminister Boris Johnson, wie er mit Finanzminister Rishi Sunak und anderen hochrangigen Politikerinnen und Politikern auf der zum St. James Park hingewandten Gartenterrasse fröhlich chillte. Es sei doch selbstverständlich, dass man mal Dampf ablassen müsse, soll Johnson später als Verteidigung angegeben haben. Die Polizei ermittelte. Johnson wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Er wurde damit zum bislang einzigen vorbestraften amtierenden Premier in Number 10.

Es sind diese Partys, mit denen Johnson in Erinnerung bleiben wird. Das ist nicht ohne Ironie. Johnson ist ein bekennender Verehrer Churchills und ein Churchill-Experte. Er hat eine Biographie über ihn verfasst. Seine Blitzbesuche in der Ukraine, die auch Straßenspaziergänge durch das von Luftangriffen bedrohte Kiew beinhalteten, verwendeten absichtlich eine an Churchill angelehnte Bildsprache. Und doch hat Johnson im entscheidenden Moment wesentliche Lehren Churchills und auch Thatchers vergessen. Wo letztere streng darauf achtete, in Krisensituationen wie dem Falkland-Krieg „auf ihrem Posten“ in 10 Downing Street zu stehen, und auch von der Öffentlichkeit so wahrgenommen zu werden, verwandelte Johnson den Regierungssitz inmitten der größten Weltkrise der vergangenen Jahrzehnte in sein privates Partyreich.

Eine weitere Frau, die Zeit ihres Lebens im Dienst der herrschenden britischen Klasse „auf ihrem Posten“ gestanden ist, ist Elizabeth Windsor. Nachrufe betonen, wie ernst die verstorbene Queen ihre Pflichten genommen habe, immer mit einem kritischen Blick auf das politische Personal im Vereinigten Königreich, dem diese Ernsthaftigkeit in den vergangenen Jahren zunehmend abhanden gekommen ist. Mit dem Tod der Queen ist ein letzter Stabilitätsanker des britischen Staatswesens weggebrochen. Und weder im Buckingham Palace noch in der Downing Street ist derzeit adäquater Ersatz erkennbar.

Auch ikonische Staatsgebäude 10 können ihre patriotische Rolle nur erfüllen, wenn es Personen gibt, die die Erzählung mit Leben zu füllen wissen.

Christan Bunke schreibt seit knapp zehn Jahren die Rubrik „Ort und Zeit“ in Lunapark21.