Die Rückwärtsfalle

Warum in der Energiekrise die Frage nach der Transformation des Energiesektors entscheidend ist

Eigentlich wollte Robert Habeck Klimaschutzminister werden. Endlich das vereinen, was in der deutschen Politik traditionell im Konflikt miteinander zu stehen schien: Wirtschaft und Klima. Dem Bundesministerium für Wirtschaft verpasste er mit Amtseintritt ein großes K für Klimaschutz: BMWK.

Seine Berufung zum Wirtschafts- und Klimaschutzminister war jedoch keinesfalls als Abschied von der ressourcenfressenden Wachstumsideologie gedacht. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt sollte lediglich grüner werden. Mehr Tempo bei der Energiewende, ein beherztes Klimaschutzprogramm, deutliche Reduktion der Treibhausgas-Emissionen; das wurde von Minister Habeck erwartet. Das größte Hindernis schien zunächst der kleinere Koalitionspartner zu sein: die FDP, die Klimaschutz nur gut findet, solange er nicht die Komfortzone ihrer Klientel berührt.

Doch dann kam der 24. Februar. Der Angriff Putins auf die Ukraine stürzte ganz Europa und vor allem Deutschland mit seiner Abhängigkeit von russischem Gas in die größte Krise nach dem Zweiten Weltkrieg.

Niemand möchte mit Habeck tauschen

Seitdem reist der Wirtschaftsminister durch die Welt auf der Suche nach neuen Erdgaslieferanten. Kniefall vor Despoten und dreckiges Fracking-Gas – egal, Hauptsache Deutschland kommt an seinen Stoff. Das große K im Wirtschaftsministerium steht längst nicht mehr für Klimaschutz, sondern für Krise. Wenn Habeck Deutschland nun aufruft, es müsse seine „Bräsigkeit und Schlafmützigkeit“ abwerfen, dann geht es ihm weniger um den Ausbau von Windkraft und Solarenergie als um den zügigen Einsatz von LNG-Terminals. Dass Flüssiggas aufgrund der Produktionsprozesse und Transporte um ein Vielfaches klimaschädlicher ist als Pipeline-Gas, nimmt er in Kauf. Keine Frage: Niemand möchte in diesen Zeiten mit dem Wirtschaftsminister tauschen. Er ist getrieben von den Sorgen und Nöten in der Bevölkerung, dem drohenden Wohlstandsverlust, der Angst vor dem Zusammenbruch der Wirtschaft und nicht zuletzt auch von der Opposition, die sich mitunter in den eigenen Kabinettsreihen aufhält.

Energiewende ist entscheidender Resilienzfaktor

„Die Energiewende ist gescheitert!“, zetern CDU, CSU und FDP unisono in die Krise hinein und fordern die Rückkehr zur Atomkraft. Ein Ablenkungsmanöver. Haben sie den Ausbau der Erneuerbaren und den Umbau des Energiesektors in den vergangenen Jahren nicht konsequent torpediert? Dass die Erneuerbaren dennoch mittlerweile einen Anteil von über 50 Prozent im deutschen Strommix haben, ist kein Verdienst der Politik. Es ist die Ratio derer, die erkannt haben, dass Investitionen in Fossile und Atomkraft im Gegensatz zu Erneuerbaren weder lukrativ noch zukunftsfähig sind.

Die Konzepte zu 100-Prozent-Erneuerbar liegen längst auf dem Tisch. Die Idee ist richtig und alternativlos, doch die Regierungen in Bund und Ländern bremsten die Energiewende konsequent aus. Das Ergebnis der fossil- und atomfreundlichen Politik im Zusammenspiel von Union und SPD ist eine ruinierte deutsche Solarindustrie und Zehntausende vernichteter Arbeitsplätze in der Solar- und Windkraftbranche. Solardeckel, Ausbaustopp und ein kompliziertes Ausschreibungssystem führten dazu, dass die Energiewende hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Auch Deutschlands Abhängigkeit von russischen Brennstoffen geht auf das Konto der GroKo. Die Gier nach billigem Gas, Kohle, Öl und Uran aus Russland war groß genug, um die chronisch gewordenen Konflikte und Russlands Geostrategie zu ignorieren.

Der Vorwurf, die Energiewende sei mit ursächlich für das Ausmaß der Energiekrise, ist geradezu grotesk. Das Gegenteil ist der Fall: Die Transformation des fossil-atomaren Energiesektors hin zu einem dezentralen und bedarfsgesteuerten System auf Basis von Erneuerbaren Energiequellen ist ein entscheidender Resilienzfaktor. Das gilt genauso für die Reduktion von CO2-Emissionen und die Bewältigung der Klimakatastrophe, wie auch für den Abbau von bedenklichen Abhängigkeiten in der Versorgungssicherheit. Putins Gashahn hätte weitaus weniger Wirkkraft, wenn Deutschland die Energiewende in den vergangenen Jahren forciert statt blockiert hätte. Somit ist die Energiekrise auch das traurige Vermächtnis der Ära Merkel.

Der Strompreis ist politisch

Während Wladimir Putin den Gashahn immer weiter zudreht und täglich vier Millionen Kubikmeter Erdgas lieber abfackelt, als es nach Europa zu verkaufen, droht der europäische Strommarkt angesichts von Preisexplosionen zu kollabieren. Der Strompreis ist im Vergleich zum Durchschnittswert der vergangenen zehn Jahre um etwa 1000 Prozent gestiegen.

Nicht nur die Gaskrise treibt die Preise in die Höhe, sondern auch die Situation in Frankreich. Dort steht seit Monaten etwa die halbe Atomreaktorflotte still. Der Grund sind Schäden, Sicherheitsüberprüfungen und der Klimawandel. Bei anhaltender Hitze mussten einige Atomanlagen runtergefahren werden, weil die Pegel in den angrenzenden Flüssen zur Kühlung der Reaktoren nicht mehr ausreichten. Frankreich deckt etwa 70 Prozent seines Energiebedarfs mit Atomstrom und ist seit Januar dieses Jahres auf Stromimporte insbesondere aus Deutschland angewiesen.

Auch in Norwegen und im Alpenraum wirkt sich die Dürre auf die Wasserkraft-Kapazitäten und somit auf den Energieexport in die europäischen Nachbarländer aus. Klimakatastrophe und Energiekrise kommen zusammen, und aktuell ist unabsehbar, wann sich die Lage entspannen wird.

Habecks hastig entworfene Gasumlagen, die den systemrelevanten Importeuren Liquidität verschaffen und damit den nachgelagerten Energieversorgern existenstenzbedrohende Lieferausfälle ersparen sollen, werden nicht reichen. Das Konzept ist weder zielgenau noch sozial verträglich gestaltet. Gelingt es Europa nicht, den Strompreis zügig mit politischen Mitteln zu senken, ist es eine Frage der Zeit, bis die Industrie unter der Last zusammenbricht.

Politische Hebel gäbe es, denn der europäische Strompreis bildet sich nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip, wonach das teuerste Kraftwerk den Preis für alle anderen vorgibt. Das beschert etwa aktuell den Betreibern von Windkraft- oder Solaranlagen, die günstig Strom produzieren können, horrende Gewinne. Das gilt leider auch für längst abgeschriebene CO2-Schleudern – alte Kohlekraftwerke, die mit geringem Wirkungsgrad Braunkohle verbrennen, etwa im Rheinischen Revier und in der Lausitz. Die fossilen Dinosaurier erheben sich noch einmal, und mit Hilfe des Kraftwerksbereithaltegesetzes können sogar stillgelegte Kohleschleudern wiederauferstehen. Die Energiekrise ist entsprechend nicht nur physisch mit einer Gasmangellage erklärbar, sie ist erheblich auch eine Frage der Marktregulierung.

Zwei Krisen – eine Lösung

Energie- und Klimakrise sollten nicht getrennt betrachtet werden, sie müssen gleichzeitig angegangen werden. An diesem Anspruch muss sich sowohl der Wirtschafts- und Klimaschutzminister messen lassen als auch die gesamte Ampel-Koalition. Ein reflexartiges Zurückrutschen ins fossil-atomare Energiezeitalter löst weder die eine noch die andere Krise. Die Bundesregierung muss endlich massiv in den zukunftsgerechten Umbau des Energiesektors und in Energiesparmaßnahmen investieren. Das führt nicht nur zu einer schnellen Reduktion der Treibhausgasemissionen, sondern ermöglicht auch Energieunabhängigkeit und damit Versorgungssicherheit. Die Maßnahmenpakete der Bundesregierung, die akut nötig sind, sollten gleichzeitig auch die Weichen für eine klimagerechte Zukunft stellen. Das Neun-Euro-Ticket ist das Paradebeispiel: Das günstige ÖPNV-Ticket bietet den Haushalten nicht nur einen Ausgleich für gestiegene Energiekosten in der Krise, es setzt zugleich einen Impuls für die längst fällige Mobilitätswende. Eine Anschlusslösung für das Drei-Monats-Versuchsprojekt sollte nicht an Unstimmigkeiten in der Ampel-Regierung scheitern.

Angela Wolff lebt in Flensburg und schreibt regelmäßig Artikel zu energiepolitischen Themen. Sie war Campaignerin bei der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt und ist aktuell als Referentin für Atompolitik beim BUND in Berlin.