„Auf die Inhalte kommt es an“

quartalslüge III/MMXXI

Der 2021er Bundestagswahlkampf war geprägt von Personen: drei Mal das Triell Olaf Scholz – Annalena Baerbock – Armin Laschet. Scholz wurde von Millionen als Schlaftablette aus den Elblanden, Laschet als Lacher aus dem Hochwassergebiet und Baerbock als Lebenslauf-Manipulatorin und Buch-Plagiatorin gesehen. Im Vorfeld des eigentlichen Wahlkampfs hatte es dann in zwei der drei Lager primär persönlich gefärbte Konkurrenzkämpfe gegeben. Die politischen Differenzen in den Debatten – und erst recht bei einem Blick auf die Wahlplakate – erschienen eher gering, zumal nach dem Juli-Hochwasser sich auch Scholz und Laschet als engagierte Bekämpfer des Klimawandels präsentierten.

Alle Parteien betonten, dass nicht Personen, sondern die Inhalte entscheidend seien: Letzten Endes würden die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Wahl darüber entscheiden, was in den Partei- und vor allem in den Wahlprogrammen festgehalten sei.

Die Aussage „Auf die Inhalte kommt es an“, dürfte sich jedoch auch im Herbst 2021 in vielen Punkten als Quartalslüge entpuppen. Dafür spricht ein Blick auf den Abgleich zwischen den Versprechungen und der tatsächlichen Politik im letzten halben Jahrhundert in der Bundesrepublik Deutschland. In der Tabelle haben wir die Versprechen der jeweiligen Regierungsparteien respektive der jeweiligen Kanzler Kurt-Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und der Kanzlerin Angela Merkel der tatsächlichen Politik in den entsprechenden Amtsperioden gegenübergestellt.

Der Sponti-Spruch „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten“ ist sicher in dieser Form nicht zutreffend. Nicht umsonst sind Wahlen in offenen Diktaturen verboten bzw. sie werden als Scheinwahlen abgehalten. Es ist also durchaus von „politisch-klimatischer“ Bedeutung, ob die SPD mit Olaf Scholz oder die CDU/CSU mit Armin Laschet den Kanzler stellt. Was sich dann noch konkretisiert, wenn es um die Farben der nach dem 26. September eingegangenen Koalition geht. Andererseits sind die Brüche von zentralen Versprechen vorausgegangener Regierungen (oder das Nicht-Einhalten der mit der Wahl der entsprechenden Regierungsparteien verbundenen Erwartungen der Wählerinnen und Wähler) eklatant. So konnte sich kaum jemand, der 1998 die SPD mit dem späteren Kanzler Gerhard Schröder oder die Grünen mit dem späteren Außenminister Josef Fischer wählte, vorstellen, dass Rot-Grün wenige Monate nach der Bundestagswahl vom 27. Septembe r 1998 zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte die Bundeswehr in einen Krieg schicken würden – in einen Krieg, der offen völkerrechtswidrig war und für den es nicht einmal den Schein eines UN-Mandats gab. Als die Union 2009 ein zweites Mal aus der Bundestagswahl als stärkste Partei hervorging und Angela Merkel erneut zur Kanzlerin gewählt wurde, konnte sich wiederum niemand vorstellen, dass die dann gebildete Regierung – ausgerechnet ein Bündnis der Union mit der FDP – nur eineinhalb Jahre später den Ausstieg aus der Atomkraft beschließen würde. Um eine Stufe in der Wahlen-Hierarchie hinabzusteigen – der Fall ist so bezeichnend, dass das gerechtfertigt erscheint: Als die Grünen in Baden-Württemberg, dem zweitwichtigsten Stamm-Bundesland des Konservatismus, bei der Landtagswahl 2011 stärkste Partei wurden und Winfried Kretschmann zum Ministerpräsident gewählt wurde, da konnte sich niemand vorstellen, dass diese grün gefüh rte Landesregierung ein Jahrzehnt lang Stuttgart 21 weiterbauen und im Mai 2021 noch eins draufsetzen und den Bau einer Art „zweites Stuttgart 21“ beschließen würde.1

Das sind nur drei Beispiele aus jüngerer Zeit. Von einem Finanzminister Franz-Josef Strauß (CSU) hatte 1966/67 niemand erwartet, er könne sich – zusammen mit dem SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller – zu einer Wirtschaftspolitik à la John Maynard Keynes entschließen. Und schon gar nicht konnte man vor 1984 erwarten, dass derselbe Rechtsausleger F.J. Strauß einen Milliarden-Kredit für Erich Honecker einfädeln würde, was dazu beitrug, dass die DDR weitere fünf Jahre überleben konnte.

Die größte Kluft dieser Art gab es wohl bei der zweiten Wahl von Gerhard Schröder zum Kanzler einer rot-grünen Koalition, als dieser 2003 die „Agenda 2010“ beschließen und das Hartz-IV-Regime etablieren ließ. Das konnte und wollte seine Nachfolgerin im Amt nicht mehr toppen.

Olaf Scholz versprach eine sozial ausgewogene Politik mit einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns und keiner steuerlichen Neubelastung von Schlecht- und Normalverdienern. Man wird sehen.

Anmerkung:

1 Aus der Stuttgarter Zeitung vom 3. Mai 2021: „Vor der Koalitionsbildung im Land zeichnet sich eine für Stuttgart und Region spektakuläre Entwicklung ab. […] Neben dem achtgleisigen unterirdischen Durchgangsbahnhof in der Stuttgarter Innenstadt soll ein Ergänzungsbahnhof als bis zu sechsgleisiger Kopfbahnhof gebaut werden, für den sich […] vor allem Winfried Hermann [grüner Verkehrsminister; d. Red.] stark gemacht hatte. […] Der Kopfbahnhof im Untergrund […] wäre bei sechs Gleisen 210 Meter lang und 60 Meter breit. […] Er würde direkt an den S21-Durchgangsbahnhof andocken. Die zuführenden Gleise will man in Tunnel legen, damit die von der Stadt geplante Bebauung auf den frei werdenden Gleisflächen möglichst wenig behindert wird.“