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Wie der Klinik-Sektor zu Profitcentern umgebaut wurde
Die rasche Ausbreitung der Covid-19-Epidemie im Monat März war nicht zuletzt ein Ergebnis der jahrelangen Austeritätspolitik im Gesundheitsbereich in nahezu allen Ländern Europas. Fast überall herrscht bei den Pflegekräften ein akuter Personalmangel. Während Krankenhäuser mehr als ein Jahrhundert lang primär das Ziel zu verfolgen hatten, Menschen gesund zu machen (und damit keine Gewinnerzielung verfolgen durften), können Krankenhäuser, die nach dem Grundsatz der Fallpauschalen arbeiten, dann Gewinne machen, wenn ihre Kosten unter den vereinbarten Pauschalen liegen.1
Der deutsche Gesundheitssektor ist seit drei Jahrzehnten von einem Mix aus sechs Faktoren geprägt: Es gibt erstens ein fortwährendes Krankenhaussterben mit einem massiven Bettenabbau. Zweitens kommt es flächendeckend zu Privatisierungen der Kliniken (siehe S.50ff). Drittens wurde die Verweildauer je Patient halbiert und die Zahl der Patienten deutlich gesteigert. Viertens ist dies begleitet von einem deutlichen Abbau der Pflegekräfte, von einem verstärkten Einsatz von ausländischen Pflegekräften und von Leiharbeitskräften und von einer allgemeinen Lohndrückerei. Fünftens erleben wir einen Krankenhaus-Konkurrenzkampf. Dabei dürfte der deutsche Gesundheitssektor durchaus beispielhaft sein für den größten Teil den Gesundheitssektoren in der EU, in Großbritannien, in Österreich, in der Schweiz und in Norwegen. Eine Besonderheit ausgenommen: In Deutschland verschwand 1989/90 ein gesamter „nationaler Krankenhaussektor“ aus jeder Statistik (siehe die Quartalslüge S. 4/5).
Es gibt ein knappes Dutzend Parameter, die den umfassenden Umbau des Krankenhaussektors in einen solchen, der primär kapitalistischen Verwertungsgesetzen folgt, dokumentiert. Dieser Prozess wird in der folgenden Tabelle für den Zeitraum 1991 bis 2017 dokumentiert.
Es gab demnach den massiven Abbau der Zahl der Krankenhäuser und der Bettenzahl. Dabei stieg die Zahl der Behandlungen massiv – um 33 Prozent (Zeile 4). Das wiederum war begleitet von einer Halbierung der durchschnittlichen Verweildauer je Patient im Krankenhaus von 14 Tagen im Jahr 1991 auf 7,3 Tage 2017. Im gleichen Zeitraum gab es – auf den ersten Blick überraschend – einen deutlichen Aufbau beim „Personal im ärztlichen Dienst“ um fast 80.000 Vollzeitstellen (Zeile 7), was auch der Zunahme der Verwaltungs- und Controlling-Aufgaben geschuldet ist. Bei den Pflegekräften gab es dann den entgegengesetzten Prozess – einen Abbau um 27.081 Vollzeitstellen.
Der – auf den ersten Blick gering erscheinende – Abbau beim nichtärztlichen Personal muss in Bezug gesetzt werden zur massiv gestiegenen Fallzahl der Behandlungen2 und zu den Einkommen, die deutlich unter dem statistischen Durchschnittseinkommen liegen.
Deutschland hält damit im internationalen Vergleich einen traurigen Rekord: Pro ausgebildete Pflegekraft auf Station und pro Tagesschicht kommen hier 13 Patienten. Spanien liegt mit 12,6 auf einem ähnlich miserablen Niveau. In Belgien, Polen und Griechenland sind es mit jeweils etwas mehr als 10 bereits deutlich weniger. In Großbritannien, Finnland, in der Schweiz und in Schweden kommen rund acht Patienten auf eine ausgebildete Pflegekraft (auf Station und pro Schicht). In den Niederlanden und Irland sind es mit sieben fast nur halb so viele wie in Deutschland. Norwegen hat bei dieser Auswahl von einem Dutzend Länder mit 5,4 Patienten pro ausgebildete Pflegekraft das im Sinne der Patienten und des Pflegepersonals beste Niveau.3
Import von Pflegekräften und Kliniken-Konkurrenz
Insgesamt, so Schätzungen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, fehlen in Deutschland gut 150.000 Pflegekräfte in den Krankenhäusern. Ein Problem, das die deutsche Regierung damit zu lösen versucht, dass im Ausland Pflegekräfte angeworben werden. Kurz vor dem offenen Ausbruch der Corona-Pandemie trat in Deutschland das „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ in Kraft, das es ermöglicht, dass in deutlich größerem Umfang als bislang „qualifizierte Arbeitskräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union nach Deutschland“ kommen. Deutschland hat zu diesem Zweck eigens Büros in Ländern, die für diese Anwerbeoffensive in Frage kommen, eingerichtet. Angeworben werden vor allem voll ausgebildete Pflegekräfte – die Ausbildungskosten trägt das Herkunftsland. Ein anderes aktuelles Phänomen ist der Konkurrenzkampf. Die Kliniken jagen sich das Personal ab. Im Februar 2020 ließen sich beim Berliner Krankenhauskonzern Vivantes fast 40 Fachkräfte – ein Großteil der Infektiologie – abwerben, unter anderem um zum katholischen St. Joseph-Krankenhaus zu wechseln. 2019 ist in Sankt Augustin bei Bonn das Personal einer Kinderklinik des Asklepios-Kon-zerns zum Uniklinikum in Bonn abgewandert. Um Personal zu gewinnen, zahlen Kliniken immer öfter Prämien. Anfang 2020 wurden Beschäftigten eines Klinikums in Saarbrücken 1250 Euro dafür angeboten, wenn sie eine neue Pflegekraft anwerben.4 Es leuchtet ein, dass solche Verhältnisse Ausdruck eines schlechten Betriebsklimas sind – und dass sich dies für die Patientinnen und Patienten ausgesprochen unvorteilhaft auswirkt.
Inmitten der Corona-Epidemie sind weiterhin hunderte Krankenhäuser von der Schließung bedroht. Pläne zur nochmaligen Halbierung der Zahl der Krankenhäuser in Deutschland, die die Bertelsmann-Stiftung im Sommer 2019 im Rahmen einer Studie vorlegte, sind keineswegs vom Tisch. Martin Albrecht, Geschäftsführer des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), Mitautor der genannten Studie, erklärte im April: „Im Lichte der Pandemie wird unsere Studie stark kritisiert und behauptet, die Ergebnisse seien nicht haltbar. Das sehe ich überhaupt nicht so.“5
* Stark gekürzt aus: Verena Kreilinger · Winfried Wolf · Christian Zeller, Corona, Kapital, Krise. Für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie (PapyRossa, Juni 2020)
Anmerkungen:
1 „Vor allem kommerzielle Klinikbetreiber erreichen das, indem sie sich auf besonders lukrative Fälle spezialisieren, aus Tarifverträgen aussteigen, Personal abbauen und die Arbeit verdichten. Auf der anderen Seite stehen die Verlierer: zumeist kommunale und freigemeinnützige Kliniken, die im Preiswettbewerb nicht mithalten können und Pleite gehen (oder privatisiert werden). Und genau das war explizites Ziel der Einführung des DRG-Systems: Krankenhäuser sollten vom »Markt« verschwinden, um vermeintliche Überkapazitäten abzubauen.“ Daniel Behruzi, Covid-19. Geschwächtes System, Artikel vom 27. April 2020; Website „Lernen im Kampf“
2 In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass es bei dem Plus an Behandlungen v.a. darum geht, dass möglichst kapitalintensive und teure Behandlungen vorgenommen werden. Bekannt ist die Tatsache, dass sich in Deutschland die Zahl der Kaiserschnitt-Geburten allein im Zeitraum 2000 bis 2017 um 43 Prozent erhöhte (bei weitgehend gleicher Zahl von Entbindungen). 2016 gab es in Deutschland mehr als doppelt so viele Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit Ballonkatheder wie im OECD-Durchschnitt. Es gab 75 Prozent mehr kompletten Kniegelenkersatz, 82 Prozent mehr Hüftgelenkersatz oder auch 60 Prozent mehr Gallenblasenoperationen als im OECD-Durchschnitt. Angaben nach: Krankenhaus statt Fabrik, April 2020, S. 140.
3 Wiedergegeben in: Krankenhaus statt Fabrik, a.a.O., S.83
4 Infos zu den Abwerbungen nach: Marion Lühring, Fluch(t) aus der Klinik, in: Ver.di Publik, 2/2020
5 Interview mit der Deutschen Welle – verantwortlich Andreas Becker; eingestellt bei Focus.de vom 17. April 2020