Kein neuer “Marsch auf Rom”, aber fortgesetzter Demokratieabbau

Italien hat gewählt – aber welche Wahl hatte die Bevölkerung?

Nur knapp zwei heiße Sommermonate lagen zwischen dem unerwarteten Rücktritt Mario Draghis und dem Termin für Neuwahlen. Er war 2020 angetreten, um das Land durch die schwere Corona-und Wirtschaftskrise zu führen, entzog sich aber der zunehmend konfliktschwangeren Lage seines Landes am 14. Juli 2022 auf ungewöhnliche Weise: Er reichte seinen Rücktritt ein, obwohl das Parlament ihm das Vertrauen bestätigt hatte.

Da war schon absehbar, dass das rechte Lager eine Neuwahl gewinnen würde. Unterstützt wurde diese Aussicht auch durch die sofortige Weigerung des stärksten politischen Gegners, Enrico Letta (PD), ein breites Gegenbündnis aller Oppositionsparteien aufzustellen, um „die faschistische Gefahr “zu bannen. (Das nationale Befreiungskomitee CLN gegen die Nazifaschisten umfasste 1944/45 immerhin alle Kräfte von Kommunisten bis zu Monarchisten).

Nun jedoch trat die Opposition vereinzelt gegen Meloni an. Summiert man ihre Wählerstimmen, kommt man rechnerisch auf eine knappe Mehrheit gegenüber dem Rechtsbündnis. Was zu dem Statement führt, die neue Regierung habe zwar eine Mehrheit im Parlament, aber nicht im Lande. Doch Letta leitete seinen und den vorläufigen Niedergang der PD ein (zu den Parteien und den Wahlergebnissen siehe Kasten). Das war ein Verlustspiel von Beginn an, denn die PD lag in den letzten Prognosen nur bei rund 20 Prozent gegenüber den mehr als 40 Prozent des Rechtsbündnisses bestehend aus Giorgia Melonis Postfaschisten, Salvinis Lega und der Forza Italia Berlusconis. Der kann nun – einst vielfach verurteilt wegen schwerer Vergehen – als Senator wieder ins Parlament einziehen, eine große Genugtuung für ihn.

Eher stabile Blöcke

Aber von den 51 Millionen Wahlberechtigten haben am 25. September 2022 gut 36 Prozent von ihrem einst hart erkämpften Recht keinen Gebrauch gemacht – die Wahlbeteiligung lag um neun Prozentpunkte niedriger als bei der vorausgegangenen Wahl 2018. Das lässt sich weder mit dem landesweit ausgerufenen Unwetteralarm erklären, noch mit der Tatsache, dass es keine Briefwahl gibt und man sich – ähnlich wie zu Zeiten des Kaisers Augustus – immer noch an den Ort begeben muss, an dem man polizeilich gemeldet ist. Das schließt Millionen Menschen de facto von ihrem Wahlrecht aus.

Die Nichtwähler sind inzwischen zur stärksten (Nicht-) Partei geworden. Sie umfassen einen beträchtlichen Teil nicht nur der unteren, weniger informierten Schichten, sondern auch einstige Linke, Kommunisten – grob gesagt, all diejenigen, die keine politische Heimat mehr haben. Dort, wo es an der Basis und an der Peripherie kaum noch Linke gibt, breiten sich extreme Formationen des rechten Spektrums aus. Diese Tendenz zur zunehmenden Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten (siehe auch die USA) scheint für die heute führenden Partei-Unternehmen kein Problem darzustellen. Im Gegenteil: So bleiben sie unter sich.

Der Wahlsieg Giorgia Melonis, der ersten Frau an der Spitze einer Partei, die mit 26 Prozent in den meisten Regionen ein Rechtsbündnis von insgesamt 44 Prozent anführt, ist der Epilog eines seit drei Jahrzehnten währenden wirtschaftlichen und politischen Niedergangs, einer Entwicklung nach rechts, die das Nachkriegs-Belpaese auch kulturell so stark verändert hat, dass viele Menschen sich nicht mehr zurechtfinden.

Drei Jahrzehnte lange neoliberale Offensive

Nach dem Ende der sogenannten Ersten Republik mit der Auflösung des Parteiensystems des antifaschistischen Verfassungsbogens (1992/93), hat Silvio Berlusconi mit seiner medialen Präsenz einen ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus gestartet. Viele Institutionen wurden dabei nachhaltig geschwächt. Ein massiver Antikommunismus ersetzte den republikanischen Antifaschismus. Berlusconi integrierte 1994 gleich fünf MSI-Minister in seine erste Regierung und machte damit das faschistische Movimento Sociale Italiano (MSI) mit Gianfranco Fini als Alleanza Nazionale (AN) hoffähig. Schon 2000 versuchte er mit seiner „Casa della libertà” die identitäre Lega Nord mit den ex-Faschisten der AN und seiner Forza Italia zu einer „modernen rechten” Partei zu vereinen. Der Jungfaschistin Giorgia Meloni übertrug er ein Ministeramt und bereits 2008 das einer stellvertretenden Parlamentspräsidentin. 2012 löste Meloni dann mit ihrer Neugründung der Fratelli d’Italia (FdI) die AN ab und hievte bis 2018 die Zustimmung der Wähler von rund 2 auf 4 Prozent. Vier Jahre später waren es dann bereits 26 Prozent.

Meloni konnte – auf Kosten ihrer Verbündeten – die Früchte ihrer konsequent-alleinigen Opposition gegen alle letzten Regierungen einfahren, die Lega und Forza Italia noch unterstützt hatten. Die mehr als zwölf Millionen Wähler, die diese drei Parteien FdI, Lega und Forza Italia jetzt gewählt haben, hatten sie fast alle auch schon 2018 gewählt. Verändert hat sich lediglich die Gewichtung der Parteien untereinander. Wobei damit erhebliche regionale Auswirkungen verbunden sind, denn die Lega erlitt ihren größten Stimmenverlust in ihren Stammregionen im Norden, wo die FdI sie überholen konnte. Das treibt Lega-Chef Salvini in die Enge.

Seit Entstehung der Republik Italien, 1946, standen sich zwei relativ stabile politische Blöcke rechts und links gegenüber. Das hat sich über die Jahrzehnte hinweg kaum verändert. Da aber die Linke vor allem aus Kommunisten bestand, die aufgrund der Nachkriegs-Einbindung Italiens in den Atlantikpakt nicht an die Regierung in Rom kommen durften, war während des Kalten Krieges die Möglichkeit einer Regierungs-Alternative stark eingeschränkt. Man sprach von einer „blockierten“ Demokratie. Fest eingebunden ins atlantische Bündnis und in dessen soziales Gefüge war Italien denn auch seit 1948 eines der stabilsten Länder Europas – ungeachtet häufiger Regierungswechsel, für die das Land im Ausland oft gescholten wird. De facto herrschen bis heute jene sogenannten „poteri forti” (starken Mächte) aus Unternehmerschaft, Finanzwelt, Mafia und der katholischen Kirche, die das Wahlgeschehen fast ununterbrochen mittels einer durchaus flexiblen bürgerlichen ‘classe politica’ mitbestimmen.

Nach der politischen Wende 1989/91 und dem Ende aller linken Perspektiven haben die Rechten in mehreren populistischen, identitären oder nationalistischen Varianten die Führung übernommen. Hier erweist sich die von Berlusconi seit dreißig Jahren mit seinen Medien beförderte ideologische Wende als nachhaltig: Gegen die auf den Antifaschismus gegründete Demokratie Italiens propagierte er skrupellos einen explizit antikommunistischen, neo-liberalen Demokratie- und Freiheitsbegriff. Dieser in westlichen Demokratien inzwischen vorherrschende Freiheitsbegriff ist längst nicht mehr universell. Er beschränkt sich vielmehr „auf diejenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als die ‚Stärkeren’ hervorgehen, seien es Staaten, Regionen oder Individuen”. (siehe Luciano Canfora, Kurze Geschichte der Demokratie, 2006).

Verändertes Wahlrecht – „Politikverdrossenheit“

Auch die Linken ließen sich weitgehend von den neoliberalen Avancen überzeugen. Und so konnten sich nach der „Ära Berlusconi” die seit 2011 von oben und auf Brüsseler Empfehlung eingesetzten Regierungen mit diversen Experten als Regierungschefs mehr oder weniger auf das neoliberale Parteiensprektrum des sogenannten „Centro-sinistra” stützen, deren Austeritätspolitik tief in den schon schwachen Sozialstaat einschnitt. Der Protest der Bürger fand nur noch Raum bei der 5-Sterne-Bewegung und schließlich eben bei den Rechten, die seit 2018 in diversen Koalitionen kurzfristig mitregierten.

Die schon lange bestehende Distanz zwischen Politikern und Wahlvolk wurde auf ein Maximum verstärkt durch das berüchtigte „Rosatellum”-Wahlgesetz, nach dem jetzt gewählt wurde. Es kombiniert proportionale und majoritäre Wahlmodi miteinander. Die stimmenstärkste Partei bzw. Koalition wird mit einem üppigen Mehrheitsbonus belohnt, der deren Gewicht im Parlament auf mindestens 60 Prozent der Abgeordneten verstärkt. Das liegt dann nahe an der Zweidrittelmehrheit, mit der Verfassungsänderungen durchsetzbar sind. Auch sind die Abgeordneten nicht mehr – wie einst – lokal verankert und an die Wählerschaft gebunden. Sie werden allein von den Partei-Spitzen bestimmt und stehen zu diesen wie Vasallen. Die Repräsentanz des Wählerwillens wird nicht mehr garantiert. Damit wenden sich die Wähler, die sich nicht vertreten fühlen, mehr und mehr von der Politik ab. Mit einem solchen Mehrheitsbonus kann das Votum der Wähler so gelenkt werden kann, dass bestehende Machtverhältnisse nicht in Frage gestellt werden. Die Regierungen Berlusconis waren beispielhaft dafür.

Dieses vom Verfassungsgericht bereits bei vorhergehenden Wahlgesetzen als verfassungswidrig verworfene Grundproblem der fehlenden Repräsentanz haben die Parteien bisher nie behoben – ebensowenig wie die langwierigen Modalitäten einer Regierungsbildung. Allein die Anzahl der Volksvertreter in beiden Kammern ist 2019 von über 900 auf 600 verringert worden – vorgeblich um die Kaste der Politiker zu schwächen, wie die 5-Sterne erhofften – ein Bumerang, der nun Wähler weiter einschränkt.

Zu erwarten sind neue Angriffe auf die Verfassung

Die im Januar 1948 in Kraft getretene antifaschistische Verfassung der Republik, eine der fortschrittlichsten Europas, befindet sich bis heute im Visier der Rechten. Sie soll aus den Angeln gehoben werden. Schon die neoliberalen Empfehlungen der Trilateralen Kommission (1975) gingen in die Richtung, die in den Grundprinzipien verankerten bisherigen Befugnisse demokratischer Parlamente zwecks „besserer Regierbarkeit” (governance) zu beschränken. Mehrfache Versuche dazu scheiterten bisher, zuletzt der von Matteo Renzi (PD) zur Abschaffung des Senats der Republik (2018). Nun peilt die Rechtskoalition erneut die Durchsetzung eines Präsidialsystems an, sowie eine ökonomische Spaltung der Nation in arme und reiche autonome Regionen, aller national(istisch)en Ideologie zum Trotz. Das bedeutete das Ende der antifaschistischen Republik. Doch die neue Regierung wird sich mit vielem anderem beschäftigen müssen. Alle die Zukunft entscheidenden finanziellen Maßnahmen des nationalen Aufbauplans PNRR stehen an. Den hat Mario Draghi noch auf den Weg gebracht, wie auch den Haushalt für 2023 , denn der erste Entwurf ist am 15. Oktober fällig. Aber alle Zahlen dafür zeigen weiter nach unten. Der Einwurf der Financial Times am 28.Juli, eine Regierungskrise in einer solch brisanten Lage wie der Italiens zwischen Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation sei denkbar inopportun, lässt keinen Optimismus aufkommen.

Offenbar kommt diese Rechte den erwähnten „poteri forti” doch nicht so ungelegen, wie vielfach vermutet. Meloni gibt sich seit längerem staatsmännisch. Sie hat nicht nur im Vatikan, sondern auch bereits in den USA vorgesprochen. Sie steht fest zur Nato, zur EU und zum Ukraine-Krieg und hat vor, die bestehende tiefe Spaltung der italienischen Gesellschaft weiter zu zementieren. So will sie die Steuern (der Reichen) senken und den Armen ein paar Brosamen lassen. Die Immigranten aus dem Süden sollen fern und alle zivilen Rechtsansprüche stark im Zaum gehalten werden.

Dagegen will sich eine Opposition in Italien bald neu organisieren, denn der soziale Konsens kann brechen, wenn der großen Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden nicht abgeholfen wird. Immense Probleme stehen in nächster Zukunft an, die im Wahlkampf nicht auftauchten. Diese sind neben Krieg und Frieden vor allem die Themen Umwelt und Klima. Den absehbaren Stürmen wird man nicht nur mit „Law and Order“ begegnen können.

Hundert Jahre nach Mussolinis in diesen Tagen oft beschworenem Marsch auf Rom vom Oktober 1922 steht keine faschistische Diktatur des Kapitals mit schlagenden Schwarzhemden bevor. Allerdings geht es voraussichtlich um ein Fortschreiten der Gegenrevolution mit weiterer Verengung demokratischer Spielräume und Rechte aller Art.

Susanna Böhme-Kuby, Venedig.