Italiens Wirtschaft ist von Deindustrialisierung gekennzeichnet
Bereits vor der Wahl in Italien kamen an den europäischen Finanzzentren Erinnerungen an die Eurokrise der Jahre 2008/2009 und an die Griechenlandkrise von 2015 auf. Dabei ist deutlich: Eine Italien-Krise würde weit mehr Sprengstoff bieten als das, was wir vor rund einem Jahrzehnt erlebten.
Die griechische Bevölkerung zählt heute 10,6 Millionen – auf dem Höhepunkt der Krise waren es eine gute halbe Million mehr, wobei dieser Rückgang auch Ergebnis der Krise und der Troika-Politik als Reaktion auf diese Krise ist. Der Anteil der griechischen Bevölkerung an derjenigen der EU entspricht rund 2,4 Prozent. Noch wichtiger: Das griechische Bruttoinlandsprodukt macht nur 1,3 Prozent des EU-BIP aus. Diese Relationen bildeten eine wesentliche Grundlage dafür, dass 2015 die EU dem Land und dessen linker Regierung ein brutales Sparregime aufzwingen und Millionen Menschen in bittere Armut und Hunderttausende ins Exil treiben konnte. Eine solche Politik kann sich die EU gegenüber Italien schlicht nicht leisten. Das wurde bereits am Tag vor der Wahl deutlich, als die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, auf die Frage, ob sie „Sorgen“ wegen eines absehbaren rechten Wahlsieg in Italien habe, antwortete, die EU habe ihre „Richtlinien und Werkzeuge“. Was böse Erinnerungen an die Folterwerkzeuge aufkommen ließ, die die EU gegenüber Griechenland zum Einsatz gebracht hatte.
Konkret: Italien ist die drittgrößte Wirtschaft im EU-Block; das Land hat mit einem BIP in Höhe von 1,8 Billionen Euro ein gut zehnmal größeres Gewicht als Griechenland. Ganz zu schweigen von der Dramatik der italienischen Schulden, auf die noch zu sprechen kommen sein wird.
Im Wechselbad
2021 schien sich die italienische Wirtschaft mit einem 6,6 Prozent-Plus des Bruttoinlandsprodukts – nach einem Pandemie-bedingten Absturz 2020 – zu erholen. Ein weitgehend mit EU-Geldern gespeister Wiederaufbauplan mit einem Volumen von knapp 200 Milliarden Euro bestärkte die Optimisten. Und als im September Italiens Industrieverband Confindustria seine Jahrestagung mitten im Kirchenstaat abhielt und der Papst dort persönlich vor den 4000 Unternehmerinnen und Unternehmern sprach und diese als „Motor für Entwicklung und Wohlstand“ bezeichnete, schien auch ein belastbarer himmlischer Beistand gesichert.
Doch die wirtschaftliche Großwetterlage deutet in eine andere Richtung. Italien steht – so wie die Weltwirtschaft und die EU insgesamt – vor einer Wirtschaftskrise. Und in dieser Gesamtlage werden die problematischen Grunddaten der italienischen Wirtschaft eine erhebliche Rolle spielen. Diese dürften dazu beitragen, dass die neue Krise nicht eine x-beliebige, sondern eine sehr tiefe Krise werden wird. Bereits im dritten Quartal 2022 erlebt die italienische Industrie eine Rezession. Die Arbeitslosigkeit, die zuletzt offiziell bei 7 Prozent lag, wird wieder auf zehn und mehr Prozent ansteigen. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug Anfang 2022 bereits 25 Prozent. Auch diese wird mit der Krise weiter ansteigen. Die Inflation lag im August bereits bei 9,1 Prozent; sie dürfte, vor allem als Resultat der massiv steigenden Energiepreise, am Jahresende zweistellig sein. Wobei der seit Anfang 2022 verstärkte Zustrom von Flüchtlingen vor dem Hintergrund des rechten Wahlsieges eine gefährliche Mixtur aus sozialer Problematik und rassistischer Propaganda darstellt. Bis August wurde die Ankunft von 45.000, überwiegend über See Geflüchteten gezählt. Das sind deutlich mehr als 2021. Die EU lässt das Land bei dieser Frage seit mehr als zwei Jahrzehnten allein. Was in einem krassen Kontrast zum Umgang mit den Ukraine-Flüchtlingen steht. Und was natürlich das Gegenteil einer „wertebasierten Außenpolitik“, von der die deutsche Außenministerin redet, ist.
Blick in dieWirtschaftsgeschichte
Die neue Krise trifft eine italienische Ökonomie, die von kleinen Betrieben und Millionen Selbständigen bestimmt ist. Das macht sie besonders anfällig für diese Krise. Deutlich wird das mit der Kampagne „bollette in vetrina“ (Stromrechnungen ins Schaufenster): Zehntausende Kleinunternehmer und Kleinexistenzen dokumentieren seit Sommer auf diese Weise, dass die steigenden Energiepreise sie existenziell bedrohen. Es geht dabei allein in den Bereichen Gaststätten, Hotels, Lebensmittel und Landwirtschaft um mehr als 250.000 Betriebe mit mehr als einer Million Beschäftigten. Ohne massive staatliche Hilfen stehen diese angesichts der Energiepreisexplosion vor dem Aus. Wobei unklar ist, woher die Hilfen kommen sollen außer durch noch mehr öffentliche Schulden. Die Regierung von Mario Draghi hatte kurz vor ihrem Ende eine Verfügung beschlossen, wonach die seit Oktober 2021 erzielten „Übergewinne“ der Energieunternehmen mit zusätzlich 25 Prozent besteuert werden sollten. Behauptet wurde, damit könnten zehn Milliarden Euro erlöst werden, was dann an notleidende Familien und Kleinunternehmen hätte verteilt werden sollen. Tatsächlich spülte dies bis September gerade mal eine Milliarde Euro in die Staatskasse. Die meisten der rund 11.000 Unternehmen im Energiesektor haben die ihnen aufgebrummte „Übergewinnsteuer“ schlicht nicht bezahlt – und stattdessen gegen die Verfügung geklagt. Die entsprechende juristische Auseinandersetzung dürfte sich hinziehen. Oder die neu gewählte Regierung wird das Dekret kassieren.
Die spezifische Struktur der italienischen Wirtschaft als dominiert von kleinen Existenzen ist zweifellos historisch gewachsen. Was sich jedoch in den letzten vier Jahrzehnten drastisch verändert hat, ist die Tatsache, dass diese Struktur nicht mehr eingebettet ist in eine Ökonomie mit großen, international konkurrenzfähigen Unternehmen. Italiens Anteil am Welthandel lag 1978 noch bei 4,3 Prozent. 2020 waren es noch 2,8 Prozent. Unter den „Global 500“, den 500 größten Unternehmen der Welt, befanden sich 1999 noch zehn und 2012 noch acht italienische Konzerne; heute sind es noch fünf. Liest man die Namen dieser fünf italienischen Großunternehmen unter den „Global 500“ – es sind Eni, Enel, Assicurazioni Generali, Intesa Sanpaolo und Poste Italiane – dann wird deutlich: Es handelt sich bei Eni, dem Mineralölkonzern, bei Enel, einem Energieversorger, und bei der Post um staatliche Unternehmen, und bei den anderen beiden Konzernen um Finanzgesellschaften. Ein großer privatkapitalistischer Industriekonzern befindet sich nicht mehr in dieser Gruppe.
Das sah früher einigermaßen anders aus. 1990 befand sich mit IRI sogar ein italienischer Konzern mit großem industriellem Portfolio unter den zehn größten Unternehmen der Welt; IRI lag damals bei den Global 500 auf Rang 7. Und Fiat (mit der Tochter Chrysler) war 2016 noch der achtgrößte Autokonzern der Welt. Heute ist Fiat schlicht inexistent: Im Januar 2021 ging diese ehemalige Perle der italienischen Industrie – die übrigens bereits fünf Jahre zuvor den Firmensitz in die Niederlande verlegt hatte – im nochmals größeren PSA-Konzern auf. Alles spricht dafür, dass es in diesem neuen Mega-Unternehmen, in dem sich mindestens sieben Automarken mit ähnlichem Profil (Fiat, Chrysler, Alfa, Lancia, Peugeot, Citroen, Opel) einen blutigen Konkurrenzkampf liefern, zum Abbau von zehntausenden Arbeitsplätzen und zur Schließung von einem Dutzend Standorten kommen wird.
Dabei gab es in Italien rund ein Dutzend andere industrielle Perlen. Fiat Ferroviaria gehörte beispielsweise im Bereich Bahntechnik mit dem Neigetechnikzug „Pendolino“ (ETR 460) dazu. Das Unternehmen wurde 2000 an Alstom (Frankreich) verkauft. Oder, in der gleichen Branche, AnsaloBreda, mit der innovativen Sirio-Tram – 2015 an Hitachi (Japan) verkauft. Oder Zanussi im Bereich Küchengeräte – bereits 1984 an Electrolux (Schweden) verkauft. Und ähnlich bezeichnend wie die Konversion von Exor (ehemals Fiat) hin zu Luxus (mit Ferrari und Christian Louboutin) ist die „Weiterentwicklung“ der AnsaldoBreda-Holding Finmecchanica zu einem reinen Rüstungsbetrieb. Wobei die Tatsachen, dass der treibende Top-Manager bei dieser Konversion ein ehemaliger Top-Gewerkschaftssekretär, zugleich der ehemalige, langjährige Chef der Staatsbahn FS, ist, und dass das Unternehmen in „Leonardo“ (da Vinci) umbenannt wurde, als Ausdruck von offenem Zynismus bezeichnet werden muss.1
Verschuldung
Es kann durchaus sein, dass das Wahlergebnis vom 25. September keine direkten Auswirkungen an den Börsen zeitigt. Die Finanzleute haben das bereits eingepreist. Und ein rechter Wahlsieg ist schließlich objektiv auch ein Sieg des Unternehmerlagers. Brisant dürfte es jedoch werden, wenn sich die neue weltweite Krise entfaltet – und wenn es neue große spekulative Wellen der Finanzbranche gibt. Dann wird die enorme öffentliche Verschuldung Italiens eine große Rolle spielen. Zumal die Politik einer rechten Regierung durch Steuererleichterungen und Einlösung einiger Wahlversprechen diese öffentliche Schuld nochmals steigern wird.
Die addierte öffentliche Schuld Italiens betrug in absoluten Zahlen 2008 1,6 Billionen Euro. 2018 waren es 2,3 Billionen. 2022 sind es 2,8 Billionen. Zum Vergleich: Die Schulden Griechenlands betrugen 2015 340 Milliarden Euro. Die Schuldenquote Italiens – der Anteil dieser öffentlichen Schulden am BIP – lag im Zeitraum 2002 bis 2008 bei rund 105 Prozent. Seither gab es, wie die Grafik zeigt, drei Schübe. 2022 liegt diese Quote bei 155 Prozent. Das entspricht dem Niveau der griechischen Schuldenquote von 2015 – mit den beschriebenen Unterschieden hinsichtlich der absoluten Werte.
Fast alles spricht dafür, dass es im Rahmen der vor uns stehenden weltweiten Krise zu einer Spekulationswelle kommen wird, bei der auf eine Abwertung der italienischen Staatsanleihen gewettet wird. Der „spread“, der Abstand zwischen den Zinsen der italienischen und der deutschen Staatsanleihen, wird sich erneut vergrößern.2 Worauf zunächst die EZB bzw. die EU mit finanziellen und unsittlichen Hilfsangeboten reagieren wird. Gleichzeitig wird der politische Druck auf Rom zur Durchsetzung von Sparmaßnahmen steigen. Das hätte wahrscheinlich zur Folge, dass eine italienische Regierung zu protektionistischen Maßnahmen greift und auf Abstand zur EU geht. Und der Euro wird als Einheitswährung neu in Frage gestellt werden.
Lars Peterson war für eine skandinavische Großbank tätig. Er schrieb 2008 bis 2013 viele ökonomische Analysen in Lunapark21.