Eine Auswahl seiner Kolumnen in Lunapark21

Heft 1/2008

Die drei von der Geldtankstelle

Oder: Casino Capital

Bei der Société Générale habe es, so die gängige Berichterstattung, einen „einmaligen Fall von Betrug“ gegeben. Tatsächlich gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten drei Fälle „betrügerischer Geldhändler“, die ein zu großes Rad drehten.

1987 meldete der VW-Konzern den Verlust von einer Milliarde Mark durch Spekulationsgeschäfte, für die ein „untergeordneter Händler“ mit dem vielsagenden Namen Schmidt allein die Verantwortung getragen habe. 1995 teilte Barings, die größte britische Privatbank, den Verlust von 860 Millionen Pfund mit, die ein Geldhändler namens Jack Leeson allein zu verantworten gehabt habe. Im Januar 2008 soll nun ein Händler namens Jérome Kerviel knapp fünf Milliarden Euro verzockt haben.

Unabhängig von der – allzu berechtigten – Frage, ob sie allein handelten oder nur als Sündenböcke herhalten: Die drei Jungs von der Geldtankstelle sind charakteristisch nicht nur für die Art, wie große Unternehmen (nicht) funktionieren. Sie sind auch charakteristisch dafür, wie kapitalistische Wirtschaft (nicht) funktioniert.

Auch die „Börsenzeitung“ zeigt sich verzweifelt und befürchtet einen nachhaltigen Imageverlust: „Wie wollen Banken normalen Menschen diese Schieflage des Kontrollsystems erklären?“

Die Veranstaltung Kapitalismus ähnelt einem Casino, wobei Casinos und Lotterien in der Regel (noch) staatlich kontrolliert werden. Der Zustand der kapitalistischen Ökonomie verdient die Kennzeichnung „außer Kontrolle“.

Beispiel Fed: Wenn irgendwo eine rationale Steuerungsinstitution vermutet wird, dann in der US-amerikanischen Notenbank.

Alan Greenspan, der 18 Jahre Fed-Chef war, wurde vom damaligen US-amerikanischen Arbeitsminister Robert Reich als mächtigster Mann in Washington wie folgt charakterisiert: „Greenspan hat den wirksamsten Griff in Washington – seine Hand um Clintons Eier.“ Greenspan enthüllte erst 2007, wie die Fed tatsächlich (nicht) funktioniert. Alle Teilnehmer an den wichtigen Sitzungen des Offenmarktausschusses der Fed mussten vor den Treffen Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung abgeben. Greenspan weigerte sich als einziger, das zu tun. Warum?

Im Kapitalismus sei, so Greenspan, „jede Art von Prognosen vollkommen unsinnig“. Es geht die Mär, es sei nur der „alte Kapitalismus“ gewesen, der weitgehend im Blindflug in Crashs und 1929 in die Weltwirtschaftskrise gesegelt ist. Von daher sei Kurt Tucholskys Feststellung „Finanzpolitik ist die Metaphysik des Pokerspiels“ nachvollziehbar. Doch heute sei das alles ganz anders. Es gebe regelmäßige Treffen der Mächtigen (Davos), Zusammenkünfte der Top-Regierungen (Heiligendamm) und ein „dichtes Netz von Sicherungen“ (Société Générale). Doch wie läuft es denn heute tatsächlich? Die Financial Times Deutschland berichtete jüngst, dass die meisten großen Banken und Investmenthäuser fürstlich entlohnte Metereologen eingestellt haben. Warum? „Metereologen haben die Fähigkeit, komplexe Probleme zu analysieren.“

All das wäre amüsant, wenn es sich beim Zocker-Wirken der Banken und Konzerne um Veranstaltungen in geschlossener Reichen-Gesellschaft handeln würde. Doch diese Spiele im Casino Capital sind ernst und folgenreich. Kurz nach dem Milliarden-Verlust bei der Wolfsburger Muttergesellschaft kam es im Volkswagenwerk im mexikanischen Puebla zu einem erbitterten Streik um elementare Forderungen.

Das Management in Wolfsburg zeigte sich mehr als drei Monate unnachgiebig und versuchte, die 8000 Beschäftigten buchstäblich auszuhungern. Irgend jemand musste die Zockerverluste neu erwirtschaften.

Jack Leesons großes Rad führte zum Zusammenbruch der Barings-Bank, wodurch Tausende Jobs vernichtet wurden.

Die fünf Milliarden Euro Verluste der Société Générale und vor allem der Crash, den die Zockerei verstärkt haben dürfte, münden in die Vernichtung großer gesellschaftlicher Werte und gefährden oder zerstören Tausende Existenzen.

Und übrigens, Jack Leeson ist heute gut bezahlter Gastredner bei Banken. Sein Thema: „Sicherheitsmanagement“.


Heft 12/2010

Schöpferische Zerstörung

Oder: Freier Wohnraum für 30 Millionen Obdachlose

Der Lärm begann am Donnerstag, dem 14. Oktober 2010, gegen 17 Uhr. In Meißen versammelten sich ein paar Dutzend Anwohner vor dem Haupteingang der international renommierten Porzellanmanufaktur, die den Namen der sächsischen Stadt trägt. Einigen sollen Fotos mit Handys gelungen sein, die den ebenso wohl zu hörenden wie unerhörten Vorgang dokumentieren: Einige Stunden lang wurde auf dem Werksgelände Porzellan zerschlagen. Einen Monat lang gab es in der sächsischen Stadt Gerüchte, Mutmaßungen, Fragen. Hatte das Porzellan, bevor es zerdeppert wurde, den Wert einer Jahresproduktion oder doch mehrerer?

Lag dieser Wert bei 12, 20 oder gar 35 Millionen Euro? Warum wurde das wertvolle Porzellan, wenn es denn unverkäuflich war, nicht preiswert abgegeben? Gab es keine dezentere Form der Zerstörung als die eines Polterabends mit Scherbenhaufen?

Mitte November teilte Kurt Biedenkopf, der Aufsichtsratsvorsitzende der staatlichen Manufaktur und ehemalige sächsische Ministerpräsident, mit: „Die Manufaktur musste sich von unverkäuflichen Produkten trennen.“ Dem Beschluss sei Wochen zuvor vom Aufsichtsrat „einstimmig zugestimmt“ worden. Die Süddeutsche Zeitung zitierte einen Herrn Alexander Biesalski, der als „Markenexperte“ bezeichnet wird, mit den Worten: „Auf den ersten Blick wird so zwar Wert vernichtet. Tatsächlich wird damit jedoch deutlich mehr Wert gesichert – nämlich der Markenwert.“

Der Vorgang ist aus der Wirtschaftsgeschichte bekannt. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise schrieb der russische Ökonom Eugen Varga: „In den USA wurden 1933 zehn Millionen Hektar – ungefähr ein Viertel der gesamten Anbaufläche – Baumwolle unter die Erde gepflügt. In Brasilien werden jährlich zehn Millionen Sack Kaffee (fast der jährliche Weltbedarf) verbrannt, ins Meer geworfen, zum Straßenbau verwendet. Ganze Schiffsladungen Orangen wurden in London ins Meer geworfen. (…) All dies zu einer Zeit, wo aber Millionen Arbeitslose und ihre Familien hungern und in Fetzen gekleidet sind!“

Das zerstörte Meißner Porzellan hatte nur den Bruchteil eines Bruchteils der Warenwerte, die in der großen Krise zerstört werden mussten. Die Krise in der materiellen Produktion scheint seit Frühjahr 2010 gebannt. Wobei gerade im letzten Vierteljahr 2010 deutlich wurde, was in Lunapark21 seit drei Jahren beschrieben wird: Die Krise frisst sich seit Herbst 2007 durch das Gebälk der Weltwirtschaft.

Kaum konnte eine Feuerstelle unter Einsatz von Hunderten Milliarden Dollar gelöscht werden, gibt es einen neuen Brandherd. Auf die Immobilienkrise folgte der Crash bei den privaten Banken. Folgte die Krise der Realwirtschaft. (…)

Ende 2010 erleben wir bereits die Wiederkehr der Immobilienkrise. Hier ist die Überproduktion materieller Werte und die dem Kapitalismus innewohnende Tendenz der schöpferischen Zerstörung offensichtlich. 2007 gab es diese Krise nur in den USA; Träger von Wirtschaftsnobelpreisen mokierten sich über die Dummheit der US-Finanzinstitute, die sogenannte Subprime-Hypothekenkredite vergeben hatten. Eine Reise durch fünf ausgewählte Länder unterstreicht, dass es sich um eine weltweit verbreitete Dummheit handelt: In Ungarn hat sich das Kreditvolumen zur Finanzierung von Immobilien  (Hypotheken) im Zeitraum 2005 bis 2010 mehr als verzehnfacht; das Volumen der in Schweizerischen Franken vergebenen Hypotheken stieg um mehr als das Fünfzehnfache (von 134 Milliarden Forint auf 2200 Milliarden Forint). Ein Zehntel der Hypothekenkredite gilt als ausfallgefährdet – die Hauskäufer können Zins und Tilgung nicht mehr bezahlen. (…)

In Irland gibt es Ende 2010 mehr als 300.000 neu errichtete Häuser, die leer stehen. Weiteren 250.000 Hausbesitzern droht die  Zwangsvollstreckung. Der durchschnittliche Wert eines Eigenheims lag 1996 bei (umgerechnet) 100.000 Euro, 2007 waren es 300.000 Euro. Er liegt Ende 2010 bei 190.000 Euro. Tendenz: fortgesetzt stark fallend.

In Spanien stehen seit knapp zwei Jahren eine Million neu erbauter Häuser leer. 2010 wurden zusätzliche 120.000 Neubauten auf Halde produziert. Der Verfall der Häuserpreise – bisher rund 20 Prozent – ist nach Ansicht der Finanzexperten viel zu gering; eine Entwertung von 30 bis 50 Prozent sei nötig, um wieder „zu einer normalen Situation“ zu gelangen. In diesem Land paart sich die Krise im privaten Häuserbau mit einer Krise bei gewerblichen Immobilien: Allein in Madrid und Barcelona sind zwei Millionen Quadratmeter Bürofläche, was 13 Prozent der gesamten Bürofläche entspricht, unvermietet. Im abgelaufenen Jahr 2010 wurden weitere 500.000 Quadratmeter Bürofläche fertiggestellt.

In den USA haben die Finanzinstitute seit Herbst 2007 sechs Millionen säumigen Hypothekenkreditnehmern ihre Immobilie per Zwangsversteigerung abgenommen. Rund vier Millionen Häuser stehen leer.

In Dubai sind die Immobilienpreise bereits um 50 Prozent eingebrochen. 30 Prozent des gesamten neuen Wohnungsbestands steht leer. Komplette neue Stadtviertel mit Hochhäusern sind unbewohnt, was oft nicht zu erkennen ist: Immobilienenbetreiber schalten nachts per Fernsteuerung das Licht in den Wohnungen ein und aus. Hunderte Scheinpassanten wurden angemietet, um durch Stadtteile ohne Bewohner zu schlendern, womit eine gewisse Nachfrage aufrechterhalten beziehungsweise der finale Absturz hinausgezögert wird.

Unter Einbeziehung von Daten zu anderen Immobilienmärkten mit großen Leerständen – Portugal, Frankreich und Italien – lautet meine konservative Schätzung: Anfang 2011 stehen allein in Europa mehr als zwei Millionen meist neu errichteter Häuser und Appartements leer. Zusammen mit denen in den USA beträgt der auf Halde produzierte Häuser- und Wohnungsbestand in diesen zwei Weltregionen rund sechs Millionen Einheiten. Ein großer Teil dieser Häuser wird – aufgrund der Witterungseinflüsse – in zwei bis fünf Jahren zerstört sein; Hunderttausende müssen abgerissen werden, was mit neuen großen Kosten verbunden sein wird.

Warum öffnet man die Häuser nicht für rund 30 Millionen Obdachlose? Das könnte dem Werterhalt der Immobilien dienen, zugleich Milliarden Summen an Euro und Dollar für soziale Ausgaben sparen und natürlich in großem Umfang menschliches Elend beseitigen.

Das erfolgt nicht. Nur wenn man der Logik des bestehenden Systems folgt, erscheint eine solche naheliegende Maßnahme nicht vorstellbar. Schließlich wird „auf den ersten Blick zwar Wert vernichtet. Tatsächlich wird damit jedoch deutlich mehr Wert gesichert – nämlich der Markenwert.“ Es geht um die trademark capitalism, um die Logik von kapitalistischer Verwertung und Entwertung.


Heft 14/2011

Treuhand II

Oder: Hellas-Schnäppchen auf Ramschtisch

Vor einem Jahr konnte man in dieser Zeitschrift lesen: „Unmittelbar geht es bei der ›Rettung Griechenlands‹ vor allem um griechische, französische und deutsche Bankinstitute, die griechische Staatsanleihen in großem Umfang in ihren Tresoren lagern. Um deren Werterhaltung willen haben EU-Merkel und IWF-Strauss-Kahn das berüchtigte 110-Milliarden-Euro-Paket geschnürt.“ Und: „Das für Griechenland beschlossene und weitgehend vom IWF und der EU diktierte Sparprogramm muss die Krise verschärfen.“

So kam es. Die Banken, die in Griechenland riskante, aber hoch profitable Deals eingingen, konnten sich durch die Griechenland-Hilfe ins Trockene retten.

Das Hilfspaket jedoch hat in Griechenland die Krise immens verschärft. Ein brachialer wirtschaftlicher Einbruch, eine jetzt erst recht galoppierende Staatsschuld, ein massenhafter sozialer Abstieg und eine Verzweiflung, die große Teile der Bevölkerung erfasst, prägen

Mitte 2011 das Bild. Die Wirtschaft des Landes liegt um rund 15 Prozent unter dem Niveau von 2008. Auf die weltweite Krise folgte der Keulenschlag der „Sparprogramme“; allein 2010 brach das Bruttoinlandsprodukt um 4,5 Prozent ein; 2011 wird es einen vergleichbaren Rückgang geben. 2010 gab es 65.000 Pleiten mit 200.000 zerstörten Arbeitsplätzen.

Da auch die staatlichen Einnahmen stark rückläufig sind, schnellte die Staatsschuld von 120 auf 145 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hoch. Die durchschnittlichen Einkommen sanken um 20 bis 30 Prozent – durch Lohnsenkungen, Rentenkürzungen und Erhöhung von Steuern und Abgaben. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 16, real eher bei 25 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit dürfte doppelt so hoch liegen.

Wer hat schuld an dem Desaster? Österreichs-Notenbank-Chef Ewald Nowotny spricht stellvertretend für die starken EU-Länder und nicht zuletzt für die Regierung in Berlin, wenn er bei der Regierung in Athen mangelnde Einsicht und Suchtkrankheit diagnostiziert: „In Problemländern muss auch der politische Wille da sein, dass man wirklich einen Umkehrprozess einleiten will. Es ist wie die Entwöhnung nach einer langen Sucht.“

Genug ist nicht genug. Dabei ist es doch bereits pure Kapitulation, wenn der griechische Finanzminister Giorgos Papakonstantinou im Handelsblatt erklärt: „Die Märkte erwarten eine glaubwürdige Strategie, sie erwarten Strukturreformen.“ Es ist doch nur peinlich, wenn der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou heute zusätzliche Anteile am Fernmeldekonzern OTE an die deutsche Telekom verkaufen will, wo er doch 2008 als Oppositionsführer jede Art Einstieg der Telekom bei OTE mit guten Gründen bekämpfte.

Die Demonstrierenden auf dem Syntagma-Platz in Athen präsentierten am 5. Juni ein Transparent mit dem IWF-Wappen, dem Bild von Papandreou und der Zeile „Employee of the year – Angestellter des Jahres!“

Die Leibesübungen der in Athen Regierenden sagen nur eins: Sie folgen ohne größere Abstriche dem Diktat der Dreier-Gang, bestehend aus IWF, EU/EZB und deutscher Regierung. Diese vertreten die Interessen derjenigen Konzerne und Banken, die vor der Krise an dem Bau des Athener Airports, an dem Großauftrag für die Athener U-Bahn, an all den unnützen Großbauten für die Olympiade und an den gewaltigen Rüstungsaufträgen verdienen und die (Siemens, MAN-Ferrostaal) mehr als ein Jahrzehnt lang die griechische Politik flächendeckend geschmiert haben. Diese wollen nun an hohen Zinsen, die Griechenland für die ständig steigende Schuld bezahlt, und an den Sparprogrammen, für die die griechische Bevölkerung blutet, weiter verdienen. In Gang gesetzt wurde, wie es David Milleker, Chefvolkswirt von Union Investment, richtig formulierte, „ein Teufelskreis aus Sparanstrengung, negativem Wachstum und noch einmal größeren Sparanstrengungen.“

Und was schlagen die Damen und Herren in Berlin, Brüssel und Athen jetzt vor – als Vorbedingung für neue Kredite? Richtig: Einen nochmals brutaleren Sparkurs – und Ramschabkauf. „Alles muss raus in Griechenland“ – so die Schlagzeile in der an sich seriösen Financial Times Deutschland. Die größte deutsche Tageszeitung, die Süddeutsche Zeitung, schlagzeilte: „Die Griechen müssen ihre lange gehüteten Besitztümer verscherbeln“.

Listen mit der Überschrift „Ausverkauf in Hellas“ werden veröffentlicht mit Angeboten wie „der alte Flughafen Hellenikon, direkt an einem attraktiven Küstenabschnitt gelegen und rund vier Milliarden Euro wert“; „die marode Eisenbahngesellschaft OSE“; der „Flughafen Athens International“ oder die „Hafengesellschaften OLP (Piräus) und OLTH (Thessaloniki)“. Zwar seien „die Inseln noch tabu“, aber: „850 Häfen nennt der griechische Staat sein eigen. Diese sollen in einer Holding gebündelt und verkauft werden“. Das Kalkül lautet: Wer die Inselhäfen besitzt, dürfte nicht weit vom Besitz der Inseln selbst sein.

Überhaupt: Sind „6000 Inseln und Minifelsen im Meer“ nicht ein bisschen viel, um all das – wie es der Ministerpräsident (noch) tut – als „kulturelles Erbe“ zu deklarieren?

Nachdem die Bilanz der Privatisierungen des Jahres 2010 aus Sicht der Gläubiger allzu bescheiden ausfiel, soll der definitive Schlussverkauf  2011/2012 organisiert angegangen werden. Wie das gemacht wird und wer dies den Griechen steckt? Junckermann, geh Du voran: Es war der Euro-Gruppenchef und luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker, der Mitte Mai im Spiegel kundtat: „Ich würde es sehr begrüßen, wenn unsere griechischen Freunde nach dem Vorbild der deutschen Treuhand eine regierungsunabhängige Privatisierungsagentur gründen würden.“

Klar ist, dass das Privatisierungsprogramm nur wenig an der Verschuldung des Landes ändern würde. Das kann man in der kapitalistischen Fachpresse schwarz auf flachsrot nachlesen. Griechenland würde jedoch mit einem Ausverkauf nach Art der deutschen Treuhand oder einer Verpfändung des staatlichen

Besitzes im Gegenzug für neue Kredite den Status eines Protektorats bekommen. (…)

Es ist zu wünschen, dass die vielen, die seit Ende Mai in Athen auf dem Syntagma Platz und in anderen griechischen Städten die zentralen Plätze besetzt halten, die Solidarität erhalten, die sie verdienen. Ihre Losungen sind der einzig brauchbare Ansatz für eine Lösung der Krise – in Griechenland, Portugal, Irland und anderswo: „Wir teilen mit, dass die Schulden nicht unsere Schulden sind. (…) Alle Maßnahmen müssen zurückgenommen werden, die unsere Gegenwart und unsere Zukunft stehlen. Wir fordern den Reichtum, den wir geschaffen haben und den sie uns stehlen, zurück. Wir werden nicht von den Plätzen verschwinden, bis diejenigen abhauen, die uns hierher gebracht haben: Regierungen, Troika, Banken. Direkte Demokratie jetzt. Gleichheit.

Gerechtigkeit. Würde.“


Heft 16/2011

„Indem die Finanzaristokratie (…) über sämtliche organisierte öffentliche Gewalten verfügte, die öffentliche Meinung (…) beherrschte, wiederholte sich in allen Sphären (…) derselbe schamlose Betrug, dieselbe Sucht, sich zu bereichern, nicht durch die Produktion, sondern durch die Eskamotage (Taschenspielerei; WW) schon vorhandenen, fremden Reichtums. (…) Die Finanzaristokratie (…) ist nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft.“

Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850,

Europapolitik als Abenteuer

Die neue Finanzaristokratie

Um die Bedeutung der Beschlüsse des EU-Gipfels vom 8. und 9. Dezember zu verstehen, muss man die Worte und Taten derjenigen heranziehen, die die Macht verkörpern: Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, und Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB).

Anfang November hielt Josef Ackermann, Chef des größten europäischen Finanzinstituts, in Paris in der Deutschen Botschaft eine Rede über „Europa und seine Finanzmärkte“. Es gehe, so Ackermann, „um Grundsatzfragen unserer Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsordnung“.

Diese Rede, die bereits eineinhalb Tage danach mit ihren zentralen Aussagen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt war, lässt sich in drei Punkten zusammenfassen.

Erstens: Der Finanzsektor darf in keiner Weise gezügelt oder gar belastet werden. Man dürfe „unserem Finanzsystem nicht die Fähigkeit rauben, das Wachstum zu finanzieren, das Europa braucht, um (…) im globalen Wettbewerb mithalten zu können.“ Ackermann forderte zweitens strikte „fiskalische Disziplin“, wozu „auf nationaler Ebene Schuldenbremsen“ sinnvoll seien, es aber auch eines „EU-Haushaltskommissars“ bedürfe mit „effektiven Durchgriffs- und Sanktionsrechten“.

Dabei sei es „sicher, dass der in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erforderliche Schuldenabbau das Wachstum auf unserem Kontinent für längere Zeit bremsen wird.“

Das dritte Themenfeld betrifft den Demokratieabbau. Um die genannten Ziele zu erreichen, müssten dem „Recht der nationalen Parlamente, über Einnahmen und Ausgaben (…) zu entscheiden, (…) quantitative Grenzen gesetzt“ werden. Dazu seien auch „Änderungen des EU-Vertrags“ und „der nationalen Verfassungen“ notwendig.

Als „Vision“ formulierte der oberste Deutschbanker: „Nur ein vereintes Europa kann uns in dieser globalen Welt die Einflussmöglichkeiten sichern, ohne die wir (…) unsere Wertvorstellungen kurz: unsere Identität zu verlieren drohen.

Kann es einen höheren Einsatz, kann es ein schöneres Abenteuer geben?“

Zwei Tage vor dem EU-Gipfel verkündete Mario Draghi als jüngste Entscheidung der EZB eine Senkung des Leitzinses von 1,25 auf das alte und neue Rekordtief von einem Prozent und – völlig überraschend – eine Senkung der Mindestreserve, des Anteils der Einlagen, die Banken bei der Zentralbank als Sicherheit parken müssen. Ein Analyst der Commerzbank jubelte: „Damit werden gut 100 Milliarden Euro neu für die Banken verfügbar.“

Die EZB-Maßnahmen sind das Gegenteil dessen, was hinsichtlich einer nötigen Eingrenzung von Bankenmacht debattiert wird. Wenige Stunden vor Beginn des EU-Gipfels gab es ein Sechs-Augen-Treffen zwischen Draghi, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel.

Entsprechend diesen Vorgaben sehen die Ergebnisse des Gipfels aus: Im gesamten Euro-Krisenszenario tauchen die Banken nirgendwo mehr auf. Der Gipfel fasste weitreichende Beschlüsse zum EU-weiten Zwangssparen. Schließlich wurde – Stichwort Demokratieabbau – die keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegende EZB gestärkt. Zukünftig soll die EZB den Europäischen Rettungsfonds EFSF verwalten. Dabei werden die geltenden EU-Verträge missachtet. Die 17 Euro-Länder und einzelne andere EU-Länder ohne Einheitswährung sollen sich bis März 2012 einen neuen Vertrag parallel zu den EU-Verträgen geben, der insbesondere den Sparzwang festschreibt.

Indem Großbritannien an den Rand gedrängt wird, wird als Nebeneffekt eine Wiederbelebung der in zwei Weltkriegen erfolgreichen Achse Paris – London verhindert. Sarkozy agierte erkennbar als Pudel von Madame Merkel.

Der finnische Europaminister Alexander Stubb formulierte trefflich: „Der Euro ist im Grunde eine darwinistische Währung geworden. Es gilt das Prinzip vom Überleben des Stärkeren.“ (…)

Das logische Gegenstück zur Strangulierung der Realwirtschaft ist ein außer Rand und Band geratender Finanzsektor, der zur Abwendung von Pleiten (Commerzbank! Dexia-Bank! Bank of Amerika!) immer neue Steuermilliarden fressen und das Risiko eines Finanzkrachs steigern wird. Wir erleben die Machtübernahme einer Finanzaristokratie wie von Karl Marx beschrieben.

Ackermann hielt seine Rede im Palais Beauharnais in Paris, dem Gebäude der deutschen Botschaft, wo sich, wie er ausdrücklich anmerkte „auch zwei Jahrhunderte französische-deutsche Beziehungen wiederspiegeln“. In diesem Gebäude befand sich in den Jahren 1940 bis 1944 die politische Schnittstelle zwischen der deutschen Besatzungspolitik, vertreten durch den Botschafter und Diplomaten

des Auswärtigen Amtes, Otto Abetz, und der französischen Kollaboration unter Marschall Petain.

Die expansive Konzeption des deutschen Kapitals läuft seit mehr als 100 Jahren darauf hinaus, den Großraum Europa, zumindest Kontinentaleuropa, zu beherrschen, um von der Basis eines solchen gewaltigen Binnenmarktes aus offensiv um die Hegemonie auf dem Weltmarkt zu kämpfen. Diese Orientierung kennt ihre gewaltsame Seite. Bereits in Zeiten, in denen diese im Zentrum stand, gab es Denkschriften mit Formulierungen, die weitgehend identisch

mit denen sind, die heute die deutsche EU-Politik kennzeichnen. Am 2. Februar 1945, als Frankreich bereits befreit war, das NS-Regime jedoch noch herrschte, fand im Berliner Hotel Adlon ein Treffen führender Mitglieder des Mitteleuropäischen Wirtschaftsrats (MWT) – darunter die damaligen deutschen und späteren westdeutschen Banker Karl Blessing und Hermann Josef Abs – statt. Grundlage der Beratung war ein Arbeitspapier mit dem Titel „Weg zu Europa, Gedanken zu einem Wirtschaftsbündnis europäischer Staaten“. In der Schrift wurde die Hoffnung auf eine „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ festgehalten, in der die deutsche Industrie aufgrund ihrer – wie es dort wortwörtlich heißt – „kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen“ zum „Fahnenträger“ werden und Europa in einer zweiten Phase auch „politisch einigen“ müsse.

Der Historiker Reinhard Opitz bilanzierte 1969 auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Arnoldsheim im Taunus: „Noch ehe Deutschland kapituliert hatte, war in einem Kreis von Industriellen, die bis zuletzt für die gewaltsame Einigung Europas durch Deutschland gekämpft hatten, die Idee der EWG geboren worden, die dann ab 1949 zum Inhalt der Westeuropapolitik aller Bundesregierungen wurde.“

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die westdeutsche Europapolitik noch deutsche Wirtschafts- und Industriepolitik. In der aktuellen Situation ist sie primär Politik eines weitgehend losgelösten Finanzsektors – und damit umso abenteuerlicher.


Heft 37/2016

Schlachtfest

Die Übernahme von Opel durch PSA wird zu einer brutalen Rationalisierungswelle in der gesamten Autobranche beitragen

Hätte jemand vor einem halben Jahr vorgeschlagen, Opel möge doch mit dem französischen Autohersteller Peugeot (PSA) zusammengehen, so wäre dies von allen relevanten Gesprächspartnern in Deutschland – im Opel-Betriebsrat, bei der IG Metall, in der Berliner Regierung, bei den Ministerpräsidenten der drei Bundesländer mit Opel-Standorten – schlicht als Schnapsidee bezeichnet worden. Nun, nachdem die Entscheidung fiel und der französische Konzern PSA dem US-amerikanischen Autokonzern GM seine deutsche Marke Opel abkauft, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der deutschen Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries und der Ministerpräsidenten von Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen: „Das heutige Signing (die Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen GM, PSA und Opel; W.W.) ist ein erster Schritt, um in Europa einen europäischen Global Player durch den Zusammenschluss von Opel/Vauxhall und PSA auf den Weg zu bringen.“

Die Erklärung zeigt nicht nur, dass Sprache verräterisch sein kann. Es handelt sich vor allem um ein Statement, das die Wirklichkeit auf den Kopf stellt und den menschlichen Verstand beleidigt. Bleiben wir nüchtern und halten wir drei Dinge fest.

Erstens: Mit der Opel-Übernahme befinden sich drei ähnlich starke Automarken, Peugeot, Citroen und Opel bzw. Vauxhall unter einem Konzerndach. Diese buhlen in vergleichbaren Preisklassen mit vergleichbaren Modellen um eine vergleichbare kaufstarke bzw. nachfrageschwache Kundschaft. Selbst der beruhigende Hinweis vom PSA-Boss Carlos Tavares, PSA sei in Frankreich und im „Süden Europas“ und Opel in Deutschland stark, überzeugt nicht. In Deutschland konkurrieren Peugeot und Citroen direkt mit Opel. Es gibt längst Produktionsverbindungen zwischen Opel und PSA – zu Lasten von Opel. Und auch in Spanien sind beide Unternehmen direkte Konkurrenten: Dort produziert  Opel 360.000 und PSA 500.000 Autos.

Zweitens: Beide Autokonzerne, PSA und Opel, sind auf den schwächsten der drei großen Pkw-Märkte, auf Europa, konzentriert. Sie sind beide in den USA nicht und in China kaum präsent. Und diese Konzentration auf Europa erhöht sich mit dem Zusammengehen noch. Bislang hing PSA zu 60 Prozent vom europäischen Markt ab. Mit Opel liegt diese Mühlstein-um-den-Hals-Marke bei knapp 70 Prozent.

Drittens: Auch nach der Übernahme spielt der neu zusammengesetzte Konzern PSA weltweit in der zweiten Liga. Global Player ist etwas anderes. PSA hat zusammen mit Opel eine rechnerische Jahresproduktion von weltweit 4 Millionen Pkw. Der Konzern liegt damit noch unter dem Niveau von Nissan (5,2 Mio), Fiat (4,8 Mio) und Honda (4,5 Milo). Die Distanz zur Top-Klasse (VW und Toyota mit 10, Hyundai mit 7,5 und GM dann – ohne Opel – mit gut 6,5 Millionen Pkw) bleibt weiter groß. Vor allem aber ist auch der neue PSA-Konzern in China, auf dem heute bereits wichtigsten und in Zukunft absolut entscheidenden Automarkt, völlig unzureichend vertreten. Opel gibt es in der VR China nicht. PSA unterhält dort zusammen mit dem chinesischen Hersteller Dongfeng ein Joint Venture. Die Jahresproduktion liegt bei 750.000 Pkw. Zum Vergleich: VW produziert in China 3,4 Millionen Pkw, GM 1,7 Millionen.

Das soll nicht heißen, dass es in Bälde nicht neue überraschende Konstellationen geben könnte. Es kann auch sein, dass Tavares einen „großen Plan“ in der Tasche hat, der zu seinem übergroßen Ego passen würde. (…)

Seit vielen Jahren fordern führende Kapitalisten in Frankreich, allen voran der Renault-Chef Carlos Ghosn und der aussichtsreiche Präsidentschaftsbewerber Emmanuel Macron, den Rückzug des französischen Staates aus den Industriebeteiligungen, so bei Renault. Letzteres wiederum ist  die Voraussetzung dafür, dass Renault bei Nissan auch die seit langem angestrebte Aktienmehrheit übernehmen kann. (…)

Doch gleichgültig, ob solche Allmachtphantasien im Spiel sind oder ob es zunächst „nur“ bei dem Dreimarken-Zusammenschluss Peugeot-Citroen-Opel bleibt: Auf der Tagesordnung steht ein massives Rationalisierungsprogramm bei Opel und PSA. Zehntausende Arbeitsplätze sind akut bedroht. Tamares hat seit seinem Antritt als PSA-Boss 2013 gezeigt, dass er ein harter Sanierer ist. Pro Jahr werden dort 2000 PSA-Jobs vernichtet. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde auf bis zu 44 Stunden erhöht. Nachtarbeit und Flexibilisierung wurden deutlich gesteigert. Die Garantien, die PSA bei Opel gab, reichen gerademal ein paar Monate über die Bundestagswahl hinaus. Spätestens im Frühjahr 2018 wird Tamares Werksschließungen verkünden. Dann hoffen die deutschen Opel-Vertreter, es möge die britischen Vauxhall-Leute treffen. In Eisenach mag man erwarten, dass  es zunächst Kaiserlautern an den Kragen geht. Die Bandarbeiter werden argumentieren, dass die Entwicklungsabtei lung in Rüsselheim aufgebläht ist. Und die Opel-Beschäftigten im polnischen Gliwice können darauf verweisen, dass sie im Vergleich zu den Opel-Kollegen im spanischen Saragossa weniger als die Hälfte kosten und an den moderneren Anlagen malochen. Diese Art Teile-und-herrsche Spiele gab es nach dem beeindruckenden Streik  bei Opel in Bochum 2004: Die Solidarität der anderen Opel-Standorte blieb aus; das Werk in Bochum wurde geschlossen. Es gab sie übrigens auch 1984, als es zuvor eine durchaus vergleichbare Übernahme gegeben und PSA die europäischen Werke von Chrysler (Ex-Simca, später Talbot) übernommen hatte.

Ein derartiges Auseinanderdividieren steht spätestens 2018 neu auf der Tagesordnung, wenn es nicht bei den Belegschaften und deren Vertretungen zu einer grundlegenden Neuorientierung und einer Rückbesinnung auf die Solidarität kommt.

Auf die Frage nach Garantien für den Erhalt der Opel-Standorte antwortete Tamares recht offenherzig: „Das einzige, was uns beschützt, ist Leistung.“ Das sagt ein Mann, der sich in seinem Arbeitsvertrag ausbedungen hat, an 22 Wochenenden im Jahr weiter Motorsport-Rennen fahren zu dürfen und der sich im letzten Jahr das Gehalt für seine Leistung auf 5,2 Millionen Euro verdoppeln ließ.


Heft 38/2016

Die kommende Krise

Gründe für den langen Zyklus und die Rahmenbedingungen am Ende des Zyklus

Die Weltwirtschaft als Ganzes wächst 2017 im achten Jahr in Folge. Sie befand sich 2009 noch in einer Rezession (in den westlichen Industriestaaten war dies eine schwere Wirtschaftskrise, die auf der Weltebene durch die anhaltende chinesische Konjunktur abgemildert wurde) und sie erlebte 2010 ihr erstes Aufschwungsjahr. Die deutsche Ökonomie wächst 2017 bereits das neunte Jahr in Folge. Hier – wie im übrigen Europa und in Nordamerika – war 2008 das entscheidende Krisenjahr. 2009 setzte der Aufschwung ein. Damit erleben wir eine lange Periode mit einem gewissen wirtschaftlichen Wachstum. Es liegt in so gut wie allen kapitalistischen Industriestaaten – auch in der VR China – deutlich niedriger als in den vorangegangenen Zyklen. Doch es gibt diese acht oder neun Jahre mit wirtschaftlichem Wachstum.

In den USA gab es in jüngerer Zeit zwei vergleichbar lange Wachstumsperioden. Eine erste unter den US-Präsidenten Ronald Reagan und George H. Bush in den Jahren 1982  bis 1991. Und eine zweite unter US-Präsident Bill Clinton 1992 bis 2001. In Deutschland gab es 1982 bis 1992 eine nochmals längere Wachstumsperiode, wobei diese durch den Kollaps der DDR und den damit verbundenen Sonderboom für die westdeutsche Wirtschaft gewissermaßen künstlich verlängert worden war.

 Wo also bleibt die Krise? Oder findet das statt, was offizielle Ideologie in der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist: ein „verstetigtes Wachstum“?

Doch daran glauben nicht einmal die Gesundbeter des Kapitals. Die Börsen-Zeitung berichtet am 24. Mai von einem „Auseinanderlaufen der Stimmungsindikatoren und der harten Fakten“: „Irritierend ist, dass sich die Unternehmen mit Investitionen zurückhalten, zugleich aber in Umfragen von einer schon fast überschäumenden Stimmung in den Chefetagen berichtet wird. Trauen sie dem Frieden nicht? Sind sie skeptischer, als sie den Prognostikern mitteilen?“ Der Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick konstatiert: „Konjunkturzyklen lassen sich schwer vorhersagen. Aber auf lange Sicht haben wir alle acht Jahre eine Rezession. (…) Mit jedem Tag (…) steigt das Risiko.“

Halten wir fest: Seit mehr als 200 Jahren, seit Anfang des 19. Jahrhunderts, lassen sich die Industriezyklen des Weltkapitals statistisch belegen. Bis zur jüngsten schweren Wirtschaftskrise 2007/2008 gab es 25 industrielle Zyklen. Alle mündeten sie in einer Rezession. Einige in einer schweren Krise. Vier dieser Krisen – 1873, 1929-32, 1974/75 und 2007-2009 – können als historische Krisen bezeichnet werden.

Nun gibt es eine Reihe Faktoren, die die Länge der aktuellen Konjunkturphase erklären. Es gibt einige warnende Zeichen an der Wand, die auf die kommende Krise verweisen. Und es gibt gute Gründe für die Befürchtung, dass die nächste Krise mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen, wenn nicht mit einer sozial explosiven Situation verbunden sein wird.

Der lange und verlängerte Konjunkturzyklus wird bislang ermöglicht erstens durch die Tiefe der Krise 2007/2008 – ein erheblicher Teil des Konjunkturzyklus besteht darin, die damals gerissenen Dellen auszugleichen. Zweitens durch das historisch niedrige Zinsniveau und die lockere Geldpolitik der im Westen maßgeblichen Zentralbanken. Und drittens durch das anhaltende relativ hohe Wachstum auf dem größten kapitalistischen Markt, in der VR China, und  den weiterhin hohen Exporten des chinesischen Exportweltmeisters. (…)

Hinsichtlich einer konkreten Prognose für die kommende Krise sei zustimmend der Manchester Guardian vom 1. September 1931 zitiert: „Wir wissen mehr über den Kreislauf der Erde um die Sonne und der Sonne um das Universum als wir über die Industriezyklen wissen.“ Dass es diese Krise geben wird, ist, das sei bewusst wiederholt, sicher. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, auf die diese Krise treffen und in denen sie sich ausbreiten und austoben wird, zeichnen sich allerdings deutlich ab. (…)

Die Möglichkeiten der bürgerlichen Regierungen in einer neuen Krise mit erhöhten Staatsausgaben zu intervenieren, sind heute – im Rahmen der kapitalistischen Grund-, Boden- und Finanzordnung – wesentlich geringer als 2008/2009. Die Staatsschulden der G7-Staaten machten am Beginn der letzten Krise rund 85 Prozent des G7-Bruttoinlandsprodukts aus. Diese Staatsschuldenquote lag damals nur unwesentlich über dem Niveau von 2000, dem Jahr vor der vorausgegangenen Krise. Seither gibt es den erheblichen Anstieg dieser Quote auf knapp 120 Prozent. Im Fall der griechischen Ökonomie konnten Schäuble, Dijsselbloem & Co. die Möglichkeit einer Staatspleite einplanen. Eine Staatspleite von Italien mit einer Schuldenquote von 133 Prozent würde jedoch das gesamte EU-Finanzsystem bedrohen. Das Finanz-Zwangsregime, das mit den hohen Schuldenquoten verbunden ist, droht in der Krise den repressiven und antisozialen Charakter staatlicher Maßnahmen zu verschärfen.

China rettete 2008 die Weltwirtschaft, indem die Regierung die eigene Ökonomie mit massiver zusätzlicher Staatsnachfrage stimulierte und stabilisierte. Das dürfte in einer neuen Weltkrise kaum wiederholbar sein; die innere Verschuldung in China hat sich dramatisch  erhöht; das Niveau dieser Schulden und der Anteil fauler Kredite in diesem Schuldenmeer ängstigt nicht nur die KP-Führung in Peking.

Schließlich gibt es diese unglaubliche und weltgeschichtlich einmalige Macht- und Reichstumskonzentration, die gerade im jüngsten Zyklus auf ihr aktuelles, obszönes Niveau angehoben wurde. Jean Ziegler: „Zwischen den extrem Reichen und der anonymen Masse der Ärmsten wächst die Ungleichheit unaufhaltsam an. Die Finanz- und Wirtschaftskraft der 562 reichsten Personen in der Welt ist zwischen 2010 und 2015 um 41 Prozent gewachsen, während die der drei Milliarden ärmsten Menschen um 44 Prozent abgenommen hat.“ Ziegler ist sich sicher: „Wir sind in der Endphase des Klassenkampfs. Die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse steht unmittelbar bevor.“

Insbesondere mit Blick auf die kommende Krise und vor dem Hintergrund der Klimaveränderung könnte Ziegler Recht haben.


Heft 40/2016

Letter of intent: Ja zur Rüstung

Über die geheime Kommandosache PESCO/SSZ

Bei Umfragen in Deutschland und in Österreich gibt es regelmäßig Mehrheiten für wichtige friedenspolitische Positionen: gegen Waffenexporte und für Abrüstung, gegen Auslandseinsätze und für atomare Abrüstung. In Berlin und in Wien werden gerade Koalitionsverhandlungen geführt. Dennoch trafen die Regierungen in Berlin und in Wien – und mit ihnen 21 andere in der EU – am 13. November 2017 eine wichtige, fatale Entscheidung. Sie unterzeichneten in Brüssel die PESCO-Akte.

PESCO steht für Permanent Structured Cooperation. Auf deutsch hat das Projekt die Abkürzung SSZ, was Ständige Strukturierte Zusammenarbeit meint. Wobei das Versteckspiel mit dem nichtsagenden Namen bereits Programm ist. PESCO bzw. SSZ bezeichnet das EU-Projekt der immer engeren militärischen Zusammenarbeit und der Hochrüstung. Sebastian Kurz, der als Noch-Außenminister und designierter Kanzler Österreichs die PESCO-Vereinbarung unterzeichnete, hob dabei Aspekte hervor, die in der Vereinbarung eher sekundär sind (u.a. die „gemeinsamen Rüstungseinkäufe“ und die „Zusammenarbeit im Ausbildungsbereich“). Ihm muss es darum gehen, PESCO als vereinbar mit der österreichischen Neutralität zu präsentieren. Was selbstverständlich unsinnig, ja grotesk ist. PESCO verpflichtet zu Auslandseinsätzen; das Kommando bei solchen EU-Militäreinsätzen wird dann nicht in Wien beheimatet sein.

Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen konnte da offener sein. Sie machte in ihrer Stellungnahme deutlich, dass es nicht um bloße Lippenbekenntnisse geht. Mit SSZ sei „endlich das Momentum für den großen Sprung“ in der „EU-Verteidigungspolitik“ da. Zwar wird bereits im EU-Vertrag (Maastricht-Vertrag) festgehalten, dass die EU-Mitgliedsländer „anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf ihre militärische Fähigkeiten erfüllen“ müssen (EU-Vertrag, Art. 42, Abs. 6). Darunter kann man viel, aber auch mal weniger viel verstehen. Doch mit PESCO verpflichten sich die unterzeichnenden EU-Mitgliedsstaaten zu einem „regelmäßigen Anstieg ihrer Verteidigungsbudgets“. Auf der Website der EU wird ausdrücklich festgehalten, dass PESCO/SSZ sich damit deutlich unterscheidet von vorausgegangenen, eher unverbindlichen Verabredungen auf militärischem Gebiet. Es geht um die Pflicht zum Aufrüsten.Um ein Ja zur  Militarisierung. Um  das Vorbereiten von Kriegen.

Es handelt sich hier nicht um eine Inner-EU-Entscheidung, die man – mitgefangen, mitgehangen – als Teil des Militaristen-Rudels zu unterzeichnen hatte. Immerhin haben sich zwei EU-Länder geweigert, PESCO zu unterzeichnen: Dänemark und Malta. Wobei der maltesische Vertreter seine Ablehnung ausdrücklich unter Bezug auf den Automatismus des Auf- und Hochrüstens begründete. Ähnlich wie im Fall der Eurogroup, die in einem getrennten EU-Bereich diejenigen Länder zusammenfasst, die besonders radikal auf Neoliberalismus setzen und dafür gegebenenfalls die Peitschen-Troika zum Einsatz bringen, wird hier ein neuer EU-Militaristen-Club geschaffen. (…)

Interessant oder auch fatal ist: Nach Bildung der neuen EU-Ingroup können die PESCO-Mitglieder im neuen Kreis ohne die EU als Ganzes entscheiden. Vetorechte werden damit obsolet. Auf qualifizierte Mehrheiten muss keine Rücksicht genommen werden. Ein Verfahren, wie wir es bereits seit einem Jahrzehnt beim Agieren der Eurogroup beobachten können. (…)

In Brüssel wurde von den Regierungen, auch den noch gar nicht existenten zukünftigen Deutschlands und Österreichs, ein gewissermaßen verpflichtender „letter of intent“ hinterlegt. Nämlich die Vereinbarung, die Rüstungsausgaben deutlich zu steigern und sich auf das Nato-Ziel von zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts hin zu bewegen.

Im Fall Deutschland läuft das auf eine Verdopplung, im Fall Österreich auf eine Verdreifachung der Rüstungsausgaben hinaus.