Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit Gründung von Lunapark21 Anfang 2008 erlebten wir drei tiefe Einschnitte: ab Sommer 2008 die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, ab Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie und ab dem 24. Februar 2022 den Krieg des Kreml gegen die Ukraine. Bei jedem dachten wir, wir erlebten eine Zeitenwende. Was zutrifft.

Der erste Einschnitt wurde der Bevölkerung als Ergebnis fataler Zockerei fern ab, in den USA, und als ein vorübergehendes Ereignis präsentiert. Lucas Zeise schrieb jedoch in Nr. 1: „Eine Weltrezession ist wahrscheinlich.“ Was dann stattfand. Wir gingen damals davon aus, dass diese Krise sich nunmehr durch das gesamte Gebäude des Weltkapitals fressen würde. Was bis heute zutrifft. Siehe die deutsche Krise. Siehe die Euro-Krise. Siehe die Griechenland-Krise. Siehe das Andauern der Krise.

Der zweite Einschnitt, die Covid-19-Pandemie, wurde uns ebenfalls als von außen hereingetragen und als in überschaubarer Zeit zu bewältigen präsentiert. Wir verbanden das Thema von vornherein mit der Globalisierung (Stichwort: Zoonose), mit der systematischen Diskriminierung des globalen Südens (keine Freigabe der Patente), mit der Klassengesellschaft (keine Bekämpfung der Pandemie hinter den Türen von Fabriken und Büros). Und mit einer Verschärfung der Krisenerscheinungen aufgrund der riesigen Summen öffentlicher Gelder zur Pandemiebewältigung, was den neuen inflationären Prozess beschleunigen muss.

Der dritte Einschnitt wird erneut als von außen kommend präsentiert: Dem Herrscher im Kreml seien die Sicherungen durchgebrannt. Was nicht falsch ist. Wir sehen jedoch auch hier die Kapitallogik: Die seit einem Jahrhundert währende Hegemonie der USA wird immer mehr durch China, das zunehmend im Verbund mit Russland agiert, herausgefordert. Der Konkurrenzlogik folgend – und die inneren Krisentendenzen abschwächend – kommt es seit eineinhalb Jahrzehnten zu einem neuen, vom Westen ausgehenden Prozess des Hochrüstens. Die Nato hat seit 1990 die Zahl der Mitgliedsländer von 16 auf 30 erhöht und sich immer mehr auf Russland zubewegt. Die US-Regierung will, in Vorbereitung auf den Showdown mit China, die EU in die „transatlantische Partnerschaft“ zwingen und dabei alle strukturellen Bindungen nach Russland, die zu „falscher Rücksichtnahme“ führen könnten, kappen.

Der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine – der durch nichts zu rechtfertigen ist – passt durchaus in die Strategie der US-Regierung. Seit dem 24. Februar steht die Welt Kopf. Grüne sind für eine höhere Pendlerpauschale und für längere AKW-Laufzeiten. Ein SPD-Kanzler will die russische Wirtschaft mit Sanktionen ruinieren. Für Putin ist Selenskyj ein Drogenabhängiger. Demokraten im Westen wollen Waffen und Söldner in den ukrainischen Befreiungskrieg schicken. VW fehlen Kabelbäume aus Kiew. Unsere freien Medien protestieren gegen die Ausschaltung der kritischen Medien in Russland. Sie beschweigen die drohende Auslieferung von Julian Assange in die USA. Schließlich berichtete der Mann lediglich über die Kriegsverbrechen der US-Army in Afghanistan und im Irak und nicht über solche der Gruppe Wagner.

Die hiesigen Start-up-Teams jammern, weil ihre IT-Sklaven in Odessa offline sind. Doch Gemach! Hunderttausende ukrainische Flüchtlinge werden in der EU mit offenen Armen empfangen und mit den erforderlichen Dokumenten für eine sofortige Arbeitsaufnahme ausgestattet. In Deutschland werden sie der Erhöhung des Mindestlohns entgegenwirken. Konfrontiert mit einer anderen Zeitenwende und mit dem Ersten Weltkrieg schrieb Ret Marut alias B. Traven:

Was diese beiden Völker [Frankreich und England] gekriegt und gekriegt haben! Zwei deutscheWorte: gekriegt und gekriegt. Kann die Sprache treffender zum Ausdruck bringen, dass Reichtumerwerben (Geld oder Land kriegen) und Abschlachten anderer Völker zusammen gehören? Füretwas bekommen“, für „etwas erraffen“ und für „Krieg machen“ dasselbe Wort: kriegen. So etwas erregt Verdacht.*

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Eine Abonnentin hat uns mitgeteilt, dass ihre Katze sich nicht länger von ihr streicheln lassen mochte, nachdem ihre Halterin die Lunapark21 durchgeblättert hatte, und auch andere Lesende berichteten, dass die vorige Ausgabe einen unangenehmen Geruch aufwies. Unsere Nachfrage bei der Druckerei ergab, dass neue biologische Druckfarben die Ursache seien und man dem Problem beizukommen suche. Wir hoffen daher, mit dieser Ausgabe ein olfaktorisch angenehmeres Ergebnis vorzulegen.

Viele Erkenntnisse bei der Lektüre – und ein umfassendes Engagement gegen jede Art von Militarisierung und Krieg – wünscht Winfried Wolf

*Ret Marut (B. Traven), in: Ziegelbrenner Heft 5/6/7/8, 9. November 1918, Seiten 149f.