Die Taschenspielertricks des Monsieur Macron

In Frankreich suchen Regierung und Kapital nach einem besseren Platz im Staaten-Ranking

Der französische Kapitalismus hat ein strukturelles Defizit gegenüber dem wirtschaftlich stärkeren deutschen Nachbarn. Bürgerliche Ökonomen bezeichnen es als „mangelnde Wettbewerbsfähigkeit“. Sie predigen als Ausweg eine Senkung des Anteils von Löhnen und Gehältern am gesellschaftlichen Mehrprodukt, um den Anteil der Gewinne zu steigern und so die Unternehmen zu stärken. Das Problem dabei ist nur, dass nahezu alle Staaten inner- und außerhalb der EU bereits dieselbe Strategie verfolgen.

Auf Frankreichs Territorium wurden etwa im Jahr 2005 noch drei Millionen Kraftfahrzeuge (Pkw, Lkw, Busse; ohne landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge) produziert oder aus teilweise im Ausland hergestellten Teilen zusammenmontiert. Im Jahr 2017 waren es mit 1,675 Millionen Einheiten nur noch gut die Hälfte. (Les Echos vom 16. April 2018:: „La France remonte sur le podium européen de la production automobile“) Allerdings erklärt sich diese deutliche Absenkung, die 2007 mit der Schließung des großen Citroën-Werks im Pariser Vorort Aulnay-sous-Bois begann und sich im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 fortsetzte, auch weitgehend aus der Strategie der französischen Automobilkonzerne wie Renault und PSA selbst. Diese errichteten komplette Produktionswerke in Slowenien, Rumänien (mit Dacia) oder in der Slowakei und rechneten vor, dort betrage der Stundenlohn mitsamt Sozialabgaben durchschnittlich 11,5 Euro pro Stunde – im slowakischen Falle – gegenüber 38,80 Euro in Frankreich. Hinzu kommt inzwischen eine Montageproduktion von Renault in Marokko und die Übernahme von Opel durch PSA, wobei Opel wiederum in Polen Werke im Niedriglohnsektor hat.

Frankreich, das als nationaler „Standort“ dadurch geschwächt wird, obwohl seine Konzerne von dieser Veränderung in der internationalen Arbeitsteilung profitieren, steht damit aktuell auf Platz drei in der europäischen Automobilproduktion hinter Deutschland (5,64 Millionen Einheiten im Jahr 2017) und Spanien (2,29 Millionen). Es zog 2017 erneut vor das Vereinigte Königreich, wo die Produktion auf 1,671 Millionen sank – der Brexit und die erwarteten Veränderungen bei den Import- und Exportbedingungen warfen dabei ihre Schatten voraus. Diese grundlegende ökonomische Schwäche wird auch bei einem Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Strategisch setzen die französischen Eliten auf den Erhalt bestimmter Kernsektoren, bei denen Frankreich führend sein soll. Sie werden nunmehr bestraft für diese einseitige Ausrichtung und dafür, dass das Land lange Zeit maßgeblich von kolonialen und postkolonialen Extraprofiten zehrte. Auch heute ist es so, dass noch immer, preisgünstige Rohstoffe besonders aus West- und Zentralafrika bezogen werden.

Zu diesen Kernsektoren zählt die Nuklearindustrie. Hier wollen die Entscheider in Frankreich nichts anbrennen lassen. Der unter der sozialdemokratischen Regierung der Jahre 2007 bis 2012 angekündigte Rückbau des Atomstrom-Anteils an der Elektrizitätsversorgung von 75 auf 50 Prozent wurde 2018 vom ursprünglich geplanten Zieldatum 2025 gleich auf 2035 verschoben. Dabei wurden „Klimaschutzziele“ und die Ablehnung der Verbrennung fossiler Rohstoffe als Vorwand genommen. Zwar soll das Uralt-Atomkraftwerk im elsässischen Fessenheim bis 2022 endlich stillgelegt werden. Doch stellt der Energiemonopolist EDF (Electricité de France) de facto ein Junktim mit dem Anlaufen des ersten AKW der neuen Generation EPR – Europäischer Druckwasserreaktor – im normannischen Flamanville her. Die Inbetriebnahme, die ursprünglich einmal 2012 hätte stattfinden sollen, ist allerdings deutlich in Verzug geraten; mit einer Fertigstellung wird nun frühestens für den Winter 2019/2020 gerechnet. Ein Glück für EDF, dass in China – wo man doch erheblich weniger Fragen zu Themen wie Sicherheit und Bürgerbeteiligung stellt – in Taishan das erste Atomkraftwerk vom Typ EPR, an dem der französische Stromriese mitbaute, im Juni 2018 ans Netz gehen konnte. Unterdessen ist EDF an weiteren neuen AKW-Anlagen beteiligt, so in Großbritannien, in der Türkei und in arabischen Staaten.

Auf die Dauer wird eine solche Marktführerschaft in einzelnen Sektoren jedoch nicht ausreichen, zumal die Nuklearenergie seit dem AKW-Unfall im japanischen Fukushima (2011) nun international nicht mehr als „Zukunftstechnologie“ anerkannt wird. Auf mehreren anderen Gebieten verpasste das französische Kapital technologisch den Anschluss oder veräußerte seine Filetstücke selbst, wie 2014 im Fall der Übernahme des Turbinen- und Anlagenbauer Alstom durch den US-amerikanischen Konzern General Electric (GE). Und die als „historisch“ gefeierte französisch-japanische Allianz zwischen den Autobauern Renault und Nissan könnte ihr Ende gefunden haben: Am 18. November 2018 nahm die japanische Justiz den gemeinsamen Vorstandsvorsitzenden Carlos Ghosn wegen Steuerhinterziehung in Haft. In Teilen der französischen bürgerlichen Presse ist die Rede von einem „Putsch der Japaner im Konzern“. Tatsächlich dürften hier innerimperialistische Widersprüche zum Ausdruck kommen (siehe den folgenden Beitrag).

Was also tun? Einerseits erhofft das französische Kapital sich Vorteile durch den Brexit, indem Finanzdienstleistern, die aus der City of London abziehen, die Ansiedlung in Frankreich durch Steuer- und andere Vorteile schmackhaft gemacht wird. Die Europäische Bankenaufsicht, die London verlässt, hatte sich Ende 2017 für einen neuen Standort im Pariser Geschäftsviertel La Défense entschieden. Auf der anderen Seite setzt man auf eine weitere Verschiebung der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Erstgenannten.

Unter dem Vorgänger von Frankreichs jetzigem Präsidenten, also dem Sozialdemokraten François Hollande – er residierte von 2007 bis 2012 im Elysée-Palast – fand diese Orientierung ihren Ausdruck in einem Steuer- und Abgabennachlass mit der Bezeichnung CICE (Crédit d’impôt compétitivité emploi, also „Steuerkredit für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“) seinen Ausdruck. Er wurde zum 1. Januar 2013 eingeführt und kostet den Fiskus (also die Steuerzahlenden) offiziell zwanzig Milliarden Euro pro Jahr. Sein Mechanismus besteht darin, die Kosten der Beschäftigung von Lohnabhängigen für die Unternehmen pauschal zu reduzieren: In der Anfangsphase wurden den Betrieben vier Prozent, später (ab 2014) dann sechs Prozent der gesamten Lohn- und Gehaltssumme von den zu zahlenden Steuern und Abgaben abgezogen. Zum Jahresende 2018 ist seine Abschaffung geplant. Bis dahin kostete er die öffentliche Hand also einhundert Milliarden Euro (genauere Bilanzierungsversuche kommen mittlerweile insgesamt auf 99,3 Milliarden Euro). Gegenleistungen seitens der Unternehmen gab es keine. Zwar erhoffte sich die Regierung als Gegenleistung die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen . Doch überprüft oder gar zur Bedingung gemacht wurde dies nie. Ein offizieller Auswertungsbericht für die Regierung vom 3. Oktober 2018 spricht vage von „10.000 bis 200.000“ geschaffenen Arbeitsplätzen. Im ersteren Falle würden einem einzigen Job dabei Kosten für die Allgemeinheit in Höhe von zehn Millionen Euro (in fünf Jahren) gegenüberstehen.

Der CICE soll jedoch nicht spurlos verschwinden, sondern vielmehr in eine allgemeine, strukturelle und dauerhafte Absenkung von so genannten Lohnnebenkosten überführt werden. Dies ist eine der unternehmerfreundlichen Maßnahmen von Präsident Emmanuel Macron.

Die damit verbundene Austrocknung von Steuer- und Sozialkassen versuchte seine Regierung dadurch zu kompensieren, dass unterschiedliche Abgaben angehoben wurden, etwa solche, die auch auf den Rentnern lasten wie die faktische Kopfsteuer unter dem Namen „Allgemeine Sozialabgabe“ (CSG): Diese betrug vor dem Amtsantritt Macrons 7,5 Prozent des zu versteuernden Einkommens, inzwischen wurde sie auf 9,2 Prozent angehoben. Vor allem diese CSG-Abgabe hat zu viel Verbitterung im Lande geführt. Als Zugeständnis an die Protestbewegung der „Gelben Westen“ hat Macron am Abend des 10. Dezember angekündigt, Rentner mit Einkünften bis zu 2.000 Euro individuell oder 3.000 Euro für Paare sollten ab dem kommendem Jahr von der CSG-Zahlungspflicht ausgenommen werden.

Weitere Konzessionen Emmanuel Macrons an die Protestierenden werden wiederum die Steuereinnahmen oder Sozialsysteme zusätzlich belasten. So sollen Überstunden künftig nicht mehr besteuert und auf diese keine Sozialabgaben mehr erhoben werden. Dies hat einen negativen Beschäftigungseffekt: Die vorhandenen Arbeitskräfte werden damit besser „genutzt“ oder ausgebeutet; es müssen weniger Lohnabhängige eingestellt werden. Die öffentlichen Kassen verlieren aufs Neue Geld. Die von Macron angekündigte Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC (Salaire minimum interprofessionnel de croissance; er beträgt derzeit gut 1.150 Euro netto) „um einhundert Euro monatlich“ ab Februar 2019, soll dabei die Unternehmen „keinen Euro zusätzlich kosten“, wie das Staatsoberhaupt hinzufügte.

Das vermeintliche Rätsel findet seine Lösung darin, dass es sich eben nicht um eine Lohnerhöhung handelt, sondern um einen Steuerkredit für Niedriglohnverdiener. Dieser sollte ab 2020 ohnehin eingeführt werden. Dies wird nun lediglich vorgezogen. Diese Maßnahme wurde ursprünglich damit begründet, dass Erwerbsarbeit „attraktiver als das Leben von Sozialleistungen“ gemacht werden sollte. Nun wird er eben als Einkommenssteigerung zur Befriedung sozioökonomisch motivierten Protests verkauft. 45 Prozent der Mindestlohn-Bezieher bleiben allerdings davon ausgeschlossen, da das Einkommen des Partners angerechnet wird. Das Ganze sind Taschenspielertricks, die von den Betroffenen zunehmend auch als solche erkannt werden.

Die angekündigten neuen Maßnahmen sollen die Unternehmen direkt keinen Cent kosten. Die Staatsausgaben werden auf diese Weise jedoch um zehn Milliarden erhöht. Nun ist Macrons Regierung eifrig darum bemüht, der EU-Kommission und der Berliner Bundesregierung auf ihre Vorhaltungen hin zu erläutern, dass man dennoch „nicht finanzpolitisch verantwortungslos“ gehandelt habe.

Die Lösung wird mittelfristig darin bestehen, dass es zumindest teilweise zu einem finanziellen Kollaps der Sozialkassen wie der Arbeitslosen- und der Krankenversicherung kommt. Da trifft es sich gut, dass ohnehin für Renten- und Arbeitslosenkasse ab 2019 grundlegende „Reformen“ eingeleitet werden sollen. Mehr Selbstverantwortung durch die Lohnabhängigen und die Bürger – den vermeintlichen Ausweg meint man bereits zu erahnen.