Den Kapitalismus retten


Eine Strategiediskussion hochrangiger Denkfabriken – ein Bericht

Anfang September 2018 trafen sich Banker, Industrielle, Politiker und Wissenschaftler zum „Dialog der Kontinente“ im noblen Pariser Shangri-La-Hotel mit Blick auf den Eiffelturm. Der Einladung des Komitees Reinventing Bretton Woods und des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) waren knapp hundert ausgewählte Köpfe aus Europa, Südostasien und Lateinamerika gefolgt. Auffällig war die weitgehende Abwesenheit US-amerikanischer Führungskräfte. Der Autor verdankt seine Teilnahme einer glücklichen Fügung und der ungewöhnlichen Offenheit der Veranstaltung.

„Drifts or Connectivity“ (auseinandertriften oder verbunden sein) lautete die Überschrift zur dreitägigen Zusammenkunft, womit die Ängste der anwesenden Kapitalvertreter und Wirtschaftsinstitute vor einem zunehmenden Auseinanderdriften ökonomischer Großräume treffend umschrieben ist. Ihre Hoffnungen setzten sie, das war nach einem Dutzend Plenarsitzungen klar, erstens in eine verstärkte chinesisch-europäische Kooperation, wenn nötig und vorhersehbar auch unter dem neuen Modell eines staatsgelenkten Kapitalismus, und zweitens auf die Entwicklung künstlicher Intelligenz mit ihren Möglichkeiten eines ungeahnten Rationalisierungsschubs, der zugleich die Arbeitswelt, wie wir sie kennen, transformieren wird. An selbstkritischen Tönen mangelte es nicht, man war ja auch weitgehend unter sich.

Schreckgespenst Handelskrieg

Den Anfang machte Jonathan Fried, persönlicher Repräsentant des kanadischen Ministerpräsidenten für die G20. Unter der Moderation von Piroska Nagy-Mohacsi, Programmleiterin der London School of Economics, gab er einen Überblick über die weltweite Entwicklung von Zöllen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Anfangs, so sein Resumée, schaffte man es in kurzer Zeit, die durchschnittlichen Zölle bei Industriewaren auf 40 Prozent (1947 in Genf) zu senken, reduzierte sie nach einem halben Verhandlungsjahr 1949 in Annecy auf 30 Prozent, in Dillon 1960 auf 25 Prozent und später auf 5 Prozent. Seit der Doha-Runde 2001 stecke man fest. Sorgen bereiteten ihm neben den relativ schwer kontrollierbaren, nichttarifären Handelshindernissen vor allem die Unaufmerksamkeit, mit der Statistiken an das Thema Zölle herangehen. Die weltweiten Güterketten, so Fried, seien wie Nudeln in einer Spaghetti-Schüssel miteinander verwoben. Darauf würde viel zu wenig Augenmerk gelegt. Folglich gelte es, die „Import-Anteile von Exporten“ stärker zu beachten, dann würden auch die Befürworter protektionistischer Maßnahmen wie Donald Trump erkennen, dass die neue US-Zollpolitik gegen China zu einem guten Teil US-Unternehmen schädigt, deren Waren in chinesischen Produkten stecken, die nun beim Eintritt in den US-Markt auf Schutzzölle treffen. Bis 2020 würde der Trump’sche Handelskrieg für die Weltwirtschaft Kosten in Höhe von knapp 500 Milliarden US-Dollar verursachen – so eine Schätzung der Agentur Bloomberg.

Nicht zur Sprache kam in Frieds Plädoyer für Freihandel interessanterweise die US-amerikanische Embargo-Politik, die seit 1947 unter dem Kürzel „Cocom“ (Coordinating Committee) sämtliche kommunistischen Länder betraf und erst 1991 für Ungarn – als erstem Ex-RGW-Land – aufgehoben wurde. Heute bekriegen die USA gut zwei Dutzend Länder über einseitig deklarierte Embargomaßnahmen. Den postulierten Freihandel sieht der G20-Fachmann davon offensichtlich nicht eingeschränkt.

Yves Mersch von der Europäischen Zentralbank beschrieb sein Betätigungsfeld – „Europa“ – wenig verwunderlich als Standort für Multilateralismus, Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Um dem gerecht zu werden bzw. den von mehreren Seiten drohenden Protektionismen wirksam begegnen zu können, schlug er bekannte Rezepturen vor: Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und der Fiskalpolitik, den Aufbau EU-weiter Banken statt nationaler Banken und die Stärkung des Europäischen Stabilitätspakts (ESM). Letzteres ist ein jenseits des regulären EU-Budgets aufgelegter Fonds in Höhe von 700 Milliarden Euro mit einer Haftung bis zu 1400 Milliarden Euro und – was seine Struktur betrifft – eine Kapitalgesellschaft. In ihr hält Deutschland mit 27 Prozent die Sperrminorität.

Die Vizegouverneurin der Banque de France und langjährige Beraterin von Romano Prodi, Sylvie Goulard, hielt dann eine Rede, die einer sozialdemokratischen Wahlkampfveranstaltung hätte entnommen sein können. Sie zeigte Verständnis für die kleinen Leute, die von Politik und „den Märkten“ enttäuscht sind: „Nicht alle haben Jobs wie wir und treffen sich im Shangri-La oder den Vier Jahreszeiten“, meinte sie. Lösungen der Krise, die – was es zu verhindern gelte – in einem Euro-Exit-Szenario gipfeln könnten, wären nicht technisch herbeizuführen, sondern erforderten sozialpolitische Maßnahmen. Viel konkreter wurde Goulard allerdings nicht.

Der polnische Politikwissenschaftler und Ralf Dahrendorf-Fellow Jan Zielonka nahm sich dann der seiner Meinung nach fehlgeleiteten EU-Politik an, deren Dilemma er auch dem Personal – namentlich Figuren wie Jean-Claude Juncker und Donald Tusk – anlastete. „Wir haben es in unseren Gesellschaften mit einer Welle zu tun, die das ganze liberale Paradigma in Frage stellt“, warnte er. Das Integrationsmodell habe seine Grenzen erreicht, Reformen seien blockiert, illiberale Kräfte auf dem Vormarsch. „In Polen“, so Zielonka weiter, „gibt es keine Bank ohne Aircondition und kein Spital mit Aircondition.“ Das sage eigentlich alles über den Zustand der Gesellschaft. Seiner harschen Kritik an den Auswirkungen des ungehemmten Liberalismus folgte indes keine fortschrittliche, linke Vision, sondern der Aufruf, politisch das „Monopol der Nationalstaaten“ in der EU zu brechen. Dafür schlug er die Errichtung einer zweiten Kammer im europäischen Parlament vor, die sich aus Regionen, Städten, NGOs und Unternehmen zusammensetzen soll. Wirtschaftsdemokratie auf Basis von Kapitalkraft, die er von zivilgesellschaftlichen Organisationen kontrolliert wissen will.

Die große Hoffnung: Seidenstraße

Chinas neue Seidenstraße, die Belt-and-Road-Initiative, beherrschte dann die folgenden Plenarsitzungen. In sie wurde jene „connectivity“ hineininterpretiert, die Investoren weltweit so nötig haben, um dem Schreckgespenst des Auseinanderdriftens von Märkten erfolgreich Paroli bieten zu können. Quasi zum Aufwärmen meldete sich der Gouverneur der georgischen Nationalbank, Koba Gvenetadze, zu Wort. Gerade eben, so Gvenetadze, habe sein Land ein Freihandelsabkommen mit China unterzeichnet. Zusammen mit einer Politik der ungehinderten Marktöffnung und einem Regime flexibler Wechselkurse zählte die Belt-and-Road-Initiative zum Garanten einer zukunftsfähigen Entwicklung. Nicht weniger kritiklos schwärmte die pakistanische Finanz- und Planungsreferentin Shamshad Akhtar von chinesischen Investitionen in ihrem Land, wo der Hafen Gwadar zu einer der wichtigsten europäisch-asiatischen Drehscheiben ausgebaut werde. Mattia Romani von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) unterstrich die Hoffnung auf China mit Zahlen. Der Aufbau der Seidenstraße habe den pakistanisch-chinesischen Wirtschaftsaustausch innerhalb eines einzigen Jahres um 20 Prozent gesteigert.

Auf die Kraft der maritimen Streckenführung der Belt-and-Road-Initiative setzten auch EU-europäische Stimmen. So hob Iris Scheel vom Hamburger Hafen die Chancen hervor, die durch chinesische Milliardeninvestitionen in die europäische Infrastruktur gegeben seien. 20 Prozent aller europäischen Häfen, so Scheel, hätten bereits eine chinesische Kapitalmehrheit bzw. chinesische Bauherrn … Piräus, Malta, Bilbao, Seebrügge, Vado. In Hamburg werde gerade eine Diskussion darüber geführt, den bislang in städtischem Eigentum befindlichen Hafen für ausländische Investoren zu öffnen. Es sah nicht so aus, als ob sie die Person wäre, die sich dagegenstemmen würde. Sorgen machten ihr hingegen die immer größer werdenden Containerschiffe. Schon sind Giganten unterwegs, die statt bisher 14.000 TEU-Container 21.000 befördern. „Wir haben Angst, was passiert, wenn ein Riesen-Cargo-Schiff im Hafen verunfallt“. Man müsste mit einem ökologischen Desaster und negativen Auswirkungen auf die nahe Stadt und die Elbpilharmonie rechnen; zudem könnte ein Unfall auch zu einer vollständigen Blockierung der gesamten Hafeneinfahrt führen.

Während die Hamburgerin Scheel vor der Gigantomanie warnte, zeigte sich ihr italienischer Kollege Massimo Deandreis davon positiv beeindruckt. Der Generalmanager der Bankengruppe Intesa-Sanpaolo berichtete über die Chancen, die gerade Riesen-Cargo-Schiffe für das Mittelmeer brächten. Die große Anzahl an Containern macht eine direkte Verschiffung der gesamten Ladung vom Herkunfts- zum Zielhafen der schieren Menge an Gütern wegen unmöglich – kein einziger Umschlagplatz benötige 21.000 Container. Entlang der Route müssen also mehrere Häfen angelaufen werden, um die Schiffe teilweise zu entladen und wieder zu beladen. Wenn man sich die Verschiffung zwischen Shanghai zur US-Ostküste ansieht, eine der Hauptstrecken im internationalen Containerverkehr, dann führt die eine mögliche Route durch den Panamakanal und die andere durch den Suezkanal. Entlang der ersten Route über den Pazifik liegen kaum Häfen mit entsprechendem Hinterland, die ein Entladen und Beladen sinnvoll erscheinen lassen, während die Route durch den Suezkanal – so der Italiener – dem Mittelmeer eine neue Zentralität verschaffe: Alexandria, Haifa, Piräus, Triest und andere Häfen würden von den Mega-Containerschiffen profitieren. Das haben auch die Chinesen längst erkannt und sich entlang dieser Route in die wichtigsten Häfen, angefangen bei Piräus, eingekauft. Zur strategischen Absicherung dieser Streckenführung hat Peking sogar einen ersten Militärstützpunkt außerhalb seiner Grenzen eingerichtet: In Djibouti am Horn von Afrika stehen seit August 2017 Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Piräus konnte unter dieser Prämisse seinen Warenumschlag in den vergangenen Jahren um 250 Prozent steigern.

Der Präsident des Hafens von Triest, Zeno d’Agostino, rief die historische Zentralität des Mittelmeeres in Erinnerung und auch die Endpunkte der alten Seidenstraße, die China mit dem Mittelmeer und Europa verbunden haben. Es ist spürbar, dass er von der Idee begeistert ist, sich von italienischer Seite an das neue Belt-and-Road-Projekt anzuhängen.

Schritt für Schritt, so der niederländische Politologe Frans-Paul van der Putten, würden sich chinesische Investoren die europäische Infrastruktur unter den Nagel reißen. Kernstück dieser Politik ist der Handelsriese Cosco. Er kontrolliert 12 Prozent der weltweiten Containerschifffahrt. Cosco ist ein Mischkonzern, der, so van der Putten, mehrheitlich von der chinesischen KP geführt wird, die auch den CEO des Unternehmens stellt. Der Niederländer warnte: Die Belt-and-Road-Initiative folge keiner rein ökonomischen Logik, sondern sie unterliege auch geopolitischen Ideen einer „global governance“ durch Peking. Die neue Seidenstraße werde Europa in den chinesischen Einflussbereich führen und die transatlantischen Beziehungen zwischen der EU und den USA gefährden. Die einzige Macht, die Chinas Vormarsch stoppen könne, seien die USA. Brüssel versucht gerade, so van der Putten abschließend, möglichen Rissen im amerikanisch-europäischen Verhältnis zuvorzukommen, indem Mechanismen zur Kontrolle von chinesischen Investitionen in Schlüsselindustrien und Infrastruktur eingeführt würden.

Keine Angst vor einer chinesischen Übermacht hatte eine Riege ehemaliger sozialdemokratischer Partei- und Staatschefs. Der frühere rumänische Ministerpräsident Petre Roman strich den großen Wert der Belt-and-Road-Initiative hervor und lobte die „Panda Bonds“, mit denen nicht-chinesische Investoren und Regierungen Anleihen in der chinesischen Währung Renminbi (RMB) auflegen können. Polen und die Philippinen waren die ersten Staaten, die davon Gebrauch gemacht haben. „Haben Sie das Potential, unsere Finanzwelt umzuwälzen?“, stellt Roman eine Frage in den Raum, die freilich zum aktuellen Zeitpunkt niemand beantworten kann. Italiens Ex-Premier Romano Prodi wiederum sprach mit Hochachtung und ohne Furcht vom „größten asiatischen Tiger“. Das bislang weltgrößte Investitionsprogramm soll laut Angaben aus Peking 900 Milliarden US-Dollar betragen. Und Österreichs früherer Kanzler Alfred Gusenbauer rief die militärische Differenz zwischen den USA und allen nachholenden Staaten in Erinnerung und meinte, dass sich diese Tag für Tag zugunsten der USA vergrößern würde. Keine Sorge also vor chinesischem Investment, war wohl die Botschaft des Ex-Politikers und jetzigen Beraters vieler Regierungen.

Wesentlich besorgter äußerte sich der frühere polnische Präsident Aleksander Kwasniewski. „Wir haben die Auswirkungen der großen Krise 2008 unterschätzt“, meinte er. Sie hat viele jungen Menschen arbeitslos gemacht und dieses Problem bleibt bis heute ungelöst. Beim Blick in die geopolitische Zukunft kamen ihm große Zweifel hinsichtlich einer friedlichen Entwicklung. „Wir erleben gerade eine sehr chaotische Situation“, so Kwasniewski, „die ich als äußerst gefährlich einschätze. Ich habe wirklich Angst.“

Die Intelligenz wird unmenschlich

Als dritten Schwerpunkt neben den Themen Protektionismus und Seidenstraße diskutierten die Mitglieder von Denkfabriken, Unternehmer und Wissenschaftler über die Zukunft der künstlichen Intelligenz, der sie grosso modo ein enormen Potenzial zuschreiben. Einer kommenden Strukturkrise des Kapitalismus, so ihre Hoffnung, könne man mit Rationalisierungsinvestitionen in künstliche Intelligenz begegnen. Gleichzeitig schwang die Sorge um die Zukunft von Millionen dann „überflüssig“ gewordener Arbeitskräfte mit.

Auch in diesem Bereich habe China die Nase vorne, so der frühere rumänische Ministerpräsident und Professor am Bukarester Polytechnikum Petre Roman. Peking betreibe die Entwicklung von künstlicher Intelligenz als militärisch-zivile Mischforschung. In westlichen Ländern gebe es teilweise ethische Vorbehalte von zivilen Ingenieuren, sich an solchen militärisch dominierten Programmen zu beteiligen.

Künstliche Intelligenz bedeute, so Martin Weis von der „German-Swiss Intelligent Automation“ die Transformation von einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft hin zu einer Datenökonomie. Menschliche Intelligenz werde schrittweise irrelevant. Wie man bereits in der Medizin sehe, werde ärztliches Wissen roboterisiert. So wie im Anschluss an die Industrielle Revolution die physische Kraft des Menschen (Mannes) an Bedeutung verlor und dieser Bedeutungsverlust auch das menschliche Leben beeinflusste, so werde mit der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz der Mensch schlicht dümmer werden. Die Anleitungen, denen iPad- und GPS-getriebene Individuen Stunde für Stunde folgen, gäben bereits einen Hinweis darauf, wohin die Reise geht.

Auch wirtschaftspolitisch wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Künstliche Intelligenz sei mit unseren derzeitigen Mitteln nicht besteuerbar, zumal die Definition, was Künstliche Intelligenz ist und welche Werte ein Roboter herstellt, noch nicht einmal begonnen hat. Ohne Besteuerung von automatisierter Produktion und Dienstleistungen bleibe allerdings, so Weis, die Frage unbeantwortet, mit welchen finanziellen Mitteln der zu erwartenden Massenarbeitslosigkeit entgegengetreten werden könne. Bei derlei sozialen Fragen hielt sich Benjamin Pring vom IT-Dienstleister Cognizant nicht auf. Der ausgewiesene Techno-Fan postulierte schlicht: „Die Zukunft der Arbeit ist keine Arbeit“.

Was bei der ganzen Debatte um Künstliche Intelligenz ausgespart blieb, war die Triebkraft kapitalistischer Akkumulation, die ja bereits in unserem ausgehenden Zeitalter der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften zu ständiger Überproduktion führt. Dass eine Roboterisierung von Gesellschaften dem nicht entgegenwirkt, sondern die gegenteilige Gefahr der Beschleunigung und der weiteren sozialen Polarisierung in sich birgt, klang zwar in den Debattenbeiträgen des „Dialogs der Kontinente“ an. Lösungsvorschläge blieben allerdings aus. Und wirklich hoffnungsfroh blickte bei diesem Thema auch niemand auf China.

Hannes Hofbauer ist Autor, Verleger und Redaktionsmitglied von Lunapark21.