Putins Stärke, Putins Schwäche

Auf dem Kriegspfad in der Ukraine: Kalkül und Katastrophe

Die russische Bevölkerung wurde vom Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 völlig überrascht. Die ukrainische Bevölkerung war weniger überrascht. Zwar beherrschte die Zuspitzung der Konfrontation von Seiten der russischen Regierung seit Wochen die Berichterstattung, insbesondere die Fernsehberichterstattung. Niemandem konnten Putins Dämonisierung der ukrainischen Regierung und seine vielen Klagen über die falsche Nationalitätenpolitik Lenins, die Auflösung der Sowjetunion, die Abspaltung der Ukraine vom großen russischen Volk und die Herrschaft einer westlichen Marionettenregierung in Kiew entgehen. Doch gerade weil immer wieder der enge nationale Zusammenhalt mit den Brüdern und Schwestern in der Ukraine betont wurde, war die Bevölkerung auf diesen Angriff nicht vorbereitet. Kiew ist nicht Grosny.

Die Ablehnung des Krieges reicht tief. In einem Protestbrief russischer Wissenschaftler:innen mit Tausenden Unterzeichnenden heißt es: „So bitter es ist, wir müssen eingestehen, dass unser Land, welches zusammen mit anderen Republiken der ehemaligen UdSSR einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über den Nazismus geleistet hat, nun zum Brandstifter eines neuen Krieges auf dem europäischen Kontinent geworden ist. Wir fordern einen sofortigen Stopp aller gegen die Ukraine gerichteten Militäroperationen. Wir fordern die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität des ukrainischen Staates. Wir fordern Frieden für unsere Länder.“ Doch nach dem ersten Schock klammern sich viele in Russland an die Hoffnung, dass es bald vorbei sein möge. Es wird nicht bald vorbei sein.

Für den russischen Angriff auf die Ukraine gibt es zwei Gründe. Zum einen hat die russische Führung mit allen Versuchen zur Kontrolle der ukrainischen Politik Schiffbruch erlitten. Nach den Maidanprotesten und dem Sturz von Präsident Wiktor Janukowitsch 2014 konnte sie nur Teile des Landes abspalten, aber nicht ihren Einfluss in Kiew wiederherstellen. Deshalb greift sie jetzt zur Eroberung weiterer Teile des Landes, um direkt zu beherrschen, was durch Erpressung nicht zu gewinnen war. Eine attraktive Alternative zur Westorientierung der Ukraine hat sie nicht zu bieten.

Der Kräfteansatz am ersten Tag der Aggression machte deutlich, dass Putin seine Hoffnung auf einen Regimechange in Kiew noch nicht aufgegeben hatte. Neben heftigen Luftangriffen auf vornehmlich militärische Ziele – Luftabwehr, Kommandostrukturen – rückten russische Bodentruppen in einigen ausgewählten Richtungen vor. Leichtbewaffnete Fallschirmjäger sollten strategische Objekte sichern. Gefangen in der eigenen Ideologie war ein effektiver ukrainischer Widerstand nicht vorgesehen. Als Putin am zweiten Tag der Invasion die ukrainische Militärführung öffentlich aufforderte, die eigene Regierung zu stürzen, war das Scheitern dieses Plans offensichtlich.

Die ukrainischen Streitkräfte haben sich seit acht Jahren auf eine Konfrontation mit einem überlegenen russischen Gegner vorbereitet. Die Kommando- und Kommunikationsstruktur funktioniert. Nach einer Woche war die ukrainische Luftwaffe immer noch aktionsfähig. Im gesamten Spektrum konventionellen Krieges leisteten die Truppen Widerstand. Sie sind nicht weggelaufen.

Überzeugungskraft

Der Hobbyhistoriker Wladimir Putin weiß viel von den vermeintlichen Fehlern Lenins zu berichten. Von den tatsächlichen Fehlern des russischen Revolutionsführers weiß er nichts. Im Frühjahr 1920, während des Krieges mit Polen, warnte der deutsche Kommunist August Thalheimer seine Genossen in Moskau: „Wer mit der Waffe in der Hand den Kommunismus in ein Land tragen wollte, dessen Arbeiterklasse ihn noch nicht selbst im Kopf hat, den wird auf der anderen Seite der Grenze nicht der Gesang der Internationale, sondern der Nationalhymne empfangen, und er wird nicht den Kommunismus in diesem Land stärken, sondern den Nationalismus.“ Heute geht es nicht um den Kommunismus. Heute gibt es keine bessere Werbung für eine souveräne Ukraine und die Nato als den russischen Überfall.

Angesichts der politischen Stabilität der ukrainischen Regierung blieb Putin nur Plan B: Die Eroberung der Hauptstadt gegen andauernden, organisierten Widerstand. Offenbar ist Moskau davon überzeugt, ausreichende militärische Mittel zur Verfügung zu haben. Tatsächlich hat sich die russische Staatsmacht mit den Erträgen aus dem Export von Gas und Öl saniert und ihre Herrschaftsmittel modernisiert, vom Geheimdienst bis zum Militär, von modernen Kommunikationsmitteln bis zu den Atomwaffen. Im Land wird jede politische Opposition als Konstrukt „ausländischer Agenten“ isoliert. Zwar sinken seit neun Jahren die Realeinkommen der russischen Bevölkerung, doch eine Bedrohung ergibt sich daraus für Putin nicht. Auf dem politischen Trümmerfeld des postsowjetischen Raums kämpfen die Gruppen einer sozialen und demokratischen Opposition um ihre Existenz, nicht um die Macht.

Das ist der zweite Grund für den Überfall: die Überzeugung, dass man es kann. Lange Jahre hat die Atommacht Russland das Scheitern der USA im Irak und in Afghanistan erfreut beobachtet. Ein Scheitern, das ohne Glaskugel absehbar war. Jetzt versucht die russische Führung zu zeigen, dass sie es besser kann. Doch das Scheitern auch dieser Intervention ist absehbar, trotz aller langen Vorbereitung.

Im Russland Putins ist Kritik an Gorbatschows Perestroika Teil der Staatsräson. Angesichts des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs in den 1990er Jahren trifft diese Kritik auf breite Resonanz. Doch für die herrschende Elite geht es nicht um das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern um die Macht des Russischen Staates. Ihre Kritik an Gorbatschow ist: Er hat uns schwächer gemacht. Sie müssen dabei eine Einsicht verdrängen, die wesentlich zur Perestroika beigetragen hatte: Militärausgaben sind eine Last.

Machterhaltung

Alle Militärausgaben sind eine Form des Staatsverbrauches. Ein Grund für diese unproduktiven Ausgaben ist unspezifisch: die Vorbeugung oder Begrenzung von Schäden – wobei die politische Frage ist, welche Schäden wie berücksichtigt werden. Wirtschaftlich gesehen ist das nichts anderes als Katastrophenvorsorge und -bekämpfung. Eine Last, aber ein kleineres Übel. Der andere Grund für Militärausgaben ist sehr spezifisch: die Möglichkeit von Vorteilen durch die gewaltsame Schädigung anderer. Ohne direkten Einsatz des Militärs kann dies schon durch Erpressung erfolgreich sein. Das zwischenstaatliche Kräfteverhältnis kann durch eine Blockade, die Zerstörung oder Eroberung von Ressourcen, durch das Töten von Menschen geändert werden. Immer gab es ein Risiko dabei: Vielleicht ist der Gegner doch stärker als gedacht. Doch ein realistisches Feind- wie Selbstbild ist schwer zu erhalten, wenn starke Interessen den Blick verzerren.

Als die Sowjetunion und das Deutsche Reich im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt schlossen, glaubten beide Diktatoren, ein gutes Geschäft auf Kosten anderer gemacht zu haben. Erst fünfzig Jahre später, Ende 1989, räumte die Sowjetunion offiziell die Existenz der dazugehörigen geheimen Zusatzprotokolle ein. Mit diesen Protokollen war Osteuropa in Einflusssphären geteilt und die Sowjetunion deutlich vergrößert worden. Bis dahin hatte es geheißen, die lokale Bevölkerung hätte um die Aufnahme in die Sowjetunion gebeten. Nun mussten sich die Verteidiger Stalins umstellen und vertraten fortan, dass der Pakt mit den Nazis kein Fehler, sondern pragmatische Machtpolitik gewesen sei. Sie mussten und müssen dabei gegen breite Kritik und die Aussagekraft der Fakten argumentieren. Stalins Versuch, im Winterkrieg 1939/40 Finnland zu erobern, endete in einem militärischen und politischen Fiasko.

Das Moskauer Appeasement gegenüber Hitler bis zum Tag vor dem deutschen Überfall ist bis in die Reihen der Stalinversteher umstritten. Doch seit Putins Machtantritt ist das Lob des Hitler-Stalin-Paktes Teil der offiziellen Nationalgeschichte. Denn die Westmächte hätten der Sowjetführung keine Wahl gelassen. Um den staatsnahen Argumenten genug Raum zu verschaffen, werden nachdrückliche Spielverderber wie Memorial International nicht mehr kritisiert, sondern verboten.

In den 80er Jahre hatte sich die sowjetische Führung um ein realistisches Bild ihrer Lage bemüht. Die sowjetische Wirtschaft war vom Rüstungswettlauf überfordert. Mit den Worten des DDR-Wirtschaftsplaners Siegfried Wenzel: „Die Sowjetunion stellt 25 Prozent des wirtschaftlichen Weltpotentials. Sie muß 50 Prozent der Rüstungslasten tragen, um die Parität zu den westlichen Staaten herzustellen. Das ist doch klar, dass die Menschen arm sein müssen, wenn sie soviel in die Rüstung stecken. Das ist unter den gegebenen objektiven Verhältnissen der Preis für die längste Friedensperiode der neueren Geschichte. Denn nur wer sich überlegen fühlt, beginnt einen Krieg.“

Während des Kalten Krieges hatte die Sowjetunion keine Chance, sich von den fürchterlichen Verlusten im Zweiten Weltkrieg zu erholen. Also wollte die sowjetische Führung aus der Systemkonkurrenz aussteigen – was nur um den Preis der Auflösung des eigenen Systems zu haben war.

Die Eliten um Putin kritisieren das Ergebnis, wollen aber von den Ursachen nichts wissen. Statt von der Niederlage in der Systemkonkurrenz reden sie lieber von innerem Verfall und Verrat. Die Auflösung der Sowjetunion, so Putin, sei die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Angesichts der tatsächlichen Katastrophen des Jahrhunderts gerade für Osteuropa eine zutiefst obszöne Bemerkung. So schwerwiegend die sozialen Folgen des Endes der Sowjetunion waren, ihre Auflösung vollzog sich ohne großen Krieg und die dazugehörigen Verheerungen. Verständlich ist die Haltung der russischen Elite nur aus ihrer Existenzangst, die 1999 die Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien als Auftakt zur Zerstücklung auch ihrer Herrschaft angesehen hat.

Russland ist ein Vielvölkerstaat. Die Unabhängigkeitsbestrebungen Tschetscheniens wurden als Einfallstor für eine äußere Intervention gesehen, wie im Kosovo. Putin kam an die Macht, um Grosny zurück zu erobern. Danach brauchte es Jahre, um aus den Ruinen wieder eine Stadt zu machen.

Gestützt auf die Erlöse aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft baute die Russische Föderation in den folgenden Jahre ihr Militär aus. Doch im Krieg gegen Georgien 2008 waren die Leistungen des Militärs überschaubar. 2014 reichten die professionellen Teile des Militärs für die Abspaltung der Krim, aber nur gerade so zur Stabilisierung der sogenannten Volksrepubliken Donzek und Lugansk. Heute schickt der Kreml das in den letzten Jahren ausgebaute Militär selbstbewusst in den Einsatz. Nach Plan A können sie auf Plan B zurückfallen. Damit realisieren sie das Vorgehen, das westliche Militärexperten schon vor dem Angriff skizziert haben: Shock and awe, Moscow style. Die gesamten mobilisierten Truppen werden in die Ukraine geschickt, um den Widerstand zu brechen.

Reaktionen

Wie viel Leid damit verursacht wird, lässt sich noch nicht sagen. Der unüberbrückbare Widerspruch der Strategie Putins ist aber offensichtlich: Die Sowjetunion hatte mitsamt dem sozialistischen Lager die Rüstungskonkurrenz mit USA und Nato nicht gewinnen können. Nun sollte es der Russischen Föderation allein gelingen? Zum ersten Mal seit 1939 hat Schweden einem kriegführenden Land Waffen geliefert, damals an Finnland im Winterkrieg nach dem sowjetischen Angriff, heute an die Ukraine. Weit über die Grenzen der Nato hinaus formiert sich eine Koalition gegen den russischen Angriff. Selbst traditionelle Gegner der USA wie China und Grenzgänger wie Indien wollen sich nicht auf die Seite der Russischen Föderation stellen.

Die scharfen wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Russland treffen den Kern eines Wachstumsmodells, das mit dem Export von Energieträgern die Modernisierung der eigenen Gesellschaft und die Macht des Staates finanzieren soll. Die russischen Banken werden von Swift, der technischen und juristischen Infrastruktur des internationalen Zahlungsverkehrs, ausgeschlossen. Die Russische Zentralbank verliert die Kontrolle über ihre Konten auf den internationalen Finanzmärkten.

Entgegen aller Sorgen über die Abhängigkeit West- und Zentraleuropas von russischen Gaslieferungen wird die reale Abkopplung vom russischen Angebot in die Wege geleitet. Die Nachfrage nach russischen Energieträgern war nie alternativlos, sondern eine Preisfrage. Die EU-Staaten können es sich leisten, mehr für ihre Energieversorgung zu zahlen. Verglichen mit den 100 Milliarden Euro, die für den Ausbau der deutschen Rüstung angekündigt sind, stellen Preissteigerungen bei den Energieträgern nicht mehr als peanuts dar. Nur wenige Prozentpunkte der Waren- und Dienstleistungspreise in Deutschland hängen von den Preisen der Energieträger ab. Dagegen wird Russland in China keinen Ersatz für die ausfallende Nachfrage nach Gas und Öl finden.

Angesichts des ukrainischen Widerstands und der drohenden Sanktionen haben sich am 27. Februar zwei Oligarchen, Oleg Deripaska und Michail Fridman öffentlich vom Kriegskurs des Kreml distanziert. Sicher riskieren sie weniger als die Protestierenden im Lande, die Lehrerinnen und Lehrer, die Forschenden, die öffentlich den Krieg gegen die Ukraine ablehnen. Aber sie riskieren etwas: Putins Aufstieg hat nicht nur Geschäfte ermöglicht, sondern auch Wirtschaftsimperien zerstört. Am 28. Februar 2022 hob die Russische Zentralbank den Leitzins auf 20 Prozent an.

Putin hat auf die Sanktionen mit Drohungen reagiert, die einen möglichen Einsatz von Atomwaffen einschließen. Doch Atomwaffen sind nur so lange politisch wirksam, wie sie nicht eingesetzt werden. Die US-Militärs lassen daran auch öffentlich keinen Zweifel: John E. Hyten, von 2016 bis 2019 Kommandeur der Strategischen US-Nuklearwaffen, sagte über ihre Planspiele: „Es endet immer gleich. Immer. Es endet schlimm. Und schlimm heißt, es endet mit einem globalen Atomkrieg.“ Das weiß man auch in Moskau.

Es wird gerade viel von einem Epochenumbruch gesprochen. Im Rahmen der Politik seit 1991 ist das zutreffend. Aber nur in diesem Rahmen. Nach wie vor gilt:

„Voraussetzung der heutigen internationalen Politik sind die Niederlagen der Arbeiterbewegungen in den Industrieländern in Ost und West und der antikolonialen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Organisationen, welche die Interessen der arbeitenden Klassen in einzelnen Ländern selbständig zu formulieren versuchen, erreichen nur selten nationale, in keinem Falle internationale Bedeutung. Der Klassengegensatz ist damit von der Oberfläche der Weltpolitik abgetreten. Nicht die Sehnsucht nach besseren alten Zeiten mit ihren schön kolorierten Feindbildern wird ihn wieder auf die weltweite Tagesordnung setzen, sondern der Kampf um Frieden hier und in fernen Ländern, um Gesundheit und sauberes Wasser, um lichte Wohnungen und kluge Schulbücher, um freie Arbeit und freie Zeit“, wie der Autor bereits angesichts des Angriffs der USA auf den Irak im Jahr 2003 schrieb.

Sebastian Gerhardt lebt und arbeitet als freier Autor und Bildungsreferent in Berlin. Er betreibt die Webseite https://planwirtschaft.works