„Erster Angriffskrieg in Europa seit 1945“

quartalslüge I/MMXXII

Egils Levits, Präsident Lettlands, äußerte am 24. Februar: „Heute Morgen waren wir Zeugen eines Angriffsbefehls gegen einen unabhängigen Staat, und das ist zum ersten Mal seit dem 1. September 1939, als Deutschland den Angriffsbefehl gegen Polen gegeben hat, also zum ersten Mal ein Angriffskrieg in Europa.“ Das Redaktionsnetzwerk Deutschland ließ an Tag zwei des neuen Kriegs verlauten: „Den letzten Angriffskrieg in Europa brach das Deutsche Reich unter Hitler vom Zaun, mit seinem Überfall auf Polen am 1. September 1939.“ Seit dem 24. Februar ist dutzendfach in den sogenannten Qualitätsmedien und aus dem Mund prominenter Politikerinnen und Politiker zu hören und zu lesen: Am 24. Februar 2022 begann „der erste Angriffskrieg in Europa seit 1945“.

Das ist eine Quartalslüge. Der erste Angriffskrieg „mitten in Europa“ begann am 24. März 1999 mit dem Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, ein Staat, der damals nur noch aus Serbien, dem Kosovo und Montenegro bestand. Die übrigen Teilrepubliken, die im Zeitraum 1946 bis 1990 die Bundesrepublik Jugoslawien gebildet hatten, waren zuvor aus dieser Bundesrepublik ausgetreten – was mit vielen Kriegen, die zusammengefasst als „Jugoslawien-Kriege“ bezeichnet werden, verbunden war.

Der Hinweis auf diesen ersten Krieg „mitten in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“ soll in keiner Weise dazu dienen, den aktuellen Krieg der russischen Führung gegen die Ukraine zu relativieren. Jedes Aufrechnen dieser Art verbietet sich. Dennoch ist es uns als Lunapark21-Redaktion wichtig, den aktuellen Krieg in der Ukraine in einem Kontext zu sehen – auch, um die Gefahren, die die allgemeine Kriegsdynamik, die es seit 1945 gibt, zu verdeutlichen.

Wir haben in der LP21-Grafik alle Angriffskriege seit 1945, für die europäische Staaten, die USA und die Sowjetunion beziehungsweise Russland verantwortlich waren, zusammengestellt und dabei jeweils die Zahl der Kriegsopfer angeführt, wobei meist mehr als 80 Prozent der Getöteten Zivilpersonen waren. Daraus ergeben sich vier Erkenntnisse:

1. Auch in der Zeit nach 1945 gilt Krieg als Mittel der Politik. Eine wirksame Ächtung von Kriegen ist nicht erkennbar. Erschreckend sind beispielsweise die – heute weitgehend vergessenen – drei Kolonialkriege, für die Frankeich, die Niederlande und Portugal verantwortlich sind, mit mehr als zwei Millionen Kriegsopfern. Den negativen Rekord halten die USA, die seit 1945 für Kriege, die bis zu zehn Millionen Kriegsopfer forderten, die Verantwortung tragen.

2. Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine wird zwar von der Regierung eines kapitalistischen Landes geführt. Es gibt aber eine gewisse Kontinuität in der Art und Weise, wie die Kreml-Führungen auch in den „staatssozialistischen“ Zeiten vor 1990 glaubten, mit militärischen Interventionen und Kriegen eine „Halts-Maul-Politik“ betreiben zu können (siehe Seite 49): in Ungarn 1956, in der CSSR 1968, in Afghanistan 1979 bis 1989, in Tschetschenien 1994-1996, und nun mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022.

3. Mit dem Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wurde in mehrerer Hinsicht die Büchse der Pandora geöffnet. Es war ein offen völkerrechtswidriger Krieg. Er richtete sich gezielt gegen ein mit Russland verbündetes Land, das heutige Serbien. Deutschland – damals mit einem SPD-Kanzler Gerhard Schröder und einem Grünen-Außenminister Joseph Fischer – beteiligte sich am Krieg und brach damit ein doppeltes Tabu: Es war der erste deutsche Krieg nach 1945 und ein Krieg auf dem Balkan, wo 1940 bis 1944 die Wehrmacht gewütet hatte.

4. Seit der Wende 1989/90 und verstärkt seit 1999 häufen sich Kriege und militärische Interventionen erneut – als lebten wir in einer Vorkriegszeit. Beispiele dafür sind das russische Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg, die massiven türkischen Militärinterventionen im Nordirak und in Libyen und insbesondere der 2016 begonnene türkische Krieg gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in den befreiten kurdischen Gebieten im Norden Syriens.

Kriegstreiber-Profis wussten bereits zu Wende-Zeiten, wie wichtig es ist, die Bevölkerung „Schritt für Schritt“ darauf vorzubereiten, dass Krieg auch für die deutsche Bevölkerung wieder Mittel der Politik werden soll. 1992 sagte der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe, CDU: „Niemand sollte erwarten, dass die Übernahme neuer Aufgaben in der Außenpolitik über Nacht geschieht. Die in vierzig Jahren gewachsenen Instinkte der Menschen lassen sich nicht einfach wegkommandieren. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht darum, die deutschen Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf die neuen Aufgaben vorzubereiten.“1

Nun ist es 30 Jahre später Russlands Präsident Wladimir Putin, der es mit seinem verbrecherischen Krieg den deutschen Militaristen ermöglicht, die Friedensinstinkte in Deutschland abzubauen und einen gewaltigen Schritt vorwärts zur allgemeinen Militarisierung zu machen.

Am 2. März 2022 stimmten in der Uno-Vollversammlung 141 Staaten einer Resolution zu, in der der Kreml-Krieg gegen die Ukraine verurteilt wird. Der russische Uno-Botschafter Wassiliy Nebensja erklärte: „Wir fühlen uns nicht isoliert“. Putin selbst ließ nach der Uno-Verurteilung den Krieg unbeeindruckt fortsetzen. Das ist so neu nicht. Als die US-Regierung 1983 wegen der völkerrechtswidrigen Invasion auf Grenada von mehr als 100 Uno-Mitgliedsstaaten verurteilt wurden, äußerte US-Präsident Ronald Reagan: „Einhundert Nationen in der Uno waren mit so ziemlich allem nicht einverstanden, was ihnen da, wo wir beteiligt waren, begegnete. Doch dies hat mein Frühstück in keiner Weise gestört.“2

Anmerkungen:

1 In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1992.

2 The New York Times vom 4. November 1983; LP21-Übersetzung.