Binnenmarkt und Weltmarkt

In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts fand in Russland eine Diskussion über die Perspektiven des Kapitalismus in diesem Land statt. Sie orientierte sich an den so genannten Reproduktionsschemata im zweiten Band des „Kapital“ von Karl Marx.

Liberale Ökonomen sahen in ihnen eine Bestätigung ihrer Ansicht, dass der Kapitalismus auch für Russland das Richtige sei, denn bei Marx sei nachgewiesen, wie harmonisch z.B. Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie ihre Erzeugnisse austauschen könnten.

Die so genannten Volkstümler waren anderer Ansicht. Der kapitalistische Sektor sei zu klein, um sich in einer überwiegend landwirtschaftlich geprägten vorindustriellen Wirtschaft ausbreiten zu können.

Hingegen legte Wladimir I. Lenin in seinem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ von 1899 – gestützt auf empirische Erhebungen und die Reproduktionsschemata – dar, dass die kapitalistische Produktionsweise sich auch im Zarenreich bereits durchgesetzt habe. Der Untertitel seiner Schrift lautete: „Der Prozeß der Bildung des inneren Marktes für die Großindustrie“.

Rosa Luxemburg gab denjenigen russischen Marxisten, die so dachten, zwar gegen die Volkstümler Recht, fand aber, dass sie über das Ziel hinausgeschossen seien. Die Austauschverhältnisse zwischen Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie müssten entgleisen, sobald man einige Variabeln der Marxschen Reproduktionsschemata wirklichkeitsnäher änderte. Dann entstehe Überakkumulation, die sich in Waren- und Kapitalexport und der Erschließung bislang nichtkapitalistischer Gebiete Luft mache. Dies wurde bestätigt durch ihre Beobachtung des zeitgenössischen Imperialismus mit seinem Waren- sowie Kapitalexport und der daraus resultierenden Tendenz zum Krieg.

Rudolf Hilferding analysierte in dem Buch „Das Finanzkapital“ von 1910 die Monopolisierung von Industrie und Bankkapital, ihre wechselseitige Durchdringung zum Finanzkapital und die Amalgamierung von Staat und Wirtschaft. 1924 benutzte er dafür den Begriff „Organisierter Kapitalismus“. Sein Ort war der Nationalstaat.

Die Differenz zwischen Hilferding und Lenin einerseits und Luxemburg andererseits war keine Episode. Fortan, und im 20. Jahrhundert sich immer neu reproduzierend, legten marxistische Analysen ihren Schwerpunkt immer wieder einmal entweder auf den Binnen- oder auf den Weltmarkt.

Dieser Gegensatz beschränkte sich nicht auf die Ökonomie. Nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnete er zum Beispiel auch die so genannte Dobb-Sweezy-Debatte. In seinen „Studies in the Development of Capitalism“ von 1946 stellte der britische Ökonom Maurice Dobb die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als einen in erster Linie internen Prozess in den europäischen Ländern dar. Paul M. Sweezy widersprach: der Anstoß sei von außen gekommen, durch Kolonien und Welthandel.

Das war eine rein historische Diskussion, die allerdings auch zu der Frage anregen konnte, wie es denn nun in der Gegenwart stand: War die kapitalistische Wirtschaft stärker binnen- oder außenwirtschaftlich bestimmt?

Die erste Auffassung wurde seit den sechziger Jahren in der Theorie vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus dargelegt. Der Begriff steht eher beiläufig in einer Schrift Lenins: im 1917 verfassten Nachwort zu seiner bereits 1905-1907 geschriebenen Arbeit „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie“. Dort führte er aus, dass der Erste Weltkrieg „den monopolistischen Kapitalismus in einen staatsmonopolistischen Kapi-

talismus verwandelte“. (Lenin, Werke. Bd. 13. S. 436) Eine ausführlichere Beschreibung der neuesten Organisationsform der kapitalistischen Produktionsweise unternahm er in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ von 1917. Der Terminus „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“ findet sich da allerdings nicht. Die Theorie, die unter dieser Bezeichnung Jahrzehnte später vor allem in der DDR sowie von dem Franzosen Paul Boccara entwickelt wurde, beruht nicht auf der vereinzelt niedergeschriebenen Bemerkung Lenins, sondern auf eigener Untersuchung der nationalstaatlichen ökonomischen und politischen Machtverhältnisse in den am höchsten entwickelten kapitalistischen Ländern.

Ihr widersprach eine andere marxistische Denkschule, die stattdessen den Weltmarkt als den entscheidenden Ort der Selbstverwertung des Kapitals auszumachen versuchte.

Seit 1989 hörte diese Auseinandersetzung fast abrupt auf. Vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus wurde kaum noch geredet. Die dürfte zwei Ursachen gehabt haben.

Mit dem Untergang des Staatssozialismus im Osten und der Marginalisierung der kommunistischen Parteien im Westen schien sich eine Theorie, die von ihnen propagiert worden war, erübrigt zu haben. Man fragt sich: Warum? Denn der Kapitalismus besteht ja weiter, und seine Analyse muss auf ihre Richtigkeit oder Verfehltheit hin untersucht werden, unabhängig davon, wer sie unternimmt.

Relevanter ist der zweite Grund: Nicht erst seit 1989, sondern schon seit der Mitte der siebziger Jahre wurde die weltweite Entfesselung des Marktradikalismus („Neoliberalismus“) zu einem empirisch-konkreten Beleg für das Übergewicht globalisierter Akkumulation des Kapitals im Vergleich zu einem nationalstaatlich verfassten Staatsmonopolistischen Kapitalismus.

Ist dies das letzte Wort? Wahrscheinlich nicht. Sollten sich die gegenwärtig mächtiger werdenden protektionistischen Tendenzen durchsetzen, könnte die Wirtschaftsverfassung der kapitalistischen Länder wieder mehr mit Theorien dargestellt werden, die an deren binnenwirtschaftlichen Machtverhältnissen orientiert sind, zugleich aber auch das daraus resultierende internationale Konfliktpotential berücksichtigen, einschließlich kalter und heißer Wirtschaftskriege.