Das Reich der Reichen. Berlin, Breite Straße 29

Aus Lunapark21 – Heft 19

Im Zentrum Berlin steht an der Ecke Breite Straße/Gertraudenstraße zur Zeit ein kleines Ausstellungstürmchen. Pünktlich zur 775- Jahrfeier wird hier an die mittelalterlichen Anfänge der damaligen Doppelstadt Cölln/Berlin erinnert. Weiterhin wird die spätere Bedeutung der Straße als Zugang zum königlichen Schlosse hervorgehoben. Selbst ihre repräsentativen Funktionen im zweiten deutschen Staat, als sie „das Entree zum politischen Zentrum der DDR“ bildete, findet Erwähnung.

Nur eines fehlt. Eine Erinnerung an jene, die hier, genau hier, in zwei Revolutionen gekämpft haben. Am 18. März 1848 stand in der Breiten Straße eine der großen Barrikaden Berlins, die von den Truppen des Königs erst nach hartem Kampf erobert werden konnte. Siebzig Jahre später wurden im November 1918 die Hohenzollern endlich davon gejagt und die Matrosen der Volksmarinedivision zogen hier – für einige Wochen – in Schloß und Marstall ein. Wohl wird in manchen Sonntagsreden der demokratischen Traditionen gern gedacht. Doch für das Image der deutschen Hauptstadt wird Friedrich Zwo mitsamt dem Berliner Winterquartier seiner Vor- und Nachfahren vorgezogen. Und als Vorbild für die Jugend sind Revolutionäre und andere Unruhestifter sicher nicht geeignet.

Dass die Ausstellungsmacher die revolutionären Zeiten aus ihrem Rückblick gestrichen haben, ist weniger der Geschichte als der Gegenwart geschuldet. Bis 2019 soll an der Stelle des alten Hohenzollernschlosses ein Humboldtforum in königlicher Fassade errichtet werden. Derzeit geplante Kosten: 600 Millionen. Und einmal quer über die Straße haben im großen Komplex des „Hauses der deutschen Wirtschaft“, Breite Straße 29, mit dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft ihr Hauptquartier aufgeschlagen.

Zwischen beiden Verbänden gibt es eine klare Arbeitsteilung. Die BDA konzentriert sich auf die Sorgen der Bosse im täglichen Klassenkampf, auf die Konflikte um Lohn und Arbeitszeit. Ihre zentrale Aufgabe: „die unternehmerischen Interessen im Bereich der Sozialpolitik aktiv zu vertreten“. Dabei sind zunächst einige Hausaufgaben zu erledigen. Nicht immer ist klar, was denn die „unternehmerischen Interessen“ sind, die da vertreten werden sollen. Gerade unter Unternehmern ist sich jeder vor allem selbst der Nächste. Die Pflege des eigenen Privateigentums ist nicht immer mit der Klassensolidarität vereinbar. Deshalb „organisiert und moderiert“ die BDA „den branchen- und regionenübergreifenden Konsens der Mitglieder.“ Eine wahre Herkulesaufgabe, immerhin vereinen die hier zusammengeschlossenen Arbeitgeberverbände etwa 1 Millionen Unternehmen mit 20 Millionen Beschäftigten.

Der BDI ist dagegen eine geradezu elitäre Vereinigung. Er vereint 38 Branchenverbände mit gerade 100000 beteiligten Unternehmen, in denen acht Millionen Menschen arbeiten. Wer rechnet, merkt: Im Durchschnitt hat ein Mitgliedsunternehmen des BDI viermal so viele Beschäftigte, wie – im Durchschnitt – ein Unternehmen des BDA. Tatsächlich sind im BDI die großen deutschen Konzerne mit ihren Zulieferern weitgehend unter sich. Doch auch hier kann es schwer fallen, „die Interessen der deutschen Industrie“ auszumachen. Im Zuge der Eurokrise drang zuweilen Widerspruch zur offiziellen Verbandslinie an die Oberfläche. Nun wird zum Ende des Jahres der aktuelle Präsident Hans-Peter Keitel nach nur vier Jahren im Amt seinen Hut nehmen.

Dem vormaligen Konzernchef bei Hochtief wurde von Teilen seiner Klasse eine allzu große Nähe zu den großen Exportunternehmen nachgesagt. Tatsächlich hat der BDI sich nie auf das populistische Gejammer des deutschen Mittelstandes eingelassen, der in Leserbriefen in Springers Welt gern die gute alte Doitschmark heraufbeschwört und ständig Angst um sein Geld auf der Bank hat. Keitel dagegen lässt sich gern großbürgerlich gelassen zitieren. Auf die Frage der Wirtschaftswoche nach den allzu hohen Zinsen für Italiens oder Spaniens Staatsverschuldung antwortete er Ende August kühl: „Das ist viel weniger als zu Lira-Zeiten.“ Will heißen: Sollte die italienische Bourgeoisie die Vorzüge der Währungsunion nicht mehr zu schätzen wissen, dann muss sie den Preis dafür zahlen. Er weiß: Zinsfragen sind Eigentumsfragen.

Allerdings ist großbürgerliche Ignoranz gegenüber den privateigentümlichen Ideologien der Basis nicht immer förderlich für das Klima im Verband. Nun soll es ein echter Familienunternehmer richten, der Herr Ulrich Grillo von den Grillo-Werken mit gerade mal 1600 Beschäftigten und 600 Millionen Euro Jahresumsatz. Er wird nicht nur für die Fähigkeit zu „klaren“, sprich markigen Ansagen gelobt. Grillo hat auch mit der Rohstoffallianz der deutschen Industrie gegen manche liberale Lästereien („VEB Rohstoffe“) einen ersten wirtschaftspolitischen Erfolg einfahren können. Schließlich war er bis 2001 bei Rheinmetall stellvertretender Chef der Rüstungssparte. Ein solcher Mann wird auch in den Chefetagen der größten deutschen Unternehmen nicht als Mittelständler, sondern als einer der ihren gesehen. Es ist nicht anzunehmen, dass Grillo künftig den Ängsten der Mittelständler nachgeben und der Generallinie zur Verteidigung des deutschen Euro widersprechen wird. Er soll diesen Kurs besser verkaufen. Das ist alles.

Soviel sich auch an der Spitze und der Wortwahl im „Haus der deutschen Wirtschaft“ ändern mag, in den wirklichen Machtfragen sind sich alle wieder einig. Und dazu gehört, dass die deutsche Wirtschaft weiter von jenen Herren – vor allem Herren – kommandiert wird, die lieber unter sich bleiben und in ihren Unternehmungen keinen einstellen, der in seinem Lebenslauf auf langjährigen Kampf gegen Herrschaft und Unterdrückung verweisen kann. Deshalb schließt ihr Traditionsbild Barrikadenkämpfer nicht ein. Wie wir aus der Analyse von Ruth Hoppe und Jürgen Kuczynski über die Märzgefallenen des Jahres 1848 wissen, hätten sie unter den Kämpfern der – wohlgemerkt: bürgerlichen! – Revolution keine Klassengenossen getroffen. Es waren vor allem Kleingewerbetreibende und Proletarier, die gegen den König und seine Soldaten auf die Barrikaden stiegen und starben. Anders sah es auch mit den Roten Matrosen nicht aus. Deshalb darf durchaus an sie erinnert werden – dort wo sie begraben sind, im Friedrichshain (www.friedhof-der-maerzgefallenen.de). Aber nicht im Zentrum, wo die sich deutschen Wirtschaftsbosse treffen und so viele Touristen vorbei kommen. Was sollten die denn von den Berlinern denken: Zwei Revolutionen am gleichen Platz in siebzig Jahren und vielleicht Leute, die das heute noch richtig finden!

Die deutsche Hauptstadt wächst. 13 Jahre nach dem Regierungsumzug sind endlich einige der Folgen eingetreten, die sich Immobilienmakler und Bauherren schon lange gewünscht hatten. Die Bevölkerung erreicht wieder 3,5 Millionen. Bodenpreise und Mieten steigen. Im Durchschnitt trifft noch immer zu, was Ernst Bloch schrieb: „Auf hundert Kriege kommt eine Revolution. So schwer ist der aufrechte Gang.“ Allein die Erinnerung an vergangene Revolutionen wird das nicht ändern. Deshalb gab der Dichter Georg Herwegh in seinem Rückblick 25 Jahre nach dem März 1848 dem damals neuen deutschen Reich auch einen Ausblick mit auf den Weg:

Achtzehnhundert siebzig und drei,
Reich der Reichen, da stehst du, juchhei!
Aber wir Armen, verkauft und verraten,
Denken der Proletariertaten –
Noch sind nicht alle Märze vorbei,
Achtzehnhundert siebzig und drei.

Literatur:

  • Ruth Hoppe/Jürgen Kuczynski: Eine Berufs- bzw. auch Klassen- und Schichtenanalyse der Märzgefallenen 1848 in Berlin, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 164/Teil IV, S. 200-276 (http://www.digitalis.uni-koeln.de/JWG/jwg_index.html)
  • Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, 1997
  • Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution. Neuausgabe der Bände Vom Kaiserreich zur Republik, Die Novemberrevolution, Der Bürgerkrieg in Deutschland, Verlag die buchmacherei. 2011
  • Klaus Kordon: 1848: Die Geschichte von Jette und Frieder.
  • Klaus Kordon: Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter

Sebastian Gerhardt, lebt und arbeitet in Berlin. Aktuelle Kommentare, Materialien und Archiv unter http://planwirtschaft.wordpress.com

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