Warten auf den „Nickneger“

Deutsche Kolonien, deutscher Genozid, deutsche Verantwortung

„Schauen Sie nach Afrika, da sitzen die Leute noch auf den Bäumen“, soll mein Geografie-Lehrer Ende der Sechziger mal gesagt haben. So stand es jedenfalls auf einem Flugblatt, das Schüler meines Gymnasiums verbreitet hatten. Sie wurden von ihm verklagt und er verlor. Der Mann war zudem zu faul zum Unterrichten und machte stattdessen gern ein kleines Quiz. Z. B.: Wofür steht die Abkürzung EDEKA? Primus-Antwort: „Einkaufsgenossenschaft Deutscher Einzelhandels Kaufleute Aktiengesellschaft“. Genau falsch! Richtig ist: „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“ (E. d. K.)

Damit sind wir mittendrin. Der Kolonialismus diente vorderhand dem Handelskapital, der Ausbeutung indigener Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und der von Rohstoffen. Vorderhand.

Das Deutsche Reich kam spät zu seinem Kolonialbesitz, weil das Reich spät mit Eisen und Blut zusammengehämmert worden war und weil Bismarck wusste, dass Kolonialismus dem „Mutterland“, dem preußisch dominierten Reich, viel Geld kosten konnte. Profitieren würden hauptsächlich die Pfeffersäcke in den Hansestädten, so dachte er. Und so war es auch anfangs. Doch einer Aufteilung Afrikas wollte sich der Eiserne Kanzler auf der Kongo-Konferenz 1884/85 in Berlin auch nicht verschließen. Vorangegangen waren rassistische deutsche Abenteurer, die den „Neger“-Häuptlingen riesigen Grund abschwatzten. Etwa der Tabakhändler Adolf Lüderitz in Süd-West- oder Carl Peters in Ost-Afrika. Der ließ, als er entdeckte, dass seine schwarze Konkubine Jagodia ein Verhältnis mit seinem schwarzen Diener hatte, beide öffentlich aufhängen und ihre Heimatdörfer niederbrennen. Die darauffolgende Gegenwehr des Stammes Tschagga wurde brutal niedergesch lagen. Landräuber und Mörder wie Peters kamen unter deutschen Schutz und bald regierten staatlich gesandte Gouverneure.

Nach Bismarck versuchte Kanzler Bernhard von Bülow im Auftrag des Kaisers Wilhelm II. das deutsche Handtuch in größerem Maßstab auf den Platz an der Sonne zu legen. Im Vergleich zu Großbritanniens und Frankreichs Beute kam das deutsche Kolonialreich flächenmäßig zwar erst an dritter Stelle. Aber in die 2,6 Millionen Quadratkilometer Afrika, über denen die Reichsflagge schließlich wehte, passte das Mutterland fast fünfmal hinein.

Die imperialen Mächte, Großbritannien, Frankreich, die USA und auch die kleineren Portugal, die Niederlande und Belgien hatten sich früher als die Deutschen nicht allzu zimperlich gezeigt, wenn es darum ging, die einheimische Bevölkerung Afrikas und Asiens auszubeuten, zur Sklavenarbeit vor Ort zu zwingen oder auch umzubringen. Profitgier, Rassismus und last not least geopolitisches Machtstreben verbanden sich hier und forderten Hunderttausende Opfer. Gegen China verbündete man sich gar international. Die Germans kamen endlich auch an die langersehnte Kolonialfront.

Verglichen mit den anderen Mächten bewies das junge Deutsche Reich und seine Militärmaschinerie – trotz kurzer Kolonialzeit –, dass es zu Herausragendem fähig war. Angekündigt hatten dies große Teile der Bourgeoisie schon lange vor der Reichsgründung. Nicht nur Weltmacht, sondern die Weltherrschaft war das Ziel, wie Bethmann Hollwegs Mephistopheles, Kurt Riezler, 1914 seinem Tagebuch anvertraute.

Am bekanntesten ist der „Rassekrieg“ gegen die Herero und Nama ab 1904 im damaligen Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia. Beide Stämme waren von ihrem Grund verjagt worden. Enteignungen, Kreditwucher und sklavenähnliche Lohnarbeit ließen das Fass überlaufen. Angeführt von Samuel Mahero überfielen mehrere Tausend Kämpfer der Herero Polizeistationen und deutsche Farmen, erschlugen die Besitzer, schonten aber Frauen, Kinder, Missionare sowie Nichtdeutsche. Dem Gouverneur Theodor Leutwein gelang es nicht, das Gebiet zu befrieden. Generalleutnant Lothar von Trotha wurde mit schwerbewaffneten Truppen in die Kolonie geschickt. Er kesselte die Herero am Waterberg ein, kündete die Vernichtung aller an, machte also keinen Unterschied zwischen Kriegern und 60.000 Nichtkriegern, Frauen und Kindern und beschoß sie mit Artillerie und Maschinengewehren. Er ließ die Überlebenden in die Wüste treiben, wo die meisten verdursteten. Der Rest kam durch von Bülows „Gnadenerlass“ in wörtlich „Konzentrationslager“, wo Vernichtung durch Arbeit und Seuchen nochmals Tausende dahinraffte. Die Nama hatten sich zu spät dem Aufstand angeschlossen und wurden fast ebenso vollständig vernichtet. Insgesamt gab es etwa 80.000 Tote.

Die Bekämpfung des Maji-Maji-Aufstandes in Ostafrika (1905-1907) durch deutsche Truppen forderte aufgrund der Taktik der verbrannten Erde weit mehr Todesopfer (bis zu 300.000, darunter 15 Deutsche) als der Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama. Allerdings wird er nicht als Genozid gewertet. Auch die Zahl der Farbigen, die durch Lettow-Vorbecks Guerilla-Strategie während des Ersten Weltkrieges gegen Großbritannien, in Tanganjika umkamen, ist höher.

Unvergleichlich an der deutschen Gewaltherrschaft ist, dass es den Militärs und Herrschenden gelang, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts nicht nur anzukündigen, sondern auch durchzuziehen, später die Mord-Methoden im maßgeblich von Ihnen verantworteten Ersten Weltkrieg auf belgische Zivilisten (inkl. Frauen, Kinder und Babys) zu übertragen und in den revolutionären Kämpfen 1918 -1920 die eigene widerspenstige Arbeiterschaft ganz ähnlich zu behandeln. Was schließlich im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und in der Shoah kulminierte. Das alles erscheint nicht unbedingt linear und unabwendbar, aber letztlich singulär.

Die Ermordung der Herero und Nama war nicht nur ein Genozid, sondern auch ein überaus teures Unterfangen. Erst kurz vor dem Weltkrieg zeigten die deutschen Kolonien Togo und Deutsch-Südwest positive ökonomische Bilanzen. Doch bei der Welteroberung, wie beim Holocaust, spielen Kosten oder ökonomische Vorteile für den Staatsapparat erstmal keine Rolle. Gleichwohl ist Vernichtung durch Arbeit immer dabei und davon profitiert das Kapital allemal.

1918/19 verlor das Deutsche Reich, jetzt Republik, nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern mit dem Versailler Friedensvertrag auch seine Kolonien. Das wurde von einer Mehrheit der Bevölkerung (bis auf einige in der USPD und in der KPD) als ungerecht empfunden. Eine interfraktionelle koloniale Vereinigung von NSDAP bis SPD kümmerte sich deswegen 1924 um die ehemaligen „Schutzgebiete“. Es gelang mit staatlichen Finanzspritzen die meisten Plantagen in Kamerun zurückzukaufen. Konrad Adenauer, damals Kölner Oberbürgermeister, wurde 1931 Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft.

Hitler erklärte schon früh die Eroberung Russlands, die Bemächtigung seiner Ressourcen und die Vernichtung der Juden und Slaven zu seinen primären Zielen. Die Kolonien waren da zweitrangig. Aber auch in der NS-Zeit gab es unter Franz Ritter von Epp, einem der Schlächter am Waterberg 1904, in München 1919 und im Ruhrgebiet 1920, ein Kolonialpolitisches Amt. Eugeniker wie Eugen Fischer hatten ihr rassistisch-tödliches Handwerk schon in Afrika erprobt. Der zweite Griff nach der Weltmacht, jetzt als Vernichtungskrieg im Osten, scheiterte aber ebenso.

Im Nachkriegsdeutschland waren Forderungen nach Kolonien trotz Adenauers Regierung nicht sehr populär. Die Bundeswehr ehrte dagegen alte Mord-Haudegen wie Lettow-Vorbeck bei dessen Beerdigung und später in Form der Namensgebung von Kasernen. Auch heute noch sind Straßen nach ihm und nach anderen kolonialen Mordbrennern benannt. Eine letzte Lobeshymne auf den „Löwen von Afrika“ durfte 2019 ein rechtsgedrehter Fantasy-Autor ganzseitig in der teils schon schwarz-weiß-roten FAZ singen.

1995 besuchte Helmut Kohl als erster Kanzler Namibia. Er ging dabei Vertretern der Herero und Namibia konsequent aus dem Weg. Unter Anwendung weiterer Winkelzüge (behauptet wurde, die UNO-Konvention von 1949 gelte nicht rückwirkend) und unter Missachtung der Haager Landkriegsordnung leugnete die Kohl-Regierung in den Neunzigern, im Jahr 2004 der rot-grüne Außenminister Joschka Fischer, und 2012 auch die Merkel-Regierung den Genozid. Die Nachfahren der Gemordeten klagten ab 2002 vor Gerichten; sie bekamen 2017 in den USA Recht.

Inzwischen wurden einige Dutzend der rund 3000 geraubten Totenschädel, die im Keller der Charité lagern, zurückgegeben. Der Genozid wird von der Bundesregierung eingestanden. Dabei wird jedoch immer nur mit der Regierung von Namibia verhandelt, nie mit den Kindeskindern der Opfer. Schließlich sieht der gegenwärtige Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin und Ex-DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke im deutschen Kolonialismus etwas zivilisierend Gutes. Daher bot man kürzlich – wieder nur der Regierung in Windhoek – zehn Millionen Euro-Peanuts an und wunderte sich, dass der Schwarze Mann und die Schwarze Frau das nicht goutieren wollen.

Das erinnert mich an meine Zeit als Ministrant. Damals kauerte ein hölzernes kleines „Mohrenkind“ in einer Ecke der Pfarrkirche auf einem Opferstock. Beim Einwurf von zehn Pfennig neigte es zustimmend den Kraushaarschopf. Die Bundesregierung sitzt den Streit aus und wartet weiter auf den „Nickneger“. Doch der sagt sich: Die Deutschen werden uns ihren ersten Genozid nie verzeihen.

Klaus Gietinger veröffentlichte mehrere Bücher zum Ersten Weltkrieg, zur Novemberrevolution und zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Zuletzt erschienen: „Kapp-Putsch 1920“ (Schmetterling) und „Blaue Jungs mit roten Fahnen – Die Volksmarinedivision 1918/19“ (Unrast).