Ein Ende der Ausbeutung von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft setzt die Überwindung des institutionalisierten Rassismus und eine andere EU-Arbeitsmarktpolitik voraus
Migrantische Arbeit ist das Schmiermittel der Landwirtschaft im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Landwirtschaftliche Flächen können nun mal nicht ausgelagert werden. Insbesondere in Industrieländern wird der Bedarf nach billigen Arbeitskräften in der Landwirtschaft daher durch immer weiter ausgreifende Rekrutierungsketten von migrantischen Arbeitskräften gedeckt. So auch in der EU. Während die Arbeitskämpfe an den südlichen Rändern der EU, in Südspanien, Süditalien und Griechenland, in den letzten Jahren vielfach dokumentiert wurden, war die Tatsache, dass auch der reiche Norden wesentlich auf die billige migrantische Arbeit in der Landwirtschaft angewiesen ist, kaum im öffentlichen Bewusstsein. In Schweden kommen 80 Prozent der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft aus Drittländern, früher überwiegend aus China und Vietnam, heute aus Thailand. Auch in den Niederlanden arbeiten knapp 50.000 Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa, und in D eutschland gibt es, so eine Schätzung des statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2016, rund 300.000 migrantische Saisonarbeitskräfte.1
Systemrelevanz bedeutet verschärfte Ausbeutung
Mit der Corona-Krise in diesem Jahr wurde die Systemrelevanz nicht nur des Lebensmitteleinzelhandels, sondern auch der Landwirtschaft deutlich. Statt verbesserten Arbeitsbedingungen bedeutete dies für die Saisonkräfte aus Rumänien, Polen oder der Ukraine jedoch faktisch eine Verschärfung der Bedingungen. So setzte der Bauernverband eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 12 Stunden am Tag durch. Auch wurde der Zeitraum, in der Saisonarbeitskräfte auf Basis einer „kurzfristigen Beschäftigung“ ohne Sozialversicherung angestellt werden dürfen, von 70 auf 115 Tage verlängert. Direkt vom Rollfeld der Flughäfen wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter in die Unterkünfte transportiert, koordiniert von Bauernverband und Bundespolizei. Dies machte es der Agrargewerkschaft IG BAU unmöglich, sie über ihre Rechte zu informieren. Laut Verfügung des Agrarministeriums war es weiterhin möglich, bis zu 20 Arbeiterinnen in eine Unterkunft zu pferchen. Scho n in den letzten Jahren erhielten diese Arbeitskräfte auf dem Papier den Mindestlohn, faktisch aber wurden ihnen für Massenunterkünfte, Anreise mit dem Bus und manchmal selbst für Arbeitsutensilien Teile des Lohns abgezogen. Kontrolle übten Betriebe oft aus, indem sie Pässe der Arbeitenden einbehielten und einen Arbeitsvertrag nur auf Deutsch ausstellten.
Die agro-industrielle Reservearmee arbeitet hierzulande saisonal zu Bedingungen, die nicht anders als institutionalisierter Rassismus zu bezeichnen sind. Die massive Diskriminierung gegenüber einheimischen Arbeitskräften in den Betrieben ist offensichtlich. Erstes Beispiel: Auf dem Erdbeer- und Spargelhof Ritter bei Bornheim erhielten migrantische Arbeitskräfte aus Osteuropa über Wochen nur ein geringes Taschengeld und verschimmeltes Essen zugeteilt. Es mangelte an grundlegender hygienischer Versorgung und es gab kein warmes Wasser. Sie bekamen gesetzeswidrig ihre Löhne nicht etwa im Wochen- oder Monatsrhythmus ausgezahlt. Sie sollten sie stattdessen erst bei der Abreise erhalten. Zweites Beispiel: Im Juli 2018 starb eine ungarisch-ukrainische Erntearbeiterin auf einem Hof im bayrischen Mamming. Zwei Mitarbeiter des Hofs gaben zu Protokoll, die Frau habe mehrfach über Schmerzen in der Brust geklagt. Ein Transport ins Krankenhaus wurde ihr jedoch verweigert. Dieser g eschah erst, als es bereits zu spät war. Dennoch sah die Staatsanwaltschaft vor Ort keinen Ermittlungsbedarf. Erst ein taz-Artikel machte den Fall vor wenigen Wochen öffentlich.2 Laut Rechtsberatungsorganisation „Faire Mobilität“ wurden auf dem Hof der gesetzliche Mindestlohn nicht bezahlt und die Ausweise der Arbeitskräfte wurden vom Management einbehalten.
Was für ein Europa wollen wir?
Ohne Frage ist die massive Ausbeutung der saisonal Beschäftigten aus Rumänien oder Polen in der hiesigen Landwirtschaft auch darin begründet, dass viele Obst- und Gemüsebetriebe in Deutschland wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand stehen, und ihnen insbesondere der Preisdruck des Einzelhandels zu schaffen macht.3 Die Landwirtschaft ist nur ein Beispiel für die enorme Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von den billigen Löhnen osteuropäischer Arbeitskräfte. Bauarbeiter subventionieren als Scheinselbstständige mit Stundenlöhnen deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn den Gebäudebau. Lkw-Fahrer schlafen monatelang in ihren Fahrzeugen, um Sprit zu sparen. In der häuslichen Pflege sind hunderttausende Osteuropäerinnen rund um die Uhr sieben Tage in der Woche verfügbar. Die Arbeitsbedingungen in jedem dieser Sektoren haben stets Gemeinsamkeiten: Diese Arbeitskräfte sind unterbezahlt, sie werden systematisch von bestimmten sozialen u nd tarifrechtlichen Absicherungen ausgeschlossen, und sie bleiben mit ihren Tätigkeiten weitgehend von der heimischen Bevölkerung in Deutschland isoliert.
Während der Ausschluss in der Landwirtschaft über die spezielle Einordnung der Saisonarbeit als „kurzfristige Arbeit“ funktioniert, ist die Grundlage des Ausschlusses in den anderen Sektoren das Prinzip der Arbeitsentsendung: Unternehmen in der EU haben das Recht, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedsland zu erbringen; sie können ihre eigenen Beschäftigten dorthin entsenden. Die Sozialversicherungsbeiträge werden dann nicht in dem Land gezahlt, in dem die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer tatsächlich tätig ist, sondern in dem Land, in welchem ihr Arbeitsvertrag unterzeichnet ist. Das Prinzip der entsandten Arbeit macht die hohen Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westeuropa nutzbar. Damit wird der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt massiv verschärft. Die Krux ist, dass die Beschäftigten vielfach keinerlei Kontrolle über die Sozialversicherungsbeiträge haben. Oftmals werden sie gar nicht gezahlt.
Es geht hierbei um nicht weniger als um die Frage, wie wir die politische Ökonomie von Arbeit in der EU organisieren, die zunehmend von Mobilität gekennzeichnet ist. Wer von der „Wertegemeinschaft der EU“ spricht, sollte beim Thema der konkreten Arbeits- und Wohnsituation der Menschen innerhalb dieser Lieferketten zwischen dem Osten und Westen Europas nicht schweigen. Wie sieht ein linker Ansatz gegen diese Formen der Maximalausbeutung aus? Aus meiner Sicht, gibt es drei zentrale Elemente.
Erstens muss die liberale Politik der Arbeitsmarktentsendung durch eine solidarische Politik ersetzt werden, die den gleichen Bruttolohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort festschreibt. Mit Bruttolohn ist gemeint: die Vergütung der Arbeitsleistung inklusive Steuern und Sozialabgaben. Für die Landwirtschaft bedeutet dies konkret, dass es keine Ausnahme für sogenannte kurzfristige Arbeit mehr geben darf und die Saisonarbeitskräfte daher nicht mehr von der sozialen Absicherung ausgeschlossen werden dürfen. Zugleich würde durch das Prinzip des gleichen Bruttolohns Sozialdumping verhindert, etwa im Baugewerbe.
Zweitens brauchen wir strikte, grenzüberschreitende Kontrollen. Das mag banal klingen, ist es aber nicht. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag, die Zahlung der Sozial- und der Krankenversicherung und die Einhaltung des Mindestlohnes müssen mittels effektiver Kontrollen durchgesetzt werden. Dies ist bisher oft nicht der Fall. Dazu braucht es auch eine Aufstockung der Kapazitäten des Zolls. Notwendig wäre zudem eine europäische Sozialversicherungsnummer und die digitale Verknüpfung der Sozialversicherungsregister, um grenzüberschreitend gegen Sozialbetrug vorzugehen.
Drittens brauchen wir echte Schritte zur Selbstermächtigung der migrantischen Arbeitskräfte. Sie müssen die Möglichkeit haben, sich grundlegende Sprachkenntnisse anzueignen und sie müssen ihre Arbeitsrechte hier in Deutschland kennen. Ein wichtiger Aspekt wären auch Sozialkontakte zu der einheimischen Bevölkerung hier in Deutschland. Und nicht zuletzt ist die Etablierung einer wirksamen gewerkschaftlichen Vertretung notwendig. Für linke Akteure in Deutschland heißt das: Die vielfach beeindruckende Solidarität gegenüber geflüchteten Menschen aus Drittländern sollte auch auf die migrantischen Arbeitskräfte aus Osteuropa ausgeweitet werden.
Benjamin Luig beschäftigt sich mit Fragen der Agrarpolitik. Von 2016 bis 2019 war er Leiter des Programms Ernährungssouveränität der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Anmerkungen:
1 https://www.opensocietyfoundations.org/publications/are-agri-food-workers-only-exploited-in-southern-europe
2 https://taz.de/Tod-einer-Erntehelferin-in-Bayern/!5704430&s=Maurin/
3 https://www.rosalux.de/news/id/41506/keine-agrarwende-ohne-preisregulierung/