In den Medien geht es beim Thema Rassismus in der Regel um verbale oder tätliche Übergriffe, um racial profiling durch Polizeikräfte und – selten – um institutionellen Rassismus. Die Black-lives-matter-Proteste in den USA prangern die Polizeigewalt bis hin zu Tötungsdelikten gegenüber der schwarzen Bevölkerung an. Inzwischen finden diese Proteste ihren Widerhall in anderen Teilen der Welt – Anlass, um sich hier mit der Kontinuität des Rassismus und seinen Verästelungen in den USA, dem vermeintlichen Mutterland der Demokratie, zu befassen. Mit dem Attribut „vermeintlich“ soll auf die große Kluft, die zwischen legislativen Errungenschaften einerseits und gelebter Praxis andererseits hingewiesen werden. Affirmative Action – ein Bündel von Gesetzen, Richtlinien und Verordnungen, mit dem Ziel „die Auswirkungen einer spezifischen Form der Diskriminierung zu beenden und zu korrigieren“1 reicht bis in die 1930er Jahre zurück. Unter Präsident Roosevelt wurde 1933 mit dem Unemployment Relief Act erstmals ein Gesetz verabschiedet, dass bei Auftragsvergaben durch die Bundesregierung vorschrieb, dass „keine Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe oder Glaubensbekenntnis stattfinden darf.“2 Andererseits dauerte es weitere 35 Jahre, bis die Rassentrennung durch den 1968 vom Kongress verabschiedeten Civil Rights Act formal abgeschafft wurde.
Mit dieser Verspätung wurde zwar die Rassentrennung abgeschafft, doch die Diskriminierung der nicht-weißen Bevölkerung setzt sich bis heute fort, ganz abgesehen von einem roll-back, das lange vor der Amtszeit von Donald Trump einsetzte. Beginnend 1996 ist die Affirmative Action bisher in acht US-Bundesstaaten annulliert worden und nach wie vor sitzen deutlich mehr Schwarze als Weiße im Gefängnis: Unter Berücksichtigung ihres Anteils an der Bevölkerung waren es 2018 laut offizieller Statistik fünfmal so viel3, ein großer Teil von ihnen wegen Drogendelikten. Dies wiederum hat seine eigene Geschichte, deren Kenntnis wir Unter anderem Gary Webb verdanken. Webb, ein investigativer Journalist aus Kalifornien, veröffentlichte 1996 seine Artikelserie „Dark Alliance“4. Darin ging es um die Hintergründe der sogenannten „Crack-Epidemie“. Während Kokain zuvor eine Droge der Reichen war, wurden ab 1981 die Armenviertel von Los Angeles und vielen and eren amerikanischen Großstädten mit billigem Kokain überflutet. Mit Wissen der CIA wurde in jener Zeit aus Kolumbien kommendes Kokain massenhaft verkauft, um aus den Erlösen die „Contras“ – konterrevolutionäre Milizen in Nicaragua – zu finanzieren. Im eigenen Land leistete dieser Kokain-Boom zusammen mit hohen Arbeitslosen- und Kriminalitätsraten seinen Beitrag zur Zerstörung des soziale Gewebes in den „afro-amerikanischen Slums – Stadteilen, die sich früher durch einen starken sozialen und institutionellen Zusammenhalt“ auszeichneten5.
Diese Zerstörung des sozialen Zusammenhalts war sozusagen das „Sahnehäubchen“, das nachträglich auf das geheime Counterintelligence Program (COINTELPRO) des FBI gesetzt wurde. Mit COINTELPRO richtete sich das FBI gegen die revolutionär-sozialistisch orientierte Black Panther Party und andere militante Organisationen wie das American Indian Movement, gegen die Friedensbewegung im Kontext des Vietnamkriegs und letztendlich alles andere, was als „links“ betrachtet wurde, denn dieses Geheimprogramm gab es bereits seit 1956. Die Ermordung von Aktivisten, Gerichtsurteile auf Basis gefälschter Beweise und die Unterwanderung der lokalen Gruppen waren verbreitet. Bei dem erfolgreichen Einbruch in ein FBI-Büro im März 1971 wurden über tausend geheime Dokumente erbeutet, die anschließend der Presse zugespielt wurden. Damit flog das COINTELPRO auf und wurde offiziell beendet. Dass der Geist des COINTELPRO nicht verschwand, lässt sich bis in die heutige Z eit nachverfolgen. „Sozialismus“, selbst wenn dahinter nur ein gemäßigter sozialdemokratischer Ansatz steht, ist nach wie vor eines der größten und wirksamsten Schreckgespenster in der US-amerikanischen Politik – schnell zur Hand, um politische Gegner zu diffamieren, zuletzt während Bernie Sanders‘ Kampagne um die Präsidentschaftskandidatur.
Aus seiner Perspektive handelte das FBI skrupellos, aber folgerichtig. Die von Huey Newton und Bobby Seale 1966 gegründete Black Panther Party fasste innerhalb kürzester Zeit in zahlreichen Städten Fuß und schuf Allianzen mit anderen linken Bewegungen und militanten Organisationen lateinamerikanischer und asiatischer Minderheiten.6 Folgerichtig wurde sie von den Sicherheitsorganen als Systembedrohung empfunden. Die Website von PBS, des öffentlichen Rundfunks der USA, zitiert eine Äußerung des berüchtigten FBI-Direktors John Edgar Hoover vom 15. Juni 1969: „Die Black Panther Party stellt ohne Frage die größte Bedrohung der inneren Sicherheit dar.“7
Zurück in die Gegenwart. Die weltweiten Proteste nach der Tötung von George Floyd am 25. Mai in Minneapolis suggerieren, dass dies ein neues Phänomen sei. So, als würde eine Lücke existieren zwischen den Ereignissen, die in der letzten Zeit Schlagzeilen machten, und der tödlichen Polizeigewalt gegen schwarze US-Bürger während der Bürgerrechts- und Antivietnamkriegsbewegung. Ein Eintrag in der Website im englischsprachigen Wikipedia legt nahe, dass dem nicht so ist. Unter „Lists of killings by law enforcement officers in the United States“ ist zu lesen, dass in den USA Jahr für Jahr über 1000 Menschen von der Polizei getötet werden. Es bedürfte einer Analyse der dort detailliert aufgelisteten Fälle, um herauszufinden, wie viele dieser Toten Nicht-Weiße waren und wie viele von ihnen getötet wurden, ohne dass eine tatsächliche Gefahr für Leib und Leben der Sicherheitskräfte bestand. Doch es liegt nahe, dass die Mehrzahl der Polizeiopfer aus der nicht-weißen Bevölkerung stammt. Wenn heute, unter Trumps Präsidentschaft, von einer tief gespaltenen amerikanischen Gesellschaft die Rede ist, gerät aus dem Blickfeld, dass die bis in die Sklavenhalterzeit zurückreichende Spaltung von offizieller Seite zu keinem Zeitpunkt ernsthaft aufgearbeitet wurde. Eine solche Aufarbeitung, müsste nicht nur die oben beschriebenen brutalen Auswüchse umfassen, sondern auch die eingangs als „Verästelungen“ bezeichneten Nebenschauplätze des in den USA herrschenden Rassismus.
Manche fallen gar nicht unter den Begriff Rassismus im engeren Sinn. Bis in die 1930er Jahre hinein war Eugenik in den USA ein hoffähiger Denkansatz und stand zugleich an der Wiege der modernen Molekularbiologie. Die „Kapitäne“ großer Unternehmen (Carnegie/Rockefeller) förderten biologische Grundlagenforschung als Investition in soziale Kontrolle, mit dem Ziel „eine sichere Welt für private Unternehmen“ zu schaffen.8 Doch die Förderung beschränkte sich nicht auf die Grundlagenforschung.
Anfang des 20. Jahrhunderts finanzierten die Carnegie- und die Rockefeller-Stiftung explizit Programme zur Zwangssterilisierung geistig Behinderter. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Programme zur Zwangssterilisierung, zum Beispiel in Guatemala, wo „massivste Sterilisationsprogramme – vor allem an der indianischen Bevölkerung – durchgeführt“ wurden.9 Beteiligt war die von der Rockefeller-Stiftung finanzierte International Planned Parenthood Federation. Auf ihrer Website sucht man vergebens nach einer Distanzierung von den Verbrechen der Vergangenheit. Spannt man den Bogen weit genug, ergibt sich ein kohärentes Bild einander ergänzender, menschenverachtender Konzepte der sozialen Kontrolle. Rassismus und Eugenik sind zwei Puzzleteile davon. Dass der Appell an rassistische Ressentiments dazu dient, Ungleichheit zu rechtfertigen und zu reproduzieren, ist keine neue Erkenntnis. So lange sie nicht das System gefährden, werden kritische Stimmen toleriert. We iter gedacht, gelangt man zur Frage „Transformation oder Revolution“? Letztere scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein.
Peter Clausing lebte von 1994 bis 1996 in den USA und war in der Zeit Mitglied des Leonard Peltier Defense Committee in Little Rock, Arkansas. Er lebt in Brandenburg und schreibt regelmäßig für Lunapark21.
Zitate englischer Passagen in deutscher Sprache übersetzte der Autor.
Anmerkungen:
1 Feinberg, W. (2005): Affirmative Action, in: LaFollette, H. (Herausgeber): The Oxford Handbook of Practical Ethics, Oxfor University Press, S.272-299
2 Anderson, T.H. (2004): The Pursuit of Fairness: A History of Affirmative Action. Oxford University Press
3 Gramlich, J. (2020): Black imprisonment rate in the U.S. has fallen by a third since 2006. Fact Tank. Pew Research Center. https://www.pewresearch.org/fact-tank/2020/05/06/share-of-black-white-hispanic-americans-in-prison-2018-vs-2006/
4 Webb, G. (1996): America‘s ‚crack‘ plague has roots in Nicaragua war. San Jose Mercury News, 18.08.1996. https://narconews.com/darkalliance/drugs/start.html
5 Duvoux, N. (2013): Exploiting the Urban Poor: Eviction and Imprisonment of Afro-American Inner-city Dwellers. https://booksandideas.net/Exploiting-the-Urban-Poor.html
6 Bloom, J. und Martin Jr., W.E. (2013) Black against Empire. The History and Politics of the Black Panther Party. University of California Press
7 https://www.pbs.org/hueypnewton/people/people_hoover.html
8 Lily E. Kay (1993): The Molecular Vision of Life. Caltech, The Rockefeller Foundation, and the Rise of the New Biology. Oxford 1997
9 Deutscher Bundestag (1986) Drucksache 10/6072. http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/10/060/1006072.pdf