Wie der Rassismus in den USA tötet
Bevor George Floyd am 25. Mai in Minneapolis durch vier weiße Polizisten getötet wurde, hatte er, wie Millionen andere Afroamerikaner, seinen Job aufgrund der Corona-Pandemie verloren. Die darauffolgenden USA-weiten Aufstände entzündeten sich folglich nicht nur an der Wut über die rassistische Polizeigewalt. Sie wurden auch aufgrund der massiv ungleichen Betroffenheit der schwarzen Bevölkerung durch die Corona-Pandemie befeuert. Beides ist Ausdruck eines anhaltenden institutionellen und strukturellen Rassismus.
Jetzt, während der globalen Covid-19-Pandemie, werden die Auswirkungen sichtbarer denn je. Dieses Virus ist verheerend für die afroamerikanische Bevölkerung. In New York sterben Schwarze zweimal so häufig wie Weiße. In Chicago sind es beinahe sechsmal so viele Schwarze, die sterben, wie Weiße. Im südlichen Bundesstaat Louisiana sind 70 Prozent der Corona-Toten schwarz – ihr Anteil an der Bevölkerung macht jedoch nur 33 Prozent aus. Im Bundesstaat Michigan machen Schwarze 12 Prozent der Bevölkerung aus, an den Virus-Toten haben sie jedoch einen Anteil von 40 Prozent. Quer über das ganze Land hinweg, sind 22,5 Prozent der Covid-19-Toten schwarz, obwohl sie nur 12,5 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen. Viele tausend Schwarze wären noch am Leben, wenn die Sterblichkeit gleich hoch wäre wie bei der weißen Bevölkerung.
Das Virus diskriminiert nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen es auftritt, jedoch umso mehr. Die unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie sind tief in den historischen und weiterhin anhaltenden sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten verwurzelt. Zahlreiche Faktoren wie der Gesundheitszustand, Zugang zur Gesundheitsversorgung, Wohlstand, Beschäftigung, Einkommen, Wohnverhältnisse und Armut tragen alle zu einer größeren Anfälligkeit für das Virus bei – sowohl in Hinblick auf das Risiko, an Covid-19 schwer zu erkranken, als auch von den ökonomischen Auswirkungen der Krise besonders hart getroffen zu werden.
So arbeiten deutlich mehr Schwarze als Weiße im Dienstleistungsbereich, also in Berufen, wo es sich in Krisenzeiten nicht einfach von zu Hause arbeiten lässt und die als essentiell für die Gesellschaft gelten. In New York sind 75 Prozent der sogenannten „unentbehrlichen Arbeitskräfte” – was hier meist als „systemrelevant“ bezeichnet wird – Angehörige nicht-weißer Bevölkerungsgruppen. Sie müssen auch inmitten der Gesundheitskrise in Büros, Fabriken, Krankenhäuser oder Supermärkte zum Arbeiten gehen. Sie sind häufig einem besonderen hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Beispielsweise sind 40 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Verkehr Schwarze, 60 Prozent der Beschäftigten bei Reinigungsdiensten sind Latinos und Latinas.
Der in der Pandemie so wichtige, nicht nur system-, sondern lebensrelevante Gesundheits- und Pflegebereich stützt sich stark auf die Arbeit schwarzer Frauen. Sie machen beinahe 20 Prozent der Beschäftigten aus, obwohl sie nur einen 11-Prozent-Anteil an allen Arbeitskräften in den USA haben. Vielen dieser Jobs ist gemein, dass sie schlecht bezahlt und unsicher sind.
Während also einerseits besonders viele Nicht-Weiße Beschäftigte in der Krise einer hohen Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, sind andererseits auch überproportional viele schwarze Familien von der grassierenden Massenarbeitslosigkeit in den USA besonders stark und nachhaltig betroffen.
Entsprechend verschärft werden die hohen Arbeitslosenquoten der schwarzen Bevölkerung durch das deutliche Einkommens- und Vermögensgefälle zwischen Weißen und Schwarzen. Einem Bericht des Economic Policy Institutes zufolge verfügen weiße Familien über fünfmal so viel Bargeld in Form von Ersparnissen – auf Giro- und Geldmarktkonten oder in Form anderer flüssiger Mitteln – wie Schwarze. Im Jahr 2018 war das mittlere Haushaltseinkommen weißer Familien um 70 Prozent höher als das von schwarzen Familien. Dieses gravierende Wohlstandsgefälle führt dazu, dass Schwarze deutlich schlechter für Krisen oder eine Epidemie wie Covid-19 gewappnet sind.
Aufgrund von Nachwirkungen der aggressiv praktizierten Rassentrennung und rassistischen Stadtplanung lebt ein großer Teil der schwarzen Minderheit in dicht besiedelten, von Armut stark betroffenen, schlecht versorgten Stadtvierteln. Die Praxis des sogenannten „redlining“ – das ist das systematische Verweigern von Dienstleistungen durch Bundesbehörden, die kommunale Verwaltung und den privaten Sektor für Menschen in überwiegend von Nicht-Weißen bewohnten Stadtvierteln – führt dazu, dass in diesen Stadtteilen elementare Infrastruktur fehlt. Angefangen von der Gesundheitsversorgung, Finanzdienstleistungen, Bildungsangeboten, Müllentsorgung bis hin zu ausreichender Nahversorgung mit Lebensmittelmärkten. Der Schnittpunkt von Armut und Rasse in den USA ist geographisch nicht zufällig. So nimmt der Anteil an Schwarzen, die in innerstädtischen, beengten Vierteln mit hoher Armut leben, seit vielen Jahren kontinuierlich weiter zu. Hoch verdichtete und schlecht versorgte Wohnsiedlungen werden so zu Petrischalen für das Virus. Gleichzeitig sind dies auch exakt jene Viertel, die überdurchschnittlich stark im Mittelpunkt polizeilicher Aufmerksamkeit stehen und in denen es zu Kontrollen und Verhaftungen in großem Ausmaß kommt.
Wenig überraschend sind insbesondere auch die Gefängnisse Orte der Ungleichheit. Die rassistische Polizeiarbeit und ein ebensolches Justizsystem, das zudem Menschen, welche eine Kaution nicht zahlen können, auch aufgrund kleinster Delikte oft monatelang noch ohne Verurteilung ins Gefängnis zwingt, führt dazu, dass auch hier bei nur 12 Prozent an der Gesamtbevölkerung 33 Prozent der Inhaftierten Schwarze sind. Doch gerade die Gefängnisse wurden in der Pandemie zu Orten der Ansteckung. Es gibt keine oder nur mangelhafte Schutzpläne für die Inhaftierten und kaum sanitäre Grundversorgung. Hinzu kommt, dass physische Distanzierung für die Häftlinge nicht praktizierbar ist – schon gar nicht in den überfüllten und ständig verstärkt „befüllten“ US-amerikanischen Gefängnissen.
Die Diskriminierung setzt sich im Gesundheitsbereich fort. Schwarze haben weniger und vor allem auch weniger gute Krankenversicherungen. Menschen sterben dann nicht, weil sie einen unheilbaren Verlauf der Krankheit, sondern weil sie schlicht nicht genug Geld auf dem Konto haben, um rechtzeitig ins Krankenhaus zu gehen. Zudem – und das ist eine entscheidende Ursache für die höhere Todesrate – leiden die Menschen deshalb häufiger an Vorerkrankungen. Bei schwarzen Kindern ist die Wahrscheinlichkeit, an Asthma zu erkranken, mehr als ein Fünftel höher als bei anderen Kindern. In schwarzen Familien ist die Wahrscheinlichkeit, an Bluthochdruck zu erkranken, um mehr als 40 Prozent höher, das Risiko an Diabetes zu erkranken ist gar um 70 Prozent erhöht. Zudem wird Schwarzen nachweislich weniger geglaubt, wenn sie ihre Symptome schildern. Sie werden von den Ärztinnen und Ärzten seltener zum Testen auf Covid-19 überwiesen. Die ständige Belastung durch kle ine und große Benachteiligungen kann zu einem schlechteren Gesundheitszustand führen. Stress, schlechter Schlaf und vieles mehr wirken sich zudem direkt auf das Immunsystem aus.
Das Alltagsleben in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen ist härter, je prekärer die Lebensumstände sind. Kinder aus schwarzen Familien waren bereits seit jeher im Bildungssystem benachteiligt. Nun laufen sie Gefahr, noch weiter zurückzufallen, weil ihnen der Zugang zu virtuellen Bildungsprogrammen fehlt.
Schwarze sind vom Virus aber eben auch von den Begleitwirkungen der Pandemie – Arbeitslosigkeit, Armut, Abbau von Sozialleistungen – überproportional betroffen. Das lässt befürchten, dass sich als Folge der Corona-Epidemie die bestehende rassistische Ungleichheit über Jahre hinweg weiter eingräbt und verstärkt.
In den sechs Monaten seit März 2020 hat Covid-19 in den USA bis Mitte September gut 190 Tausend Menschen den Atem und auch das Leben genommen. George Floyds letzte Worte “I can’t breathe” (Ich kann nicht atmen) wurden zum Zeichen des Protests gegen einen „rassifizierten“ Kapitalismus, der sich in der katastrophalen, den Profitinteressen entsprechenden Reaktion der US-Regierung auf die Covid-19-Krise noch verdeutlichte. Trotz der Angst vor der Pandemie gingen die Menschen gemeinsam auf die Straße. Während diese Massenproteste schnell und meist umfassend unterdrückt werden, fehlt es am Willen, die Pandemie wirksam zu bekämpfen. Es wird deutlich, dass die Stabilisierung eines auf Ungleichheit und Ausbeutung aufbauenden Systems wichtiger als die Gesundheit der Menschen ist. Bereits lassen neuere Fälle von rassistischer Polizeigewalt die Proteste in den USA an verschiedenen Orten wieder aufflammen. Es handelt sich nicht um eine enge, einseitige politische Bewegung. Die Aufstände überschneiden sich mit allgemeinen Themen von Einkommensungleichheit, Arbeitslosigkeit und Wohnverhältnissen. Wenn nun in Chicago die Bürgermeisterin abends alle Brücken zum Luxusviertel in der wohlhabenden Innenstadt hochziehen lässt, um die dort ansässigen Unternehmen und Bewohnerinnen und Bewohner vor den Aufständischen „zu schützen“, dann ist dies mehr als eine symbolische Zuspitzung. Es ist die Manifestation einer weiterhin zutiefst ungleichen, segregierten Gesellschaft – deren ideologischer Kitt vom American Dream die Gräben nicht mehr zu füllen vermag. Vielleicht entsteht in diesen Bruchlinien nun eine Bewegung, die jene Strukturen, die darüber entscheiden, wer atmen darf und wer anderen den Atem nehmen kann, nicht nur erschüttert, sondern ein für alle Mal niederreißt.
Verena Kreilinger ist Medienwissenschaftlerin, aktiv in Salzburg in der Klimabewegung und bei Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative und (zusammen mit Ch. Zeller und W. Wolf) Mitverfasserin von Corona, Krise, Kapital – Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie (Köln, August 2020).
Covid-19 und Ungleichheit weltweit
Die gravierende Ungleichheit ist nicht auf die USA beschränkt. Auch für Großbritannien meldet das nationale Statistikamt, dass schwarze Menschen mehr als viermal so oft an Covid-19 sterben wie weiße Menschen. Auch Menschen aus Bangladesch, Pakistan, Indien haben ebenfalls ein „statistisch signifikant erhöhtes Sterberisiko“. Mit zunehmender Anzahl statistischer Auswertungen ergeben sich ähnliche Bilder auch an anderen Orten auf der Welt.
Das Virus trifft auf eine rassistisch und patriarchal geprägte Klassengesellschaft und wird entsprechend zu einer Pandemie der Ungleichheit. Diese Tatsache wird in den deutschsprachigen Ländern wenig diskutiert, doch ist sie auch hierzulande offensichtlich. „Gerade Patienten, die zu Minderheiten gehören und sozial schwach sind, sind bei der Morbidität und der Mortalität am stärksten betroffen. Sie werden also verhältnismäßig öfter krank und sterben öfter an der Krankheit. Das haben Studien in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Norwegen gezeigt.
„Das sieht man auch im Mikrokosmos Krankenhaus“, macht Cihan Çelik, Funktionsoberarzt auf der Isolierstation für Covid-19-Kranke im Klinikum Darmstadt, auch für Deutschland deutlich. Es wirkt sich nicht nur die strukturelle Ungleichheit aus, sondern diese wird durch die Politik der Pandemieeinhegung erst recht reproduziert und verschärft. So sind die Menschen von den Maßnahmen der Regierungen höchst unterschiedlich betroffen. Die mittel- und langfristigen Konsequenzen werden die bestehende Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften, aber auch im globalen Maßstab massiv verstärken.