Unheilvolle Symbiose

Der Lieferant des Eschede-Rads als Aufsichtsrat der Bahn
Lunapark21 – Heft 22

Die fragwürdige Radkonstruktion für den ICE-1 stammte von der VSG Verkehrstechnik GmbH. Dieses später umbenannte Unternehmen lieferte damals und liefert heute einen großen Teil der Radsätze für die Deutsche Bahn (früher Bundesbahn, heute Deutsche Bahn AG). Bereits 1993, ein Jahr nach Einführung der fraglichen Radkonstruktion beim ICE-1 traten Verformungen des Gummireifens auf, was ein Bahn-Techniker notierte.[1] Darauf schrieb das Unternehmen VSG an die Bahn: „Offensichtlich müssen wir davon ausgehen, dass im Betriebseinsatz überproportionale, bei der Entscheidung zum Einsatz weder von Ihnen noch von uns erwartete Kräfte einwirken.“ (Zitat in: Stern 34/2001). Genau das war der Fall – doch es wurden daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Die Grenzwerte wurden verwässert.

Die VSG Verkehrstechnik GmbH wurde am 19. Mai 1998 durch die Georgsmarienhütte GmbH übernommen. Am 3. September 1998 wurde das Unternehmen umbenannt in Bochumer Vereinigte Schmiedewerke GmbH. Zwischen beiden Daten lag die Eschede-Katastrophe.
Im aktuellen Firmenproträt der Bochumer Vereinigte Schmiedewerke GmbH ist zu lesen: „Gummigefederte, geräuscharme Radsysteme. Seit über 50 Jahre haben sich unsere gummigefederten Radsysteme im täglichen Einsatz bewährt und garantieren den Betreibern ein Höchstmaß an Verfügbarkeit.“ Trotz der detaillierten Zeittafel „von VSG zum Bochumer Verein“ findet sich zu Eschede kein Wort.

Die Muttergesellschaft der Bochumer Vereinigte Schmiedewerke GmbH, die Georgsmarienhütte Holding, gelangte 1993 durch ein Management-Buy-out für zwei DM in das Eigentum von Jürgen Großmann. Großmann wurde von der Süddeutschen Zeitung zu den FROGs gezählt, den „Friends of Gerhard Schröder“. In der Amtszeit von Gerhard Schröder als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen übernahm Großmann die GM-Hütte. Das Land gewährte Großmann 1994 einen 100-Millionen-DM-Kredit, mit dem Großmann die GM-Hütte zu einem äußerst profitablen Unternehmen ausbaute. In der Amtszeit von Gerhard Schröder als Bundeskanzler wurde Jürgen Großmann – damals bereits zusätzlich RWE-Chef – Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG.

Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG ist Großmann auch heute noch. Das von ihm über die GM-Hütte kontrollierte Unternehmen Bochumer Vereinigte Schmiedewerke GmbH ist hochprofitabel – unter anderem aufgrund der Tatsache, dass es Hoflieferant von Achsen und Radsätzen für die Deutsche Bahn AG ist.

Deutscher Bundestag, Verkehrsausschuss, 17. Juni 1998; TO Eschede
Protokollauszug: „Dr. Winfried Wolf (PDS): (…) Ins Gedächtnis rufen wolle er seine Fragen im Zusammenhang mit der Kasseler Thyssen-Tochter für Messtechnik und Qualität, wonach es im Mai 1997 Prüfberichte zu den Radsätzen gegeben habe, die von massiven Mängeln auch bei neuen Radsätzen gesprochen hätten. Zusätzlich bitte er zu beantworten, ob es stimme, dass diese Firma Räder mit mehr als 300000 km Laufleistung zur Untersuchung angefordert habe, die jedoch nicht geliefert worden seien. (…)
Roland Heinisch: Er weise darauf hin, dass die DB AG mit Monoblock-Rädern anfangs angesichts deren unterschiedlicher Oberflächenhärte Probleme gehabt habe. Es könne sein, dass sich auch Thyssen damit beschäftigt habe. Er werde die Frage noch genauer prüfen. (Siehe Anlage 4).“
Anlage 4 des Protokolls ist ein Brief von Roland Heinisch, datiert auf den 22. Juni 1998. Auszug: „Sehr geehrter Herr Dr. Wolf, im Nachgang zur Anhörung des Verkehrsausschusses vom 17. Juni 1998 gebe ich folgende Informationen auf Ihre Anfragen (…) 3. Im Rahmen eines vom BMBF geförderten Projekts ´Unrunde Räder´ hatte Thyssen/Kassel (…) den Auftrag erhalten, je 8 Räder der BA 64 (gummigefederte Räder) zu verbessern, die Härte zu bestimmen und zwar im Neuzustand, nach 60000 km, nach 110000 km usw. bis max. 400000 km Nach 300000 km waren die Laufflächen aufgrund ihres Zustandes abgedreht und konnten deswegen Thyssen nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Mit freundlichen Grüßen R. Heinisch.“
Heinisch machte damit im Ausschuss die irreführende, falsche Aussage, die Thyssen-Tochter sei zur Prüfung von Monobloc-Rädern beauftragt worden. Eine Woche nach der Ausschusssitzung bestätigt er dann brieflich, dass diese Firma die gummigefederten Räder geprüft hatte. Er macht darüber hinaus deutlich, dass das Bundesverkehrsministerium an dieser Untersuchung beteiligt war. Siehe den auf S. 24/25 zitierten Bericht mit den katastrophalen Prüfergebnissen für die untersuchten Räder.

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