Ungleichheit im Coronakapitalismus

spezial 1: kapital, reichtumsakkumulation & ideologie

Das Corona-Virus greift nicht nur unsere Gesundheit an, es zerstört auch die Illusion, wir lebten in einer klassenlosen Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder.

Die Pandemie brachte es an den Tag: Ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte kommt ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für ein paar Wochen aus. Und das trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards.

Vom „rheinischen“ zum schweinischen Kapitalismus

Der französische Ökonom Michel Albert hat Deutschland kurz nach der Vereinigung als „rheinischen Kapitalismus“ bezeichnet und ihn dem angelsächsischen beziehungsweise US-amerikanischen Wirtschaftsmodell idealtypisch gegenübergestellt. Obwohl das rheinische Modell gerechter und effizienter sei, werde sich das ultraliberale, weniger egalitäre Modell des US-Kapitalismus, bedingt durch die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die neoliberale Globalisierung der Finanzwirtschaft, über die ganze Welt ausbreiten. Tatsächlich hat in den vergangenen Jahrzehnten – feuilletonistisch ausgedrückt – ein Wandel vom „rheinischen“ zum schweinischen Kapitalismus stattgefunden. Bei letzterem handelt es sich um ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet sowie der Profitmaximierung durch eine kleine Gruppe von Multimillionären und Milliardären, die eng mit Exponenten des politischen Systems verbunden sind, praktisch keine Grenzen setzt.

Dies wurde nie deutlicher als während der Covid-19-Pandemie: Mehr als 1.400 Beschäftigte der größten Fleischfabrik Europas, in der man täglich Zehntausende Schweine schlachtet, zerlegt und weiterverarbeitet, wurden im Juni 2020 positiv auf Sars-CoV-2 getestet. Darunter waren besonders viele polnische, rumänische und bulgarische Werkvertragsbeschäftigte, die unter skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen litten. Alle seinerzeit am Hauptsitz des Fleischkonzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätigen Menschen mussten sich mitsamt ihren Familien in Quarantäne begeben, weil ein Überspringen des Virus auf die Bevölkerung befürchtet wurde. Kurz darauf drang an die Öffentlichkeit, dass der Fleischbaron Clemens Tönnies an die nordrhein-westfälische CDU gespendet und der frühere SPD-Vorsitzende, Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel gutdotiert als Berater für die Familienholding gearbeitet hatte.

Corona, Armut & Reichtum

Nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien vor einem Virus alle Menschen gleich. Zwar traf die Pandemie alle Menschen, aber mitnichten alle gleichermaßen. Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Fettleibigkeit, Asthma oder Zuckerkrankheit, katastrophale Arbeitsbedingungen sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhten das Risiko sowohl für eine Infektion mit Sars-CoV-2 als auch für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf.

Mit den bakteriell ausgelösten Pandemien, die Europa im 19. Jahrhundert heimsuchten – Cholera, Tuberkulose und Typhus –, hat die Covid-19-Erkrankung gemeinsam, die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten zu treffen. Dazu gehören Obdach- und Wohnungslose, aber auch Bewohnende von Gemeinschaftsunterkünften wie Gefangene, Geflüchtete sowie Werkvertrags- und Saisonarbeitende, Migrierte ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdienende, Kleinstrentner und Transferleistungsbezieherinnen.

Global wie national gilt, dass die Reichen in der pandemischen Ausnahmesituation reicher und die Armen zahlreicher werden. Die Unterbrechung von Lieferketten und Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen, aber auch Konkurswellen und Entlassungen im großen Stil zur Folge. Einerseits blieben Kurzarbeit sowie massenhafte Entlassungen (z.B. in der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrtindustrie) nicht aus, andererseits realisierten Großkonzerne krisenresistenter Branchen (z.B. Lebensmittel-Discounter, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie) in der Corona-krise sogar Extraprofite.

Zu den Hauptprofiteuren des pandemiebedingten Krisendesasters gehörten einige der profitabelsten Unternehmen mit den reichsten Eigentümern. Erstellt man eine Liste jener Konzerne, die von der historischen Ausnahmesituation sogar profitiert haben, reicht sie von A wie Amazon bis Z wie Zalando. Viele kleine Einzelhandel Treibende haben wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen ihre Existenzgrundlage verloren, wovon zahlreiche Leerstände in den Einkaufsstraßen der Städte zeugen.

Zwar brachen die Aktienkurse nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie an sämtlichen Börsen der Welt ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Großinvestoren nutzten die Gunst der Stunde für Zukäufe zu relativ niedrigen Kursen und profitierten davon, dass der Kurstrend aufgrund staatlicher Finanzspritzen bald wieder nach oben zeigte. Am 7. Januar 2021 übersprang der Dax die Schwelle von 14.000 Punkten und knackte am 30. März 2021 sogar die Marke von 15.000 Punkten. Dass es auf dem Höhepunkt der Pandemie mit vielen Toten und Schwerkranken eine Goldgräberstimmung an der Börse gab, mag zynisch erscheinen, zeigt aber, dass es neben zahlreichen Verlierern auch Gewinner der Krise gab. Ausgerechnet während der dritten Infektionswelle im Frühjahr 2021, als Tausende auf den Intensivstationen der Krankenhäuser mit dem Tod rangen und die Pflegekräfte bis zur Erschöpf ung arbeiteten, knallten bei den Börsianern die Champagnerkorken.

Ungerechte Strukturen

Nicht das Coronavirus ist ungerecht, sondern eine Klassengesellschaft, deren Mitglieder es ganz unterschiedlich trifft. Die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, Machtstrukturen und Verteilungsmechanismen haben bewirkt, dass Corona den Trend zur sozioökonomischen Polarisierung in Deutschland verstärkte. Unter den herrschenden Bedingungen wirkte das Virus wie ein Katalysator des sozioökonomischen Polarisierungsprozesses, der das Land innerlich zerreißt, was einen Großteil seiner Menschen wiederum zermürbt und gesundheitlich verschleißt.

Unter dem Druck der Coronakrise, die zu Einkommensverlusten durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und Arbeitslosigkeit geführt hat, kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die Besitzer solcher Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd, deren Eigentümer ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sind. Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen, das die Welt am Sonntag auf 41,8 Milliarden Euro taxierte, allein in den vergangenen zwei Jahren laut dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes um 14,2 Milliarden Dollar gesteigert. Für die Aldi-Erben Beate Heister und Karl Albrecht junior ergab sich immerhin ein Zugewinn von 6,4 Milliarden Dollar, wie der FAZ zu entnehmen war.

Infolge der pandemiebedingten Einkommensverluste sind wahrscheinlich mehr Girokonten von prekär Beschäftigten, Kurzarbeitenden, Soloselbstständigen und Kleinstunternehmen Betreibende ins Minus gerutscht, weshalb gerade die Finanzschwächsten hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten. Dadurch wurden jene Personen, denen die Banken oder Anteile daran gehören, noch reicher, sofern das Privatkundengeschäft trotz der Rezession halbwegs florierte.

Nötig ist eine grundlegende Veränderung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, damit die Menschheit in der Zukunft existenzielle Herausforderungen bestehen kann. Wenn die Coronakrise eines gelehrt hat, dann jedenfalls, dass die Produktions-, Konsum- und Lebensweise eines schweinischen Kapitalismus weder nachhaltig noch geeignet ist, die durch den Ausstoß von Treibhausgasen drohende Klimakatastrophe zu verhindern.

Christoph Butterwegge hat bis 2016 als Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ veröffentlicht.