Hannes Hofbauer in Lunapark21 – Heft 30
Im Park neben der St. Vincent de Paul-Kirche, nördlich des Hafens gelegen, logieren geschätzt 40 bis 60 Obdachlose; Hautfarbe: schwarz, Geschlecht: männlich. „Ohne den Schutz der Kirche wären wir hier schon längst vertrieben“, erzählt uns ein zahnloser junger Mann bereitwillig. Zwei Säcke oder Tragetaschen darf jeder hier laut ungeschriebenem Gesetz als persönliches Hab und Gut in die damit bereits stark übernutzte kleine Parkfläche mitnehmen, meint unser Informant und deutet auf ein Fleckchen Erde, auf dem sich sechs, sieben Plastikbeutel mit Kleidung, Decken und Vorräten stapeln. Dieser Kollege und Leidensgenosse, will er mit der Geste sagen, hält sich nicht an die Regeln.
Direkt am Eingang der Kirche, die der hiesigen Tradition entsprechend außerhalb der Gottesdienstzeiten immer geschlossen bleibt, hat sich ein weißhaariger älterer Schwarzer postiert. Um ihn herum liegen Dutzende Farbstifte, was im ersten Moment den Eindruck eines kleinen Papierwarengeschäfts vermittelt. Auf Nachfrage zieht der bedächtige Mann Papierbögen im Zeitungsformat aus einem Umschlag und erklärt, dass er darauf Blumen und Vögel für Kinder zeichnet, um sie sonntags an Kirchgänger zu verkaufen. Am vergangenen Sonntag ist er drei Stück losgeworden. Während wir uns über sein Business unterhalten, bleibt ein schwarzer Toyota vor dem Aufgang zur Kirche stehen. Ein glatzköpfiger, drahtiger Mann schlägt die Wagentür zu und stellt sich vor das geöffnete Autofenster. Das Zuschlagen der Tür war das Zeichen für die Obdachlosen, die wie auf Befehl dem Toyota zuströmen und vom gut gekleideten Mann braune Päckchen und bedruckte Zettel in Empfang nehmen. In den Papiertüten befindet sich ein kleines Frühstück, die Zettel enthalten christliche Nahrung: Psalmen. Der weißhaarige Zeichner hat wegen unseres Gesprächs den Wohltäter erst relativ spät bemerkt und geht wie zehn, 15 andere diesmal leer aus. Die geschätzten 25 Essenspakete waren deutlich zu wenig für die Kolonie der Obdachlosen. Gedruckte Psalmen sind allerdings genügend vorhanden, weswegen die zu kurz Gekommenen nur mehr geistlichen Beistand erhalten. Willig nehmen sie die Zettel in Empfang, wohl in der Hoffnung, dass christliche Psalmen wenn schon nicht heute, dann morgen, übermorgen oder spätestens im Jenseits den Hunger stillen werden.
Body more, Murderland
Am 19. April dieses Jahres stirbt der 25jährige Afro-Amerikaner Freddie Grey im Polizeigewahrsam. Eine Woche zuvor war er im Stadtteil Gilmore Homes, einem durchwegs von arbeitslosen Schwarzen bewohnten, heruntergekommenen Viertel, festgenommen worden. Augenzeugen berichten, dass die von sechs Polizisten äußerst brutal durchgeführte Festnahme, die offiziell wegen des Tragens eines – unerlaubten – Springmessers erfolgt ist, zu seinem Tod geführt hat. Noch während des Transports im Polizeiwagen fiel Freddie Grey ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachte.
Anschließende Proteste vor der Polizeistation schlugen rasch in Unruhen um, im Zuge derer Geschäfte geplündert und Hunderte Schwarze verhaftet wurden. Am 27. April 2015 ließ der Gouverneur des Bundesstaates Maryland die Nationalgarde aufmarschieren und verhängte den Ausnahmezustand über Baltimore. Der Aufstand in den schwarzen Ghettos wurde militärisch niedergeschlagen. Die anschließende Anklageerhebung gegen die sechs beteiligten Polizisten durch die (schwarze) Staatsanwältin Marilyn Mosby beruhigte die explosive Lage in der Stadt ein wenig. Sie ist zweifellos ein Erfolg der antirassistischen Bewegung, auch wenn ihr unmittelbarer Anlass eine Befriedungsmaßnahme war. Die Situation bleibt dennoch höchst angespannt, wie ein Schussattentat auf das Auto von Sharon Black, der Organisatorin einer Bürgerplattform gegen Polizeiterror, am 5. Juni zeigt.
Baltimore findet sich schon seit Jahren auf der Liste der fünf gefährlichsten Städte der USA. Die Segregation zwischen Arm und Reich findet hier auf engstem Raum statt, sie folgt entlang einzelner Straßenzüge und ändert sich rasch mit der Verwahrlosung bzw. Gentrifizierung von Stadtvierteln. Eine Studie der lokalen Johns Hopkins-Universität hat ergeben, dass die Bevölkerung in den reicheren Stadtteilen mit einer durchschnittlich 20 Jahre höheren Lebenserwartung rechnen kann. Entsprechend spürbar ist die gesellschaftliche Anspannung, die sich öfter als anderswo gewaltsam entlädt. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2015 wurden in Baltimore 112 Menschen ermordet, 35 davon allein im Monat Mai. Am Wochenende des 24./25. Mai gab es laut der Tageszeitung „The Sun“ 18 Schussopfer in dieser Stadt mit einer Bevölkerung von knapp 600.000, die höchste Anzahl seit 20 Jahren. Die Polizei ist außer in den Fällen, in denen sie selbst schießt, meist weit von den Tatorten entfernt, die Aufklärungsrate ist verschwindend gering. Im Fall des Wochenendes von Mitte Mai war Sonntag Abend noch kein einziges Opfer identifiziert, von den Tätern fehlte ohnedies jede Spur.
So bedeckt und uninteressiert sich die Polizei von Baltimore bei der Verbrechensbekämpfung zeigt, so aggressiv agiert sie gegenüber Schwarzen und Armen, was in der Regel deckungsgleich ist. Keine andere Stadt in den USA weist eine ähnlich brutale Geschichte des Polizeiterrors auf wie Baltimore. Schenkt man der oft mangelhaften Statistik Glauben, dann war Freddie Grey im Jahr 2015 das siebte Opfer, dessen Begegnung mit der Polizei tödlich endete. Immer wieder ziehen Polizeitrupps, Schlägerbanden gleich, durch schwarze Ghettos, weswegen die Stadt in der Szene verballhornt „Body more, Murderland“ – womit Baltimore mit „mehr Leichen – Mörderland“ – bezeichnet wird, wobei „murderland“ für den Bundesstaat Maryland steht.
Ein 15jähriger Radfahrer, eine 26jährige Schwangere, eine 50jährige Verkäuferin oder eine 87jährige Großmutter … für sie alle und Hunderte andere endete der Polizeikontakt mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. Zunehmend sieht sich die Stadtverwaltung von Baltimore mit Klagen konfrontiert. Seit 2011 wurde in über 100 Fällen den Opfern von Polizeiübergriffen Entschädigung zugesprochen. Polizeigewalt schlägt somit auch auf das städtische Budget durch und verursacht Kosten in Millionenhöhe. 2014 wurde der entsprechende städtische Haushalt für Gerichtsverfahren auf 4,2 Millionen Dollar aufgestockt. Weitere 20 bis 30 Millionen dürften, laut einer offiziellen Schätzung, die Folgen der Unruhen im April gekostet haben.
Industrie ist Geschichte
Schon an der sinkenden Einwohnerzahl ist der Verfall der an der Chesapeake-Bucht liegenden Stadt ersichtlich. In den vergangenen 40 Jahren hat ein Drittel der Bevölkerung Baltimore verlassen; statt einer Bevölkerung von 900000, die hier bis in die 1970er Jahre lebte und arbeitete, sind es heute nur noch 600000. 63 Prozent davon sind afroamerikanischen Ursprungs, 28 Prozent weiß und 5 Prozent hispanischer Herkunft.
Sparrows Point, direkt am Wasser gelegen, stand seit dem Zweiten Weltkrieg als Synonym für Schwerindustrie. Das Stahlwerk Bethlehem, der Flugzeughersteller Glenn Martin, große Werften, eine Automobilfabrik von General Motors und eine Reihe von industriellen Nahrungsmittelkonzernen, die hier in Baltimore mit der Dosenverarbeitung begonnen hatten, gehören der Vergangenheit an und sind nur mehr im örtlichen Industriemuseum zu besichtigen.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, zur Blütezeit der nach einem englischen Grafen benannten Stadt, fanden 45000 Menschen in den Werften, 50000 in der Flugzeugindustrie und 30000 im Stahlwerk Beschäftigung. Das Magazin Baltimore blickt in seiner Märzausgabe 2007 auf eine wirtschaftlich prosperierende Epoche, die nicht zufällig auf der Kriegsindustrie aufbaute. Doch Baltimore war bereits im 19. Jahrhundert in mancherlei Hinsicht industrielle Speerspitze. Hier wurden im Jahre 1823 die ersten Bahnschienen auf dem amerikanischen Kontinent verlegt, die den Hafen an der Chesapeake-Buch mit Ohio im Landesinneren verbanden. Und hier entstanden in den 1860er Jahren große industrielle Nahrungsmittelkonzerne, die auf Grundlage einer Dosenkonservierung Millionen von Haushalten mit haltbarem Gemüse und Fleisch versorgten und damit eine Industriebranche kreierten, die es zuvor noch gar nicht gab. Das Eindosen von Lebensmitteln begann übrigens mit der hier allgegenwärtigen Auster. Firmen wie Pratt, Kensett und Langrall nutzten das leicht verderbliche Meerestier, das in den hunderten Buchten zwischen Meer- und Flusswasser bestens gedeiht, um einer neuen Technologie zum Durchbruch zu verhelfen. In den 1870er Jahren soll es über 1000 solcher Dosenfabriken entlang der Baltimorer Wasserfront gegeben haben; bald kamen zusätzlich zu Austern auch Gemüse und Obst in Metallbüchsen, um sie über den ganzen Kontinent vertreiben zu können.
Die großen Dosenfabriken haben ihre Produktion längst in andere Weltgegenden verlegt, die Werften sind verrottet, bei General Motors lief 2005 der letzte Chevrolet vom Band, das Stahlwerk schloss nach mehrfachem Besitzerwechsel 2012 seine Pforten. Zurück blieben durch die 2008er-Krise, die in Baltimore bilderbuchhaft zugeschlagen und die kleinen Kreditnehmer besonders hart getroffen hat, zusätzlich immobilisierte Arbeitslose, die in verwahrlosten Vierteln im Osten und im Westen der Stadt auf bessere Zeiten warten.
Der einstige Hotspot US-amerikanischer Industrie, Sparrows Point, beschäftigt heute nur mehr 2000 Menschen, am Hafen werden aus China kommende Containerschiffe und monströs wirkende Riesen entladen, die bis oben hin mit Automobilen bepackt sind. Außer für Chauffeure bietet diese Art der „Industrie“ nur wenigen Menschen Arbeitsplätze. Das mittlerweile arbeitsintensivste Unternehmen der Stadt ist die Johns Hopkins-Universität mit ihren angeschlossenen medizinischen Kliniken.
Tausende ohne Obdach
An der Ecke North Broadway/East Fayette Street steht morgens um 10 Uhr dieselbe junge Frau mit tief zerfurchten Gesichtszügen, die auch abends zuvor den brauen Pappkarton in der Hand gehalten hat: „Homeless. Take anything. Thank you“. Die Feiertagsstimmung des Memorial Day, an dem das herrschaftliche Amerika seiner toten Soldaten in allen Kriegen gedenkt, hat hier am Rande von Down Town Baltimore niemanden erfasst. Anders als in Boston oder New York zieren die breiten Boulevards ausschließlich Werbeposter unterschiedlicher Weltmarktfirmen; die in New England üblichen, auf Fahnenmästen wehenden Stars and Stripes sucht man hier vergeblich.
Die Obdachlose mag 40 Jahre alt sein, obwohl sie von der Ferne, also vom Autofenster aus betrachtet, wesentlich älter aussieht; den wenigen verbliebenen Zähnen nach zu schließen, könnte sie bald auch 60 werden. Wie genau es dazu kam, dass sie ihren Job und die Wohnung verlor, will sie uns nicht erzählen. Sie staunt ein wenig darüber, als wir unser Auto parken und mit ihr das Gespräch suchen. Dass sie hier als weiße Frau in durchwegs schwarzer Umgebung außergewöhnlich wirkt, glaubt sie nicht. Die Armut ist rassenübergreifend. Direkt an der viel befahrenen Kreuzung, am Fuße eines Monuments, das der Opfer des Bürgerkriegs gedenkt, steht „ihre“ Bank. Die Habseligkeiten finden in einem mittelgroßen Müllsack Platz und als Kopfpolster benutzt sie offensichtlich jenen Rucksack, den sie bei der „Arbeit“ ständig am Rücken trägt.
„Es gibt auch städtische Einrichtungen für uns (Obdachlose)“, meint sie auf die Frage, ob es denn keine Alternative zur Straße gäbe. Doch diese Einrichtungen meidet die Frau tunlichst, weil es in den dortigen Schlafsälen nicht nur stickig, sondern auch gefährlich ist. „Hier auf der Straße bin ich sicherer“, ist sie überzeugt. In den Betreuungsstellen für Obdachlose kommt es häufig vor, „dass man abgestochen wird“, nur weil jemand einem die wenigen Habseligkeiten neidet oder einfach, weil sich einer der vielen Drogenabhängigen nicht unter Kontrolle hat.
In den ausschließlich von Schwarzen bewohnten Quartieren an der Straße Nr. 40, die nördlich aus der Stadt führt, hängen ganze Familien an den drei, vier Stufen ihres schmalen Holzhäuschen herum, die enger aneinander kleben als in alten britischen Industriestädten. Übergewicht und – oft – knallrot gefärbte Haare gehören hier zur Grundausstattung so manchen weiblichen Layouts. Der Müll stapelt sich vorzugsweise in den Hinterzeilen, die dadurch unpassierbar werden. Jeder noch so kleine Grocery-Laden weist dicke Eisengitter vor den Fenstern auf, der Verteilungskampf ist unmittelbar und wird mit allen Mitteln geführt. Den elenden Eindruck kann auch der strahlend schöne Sonnentag nicht übertünchen. Eher schon macht der Gestank der Müllberge bei Temperaturen von 28 Grad Celsius Sorgen. Nördlich davon, in „Little Italy“, fällt ein städtisches Wohnbauprojekt ins Auge. Zweistöckige Backsteinbauten mit ausreichend Platz zwischen den Häuserreihen und asphaltierten Plätzen, die vormals Raum für Kinder oder Versammlungen geboten haben mögen, gehen auf die New Deal-Epoche der 1930er Jahre zurück. Ihre heutige Bewohnerschaft ist vornehmlich schwarz, wiewohl auch einige ältere weiße Frauen damit beschäftigt sind, ihre Wäsche entlang der dafür vorgesehenen Leinen aufzuhängen – im Land der elektrischen Wäschetrockner ein ungewöhnlicher Anblick. Die Stimmung wirkt friedlich, Familien sitzen auf Klappstühlen vor Wohnungseingängen und ein etwa 60jähriger Mann erzählt uns, wie man zu einer solchen kommunalen Wohnung kommt. Für seine Familie hat er ein paar Jahre darauf warten müssen, „es gibt lange Listen, auf die Du Dich setzen lässt, auch wenn Du gar nicht weißt, ob Du in zwei, drei Jahren noch in der Stadt sein wirst.“ Die Miete, so der leicht hinkende Schwarze, richtet sich dann nach dem Einkommen. „Wenn Du durchschnittlich verdienst, zahlst Du 600 bis 700 Dollar im Monat, wenn Du sehr schlecht verdienst, dann nur 200 Dollar.“ Ohne Einkommen hat man allerdings keine Chance, im „Social Housing“-Projekt der Stadt unterzukommen. Wenn schon keinen Job, dann muss jeder Bewohner hier zumindest Geld aus der Sozialhilfe mitbringen, das freilich nur befristet vergeben wird. Der Zustand der Autos entlang der Straße und jener der Menschen, denen die Gefährte gehören, lässt vermuten, dass die meisten hier nicht zu den durchschnittlich (relativ gut) verdienenden Menschen gehören.
Black Lives Matter
Es ist Sonntag, 14 Uhr. Wir platzen in ein Meeting des lokalen „Workers World“-Ablegers, einer radikalen, linken Partei, die sich in den 1950er Jahren von der „Socialist Workers Party“ abgespalten hat und US-weit organisiert ist. Gut 15 Aktive sitzen um einen großen Tisch. Sie wirken erschöpft. Eben sind sie von einer Flugblattaktion aus einem schwarzen Brennpunktviertel zurückgekommen, wo sie die Menschen aufforderten, den täglich erlebten Polizeiterror im Rahmen einer groß angelegten Konferenz zu dokumentieren. „Wir planen ein Tribunal gegen Polizeiterror und strukturellen Rassismus, an dem sich Betroffene zu Wort melden“, erklärt Lamont Lilly, einer der Aktivisten, den aktuellen Arbeitsschwerpunkt.
Gemeinsam mit den Aktivisten von „Workers World“ geht es am späten Nachmittag nach Gilmore Homes, in jenes Viertel, in dem Freddie Grey zu Tode kam und wo anschließend die Unruhen ausbrachen. Von „Riots“ will hier niemand sprechen, eher schon von einem Akt der Befreiung, in dem junge Schwarze zumindest für ein paar Tage die Straße für sich hatten. Der Ort der tödlichen Polizeiattacke ist pietätvoll ausgestattet. Nachbarn drapieren die Ecke, an der sich sechs Exekutivbeamte auf den 25jährigen Afroamerikaner gestürzt und ihm dabei mutmaßlich das Rückgrat gebrochen haben, mit Blumen und Gedenksteinen. Die Hauswand daneben ist großflächig mit seinem Konterfei bemalt und stellt seine tragische Geschichte in die Tradition des schwarzen Widerstandes. Die schmalen US-amerikanischen Fahnen im Hintergrund wirken auf den ersten, europäischen Blick verstörend, gehören aber offensichtlich zur aktuellen afroamerikanischen Identität dazu.
„Black lives matter“ ist eine 2012 spontan entstandene Initiative, die nach dem gewaltsamen Tod von Freddie Gray überall im Land rasanten Zulauf bekommen hat. Sie entwickelte sich im Anschluss an einen der vielen tödlichen Übergriffe gegen den Jugendlichen Trayvon Martin in Miami Gardens, Florida, den ein selbst ernannter Nachbarschaftswächter erschoss. In Baltimore gingen zum 1. Mai 12000 Protestierende für ein schwarzes Leben in Würde und ohne Angst auf die Straße. Auch das diesjährige „Left Forum“, das Ende Mai in New York stattfand und mehr als tausend Aktivisten und Diskutanten anzog, stand ganz im Bann von Antirassismus und Kampf gegen Polizeigewalt.
Nicht nur Linke stehen gegen die in den USA praktizierte „Sozialpolitik“ auf, die auf Polizeiknüppel, Schusswaffengebrauch und Gefängnisbau setzt. 2,2 Millionen Menschen sitzen hier in den Vereinigten Staaten hinter Gittern, womit die USA weltweit das Land mit der höchsten Gefangenenzahl je 100000 Einwohner sind; gefolgt von China, das mit seiner viermal so großen Bevölkerung 1,6 Millionen Gefängnisinsassen aufweist. Es sitzen also pro Kopf gerechnet sechs Mal mehr Menschen in US-Gefängnissen als in chinesischen.
Wegsperren statt Bildung, so sieht die US-amerikanische Wirklichkeit für Unterprivilegierte aus. Dies hat in Baltimore nun auch Kirchenleute wie Pastor Jamal Bryant auf die Straße getrieben, und das im wortwörtlichen Sinn. Zusammen mit 40 Gleichgesinnten blockierte der umtriebige schwarze Prediger einer der unzähligen protestantischen Sekten, zur Stoßzeit den Interstate-Highway Nr. 395 für mehrere Stunden. Die Lebensader der Stadt war einen halben Tag lang verstopft, was sowohl die Bürgermeisterin als auch den Gouverneur von Maryland Drohungen gegen den Geistlichen hat ausstoßen lassen. Bryant und seine Leute haben mit ihrem für die USA ungewöhnlichen Protest die gut gehende Gefängnisindustrie im Visier. Denn der Staat Maryland ist gerade dabei, für 30 Millionen Dollar ein neues Jugendgefängnis errichten zu lassen. Geplanter Standort: Baltimore. Ins Auge gefasste Insassen: die bei den Unruhen im April und bei zu erwartenden kommenden Auseinandersetzungen verhafteten Jugendlichen.
Den durch den ökonomischen Niedergang im sogenannten Rust Belt (Rostgürtel), zu dem sehr prominent auch Baltimore gehört, entstandenen sozialen Probleme soll offensichtlich weiterhin mit Polizeistaat und Justiz begegnet werden.
Von Hannes Hofbauer ist zuletzt erschienen: Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter, Promedia 2014