Antisemitismus und internationale Solidarität
Palästinenserinnen und Palästinenser brauchen unsere Solidarität. Das schien schon eine Zeit lang in Vergessenheit geraten zu sein. Doch seit dem vergangenen Herbst haben sich viele Menschen weltweit wieder besonnen und sich lautstark für Palästina und die Palästinenser eingesetzt. Der Zeitpunkt dieser Rückbesinnung ist bemerkenswert.
Nachdem Bewaffnete der Hamas, einer palästinensischen Organisation, die die Tötung aller Juden zu ihrem Ziel erklärt, an die 1200 Menschen in Israel mordeten und mehr als 5000 verletzten, Zivilist:innen zumeist, Alte wie Kinder, die sie oft in entsetzlichster Weise quälten und verstümmelten, da antworteten Demonstrierende auf der halben Welt, als ob eine Forderung nach Solidarität mit Palästina am Himmel aufgeleuchtet hätte.
Solidarität, Anteilnahme, Mitleid mit den Opfern dieses Massakers und mit deren Angehörigen wurden nur spärlich und zögernd laut.
Es waren nicht nur Jüdinnen und Juden, die den Schlächtern der Hamas zum Opfer fielen, aber das Gemetzel galt den Juden, und nicht nur den Juden am Ort, sondern symbolisch allen jüdischen Menschen.
Juden als Opfer, wieder einmal. Und es tat der Welt, so sieht es aus, nur mäßig leid.
Es gibt wohl kaum ein Land, kaum eine Nation, die sich im Lauf ihrer Geschichte nicht an Juden vergangen hätte. Und so stehen sie alle, wir alle, in ihrer Schuld, und kein Land tiefer als Deutschland. Und die Schuld ist nicht zu tilgen, keine Zahlung bringt die Toten zurück, keine Tat, keine Geste kann das angetane Leid aus der Welt schaffen. Wiedergutmachung macht nichts wieder gut; wir bleiben in der Schuld – und haben es satt.
Der Holocaust liegt bald 80 Jahre zurück, rund drei Generationen. Das Gras, das in dieser Zeit gewachsen ist, ist noch viel zu kurz. Aber immerhin, ein grüner Flaum mag etwas an Erleichterung gewähren. Und nun das. Angriff der Hamas. Ein derartiges Verbrechen, solche bestialischen Taten an Juden hat es seit 1945 nicht gegeben. Hamas knüpfte mit ihrem Pogrom genau da an, wo Deutschland nach militärischer Niederlage aufhören musste.
Das fuhr hart ins Gemüt. Das sollte bitte nicht wahr sein. Das bisschen Grün wollten wir doch nicht zertreten lassen. – Liegt es daran, dass die rund 7000 geschundenen Opfer jenen paradoxen Reflex auslösten?
Der Satz „die Juden sind zum Teil aber auch selbst schuld“ gehört zum Standardrepertoire des Antisemiten und hat sich nach dem 7. Oktober 2023 in der internationalen Protestwelle in einer Verkehrung von Tätern und Opfern spontan niedergeschlagen und sogar, in diversen Staaten fern von Israel und Gaza, zu Anschlägen auf jüdische Bürgerinnen und Bürger geführt, die sich ihres Lebens nicht mehr sicher fühlen.
Aufrechnung
Mit Recht ist vieles an der israelischen Politik zu kritisieren. Doch auf kaum ein Land richten sich die Blicke so aufmerksam wie auf Israel. Als würde die Welt hoffen, über die von Israel begangenen Repressionen ein Sündenregister anlegen zu können, um im Nachhinein die zuvor an Juden verübten Schandtaten aufzurechnen. Die Bürde der begangenen antisemitischen Untaten scheint leichter zu wiegen, sofern nur dem Staat Israel eine Verletzung von Menschenrechten anzulasten ist, wofür Juden jeglicher Nationalität sogleich und gern in Mithaftung genommen werden.
Der Terrorüberfall der Hamas setzt die jahrhundertelange Reihe von Gewaltverbrechen an Juden fort und wird in zahlreichen Ländern nicht nur Erinnerungen an die eigenen nationalen antisemitischen Sünden hervorgerufen haben; er wird zugleich als deren Folge verstanden worden sein, an der die Welt deshalb eine Mitverantwortung trägt.
Die spontanen propalästinensischen Reaktionen auf den 7. Oktober lassen sich psychologisch vermutlich nur als Abwehrmechanismus verstehen. … ‘s ist wieder Judenmord und unbewusst begehre ich, „nicht schuld daran zu sein“. Das hieße, der Anschlag der Hamas war weniger ob seiner Grausamkeit unerträglich, sondern vielmehr aufgrund unserer historischen Involviertheit: Einen derart eklatanten antisemitischen Gewaltakt, aus dem in der irren Bilanz von Schuld und Sühne eine Forderung auf jüdischer Seite resultierte, wollen wir nicht verbuchen müssen.
Für Israel war der 7. Oktober nicht nur die wohl größte Tragödie seiner Geschichte, in der Konsequenz steckt das Land auch in einem Dilemma. Wie sollte der Staat Israel reagieren? Den Hamas-Schlächtern noch Wohltaten anreichen im Austausch gegen deren Geiseln? Oder zurückschlagen und die Geiseln mit Gewalt befreien?
Der Einsatz des Militärs war sicherlich gerechtfertigt. Aber die Soldaten hatten es in Gaza mit Gegnern zu tun, die als Zivilisten unter Zivilisten kämpften. Zwei israelische Geiseln, denen die Flucht aus dem Kerker der Hamas gelungen war, wurden von Israelis erschossen, als sie mit einem weißen Fetzen wedelten.
Die New York Times hat die Misshandlung palästinensischer Gefangener aufgedeckt. Längst hat die israelische Armee, die sich doch zuvor ihrer chirurgisch-präzisen Schläge rühmte, weite Teile lGazas in eine Trümmerwüste zerlegt, dabei 40.000 unter den gut zwei Millionen Bewohner:innen getötet und über 90.000 verletzt. Und so setzt sich Israel, nicht im Stande oder willens, die Bevölkerung Gazas mit dem Nötigsten zu versorgen, derart ins Unrecht, als wollte es die Hamas-Greuel noch nachträglich rechtfertigen.
Trauma
Claude Lanzmann, der Dokumentarfilmer, machte 2009 im Gespräch mit der Taz darauf aufmerksam, dass „der Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg nicht bloß ein Mord an Unschuldigen war. Es war zugleich ein Genozid an Wehrlosen.“ Die meisten Familien in Israel haben Opfer im Holocaust zu beklagen. Neben den Erfahrungen aus Jahrhunderten lastet auch das Trauma, dass die Angehörigen während des Zweiten Weltkriegs als zivile Bürger:innen ohne Chance zur Gegenwehr verschleppt, erschossen oder vergiftet wurden. Das sollte sich, so werden es sich die Überlebenden und Nachkommen geschworen haben, niemals wiederholen. Israel, seine Regierung, seine Armee, sein Geheimdienst stehen bereit, es mit jedem aufzunehmen, der es wagen sollte. Die „Armee der Verteidigung Israels“, so der offizielle Name, wurde 1948 gegründet. Nie zuvor hat es eine jüdische Armee gegeben.
„Eines müssen wir uns immer wieder klarmachen“, erklärte die Sängerin Achinoam Nini, „Noa“, vergangenes Jahr im Interview mit Daniel Cohn-Bendit. „Viele Juden leben mit einer vererbten posttraumatischen Paranoia. Sie leben mit dem Gefühl, unerwünscht zu sein, und dass ein Großteil der Welt sie umbringen will: ›Sobald sie die Gelegenheit bekommen, werden die Araber und alle Antisemiten dieser Welt uns zurück ins Meer werfen. Wir landen wieder im Konzentrationslager‹“.
Und diesem Gefühl verleiht das Regime Irans Nachdruck, das das Existenzrecht Israels bestreitet, die Milizen der Hisbollah, Hamas und Houthi unterstützt und vermutlich bald in der Lage sein wird, Atombomben zu bauen. Ob den Demonstrierenden fern von Israel bewusst ist, welche Drohung sie aussprechen, wenn sie in Solidarität mit den Palästinenser:innen „From the River to the Sea“ skandieren, sei dahingestellt.
Um in diesem Konflikt Partei zu ergreifen, hat man die Wahl zwischen einer Terrorbande, die die Tötung von Juden jeden Alters und Geschlechts zum Ziel hat, und der reaktionärsten Regierung in der Geschichte Israels, die außer der Beschneidung ihres Lebensraums keinen Plan für die palästinensische Bevölkerung hat.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat ein Strafverfahren zu erwarten, sobald die Immunität des Amtes ihn nicht länger schützt. Den fälligen Rücktritt wird er hinauszögern können, solange der Krieg fortdauert, den die jüdischen Siedler im Westjordanland vehement nutzen, um im Schutze seines Pulverdampfs muslimische Bewohner gewaltsam zu vertreiben. – Palästinenserinnen und Palästinenser brauchen unsere Solidarität.