quartalslüge IV/MMXXI

„Eine vierte Welle? Wir haben uns halt geirrt!“

Vierte Welle? Ausrufung der „epidemischen Notlage“ im Bundesland Sachsen bei einer Inzidenz von 1429, wie am 6. Dezember erfolgt? Die Verantwortlichen in Politik und Medien bemühen sich derzeit erst gar nicht zu behaupten, dass das alles völlig unvorhersehbar gewesen sei. Sie behaupten vielmehr: Wir haben uns eben geirrt! Und irren ist doch menschlich! Im Übrigen, so diese Herren und Damen, waren wir mit anderem beschäftigt – mit Wahlkampf und mit dem Die-Neue-Regierung-Bilden.

In Wirklichkeit ist das eine Quartalslüge. Die Verantwortlichen haben sehr wohl gewusst, wohin die pandemische Reise geht. Sie hatten ihre Profis, darunter das Robert Koch-Institut, zur Seite. Doch sie entschieden sich dafür, nicht diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die nachweislich die Zuspitzung der vierten Welle verhindert hätten. Sie unterstellten dabei einerseits, dass sie, wenn sie einem großen Teil der Bevölkerung ihre „Freiheiten zurückgeben“, auf diese Weise ihre konjunkturellen Ziele – nicht zuletzt am Wahltag – erreichen. Andererseits setzten sie darauf, dass die Menschen vergesslich sind und in drei oder vier Monaten nicht mehr so genau wissen, was im Sommer vorgeschlagen wurde zu unternehmen, um eine neue vierte Welle auszubremsen.

Tatsächlich sind die Politiker und Politikerinnen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen verantwortlich für den Tod von mehreren Tausend Menschen. Was zu belegen ist.

Doch zunächst zu unserer Grafik. Die hellbraune Linie bildet die Inzidenz ab, die Zahl der bestätigten, neuen Corona-Fälle im Sieben-Tages-Durchschnitt. Die schwarze Linie bildet die Zahl der Menschen ab, die seit Beginn der Pandemie „an und mit dem Corona-Virus“ starben. Die Skala links gibt die Inzidenz an, rechts stehen die Zahlen der Corona-Toten. Die waagrechte Achse bildet den Zeitstrahl von Februar 2020 bis Anfang Dezember 2021.

Die hellbraune Linie bildet die jeweils täglichen neuen Fälle ab, wohingegen die schwarze die Corona-Toten in Addition wiedergibt. Polemisch gesagt ist die obere Line Ausdruck des Corona-Leichenbergs, der sich in den letzten 22 Monaten auftürmte.

Die ersten Lockdown-Maßnahmen im Frühjahr 2020 führten erkennbar dazu, dass die Zahl der Corona-Toten bis Anfang September desselben Jahres weitgehend stabil blieb. Nachdem diese Maßnahmen Anfang Mai 2020 aufgehoben wurden, stieg die Zahl der Corona-Toten – zeitlich verzögert – steil an. Die neuen Lockdown-Maßnahmen, die Ende 2020 wirksam wurden, und die bis März 2021 Gültigkeit hatten, bremsten – zusammen mit der warmen Jahreszeit – dann erneut den Anstieg der Corona-Toten-Zahlen ab. In der Zeit des Bundestagswahlkampfs war auf diese Weise die Pandemie kaum mehr ein Thema. Dabei verhieß der erneute Anstieg der Inzidenz ab Juli 2021 und vor allem ab Mitte September, dass es bald zu einem deutlichen Anstieg der Corona-Toten pro Tag und damit zu einem schnelleren Ansteigen der Summe der Corona-Toten kommen würde.

Es gab im Sommer Dutzende seriöse Menschen mit Kompetenz, die vor einem Desaster im Herbst und zu Jahresende 2021 warnten. Anfang Juli erklärte vor dem Hintergrund der Verbreitung der Delta-Variante des Virus Andreas Peichl, Leiter des Zentrums für Makroökonomie und Befragungen am Münchner Ifo-Institut: „Wir sind dabei, denselben Fehler wie im letzten Jahr zu machen.“ Ende Juli 2021 warnte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin davor, dass die Kurve der Corona-Patienten auf Intensivstationen wieder deutlich nach oben weise und die Gefahr einer neuerlichen Überlastung der Kliniken drohe. Zum selben Zeitpunkt, als sich abzeichnete, dass die Impfquote zu langsam ansteigt, schrieb Karl Lauterbach, SPD: „100.000 Fälle am Tag, wie zum Teil prognostiziert, wären eine Katastrophe. Wir werden Einschränkungen beschließen müssen, wahrscheinlich vor der Bundestagswahl“.

Die Verantwortlichen schlugen alle Warnungen in den Wind. Im Juni beschlossen die Gesundheitsminister aller Bundesländer, die Impfzentren ab Ende September zu schließen unter der an Orwell erinnernden Sprachregelung: „Neuausrichtung der Impfstrategie“. So geschah es. Im Wahlkampf versprachen die Spitzenleute aller Parteien, dass es keinen weiteren Lockdown geben werde. Während die Ampel an ihrem Koalitionsvertrag letzte Hand anlegte, rief am 23. November die scheidende Bundeskanzlerin in einer Rückbesinnung auf ihre Verantwortung die Führungen von SPD, Grünen und FDP zu sich ins Kanzleramt und forderte einen sofortigen erneuten Lockdown. Die Ampel lehnte ab. Scholz, Habeck und Lindner wollten sich die Show bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags nicht stehlen lassen. Zwei Tage später wurde im Bundestag und im Bundesrat – auf Antrag der Ampel-Parteien – sogar das „Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ beschlossen. Der Hinweis au s dem neuen Regierungslager, nunmehr hätten die Länder mehr Kompetenzen, ist unseriös. Zunächst, weil das gesendete Signal ein völlig falsches ist. Sodann erwies sich in den vergangenen eineinhalb Jahren als ein Grundübel, dass die Pandemie nicht einheitlich bekämpft wird.

Die Pandemie kostete allein in Deutschland bislang (Stand 6. Dezember 2021) 104.000 Menschen das Leben. Das sind 20 Mal so viel wie es im selben Zeitraum Straßenverkehrstote gab. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert: Am Beginn der Pandemie, als es erst wenige hundert Pandemie-Opfer gab, argumentierten Corona-Leugner zynisch: „Aber was ist mit den Straßenverkehrstoten?“ Im Zeitraum zwischen der Bundestagswahl vom 26. September bis zur Ernennung der Bundesregierung am 8. Dezember gab es praktisch keine wirksame Politik gegen die schnell ansteigende Inzidenz. Am 26. September wurden 94.303 Corona-Tote gezählt. Am 7. Dezember sind es mit 104.200 ziemlich exakt 10.000 Corona-Tote mehr. Tausende von diesen Menschenleben hätten gerettet werden können. Die Verantwortung dafür, dass dies nicht geschah, liegt beim Spitzenpersonal von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP.

Benennungen Kurven:

1. Lockdown 22. März bis 4. Mai 2020

2. Lockdown 2. November 2020 bis 3. März 2021 (verschärft ab 16. Dezember 2020

Juni 2021

Die Gesundheitsministerkonferenz beschließt eine „Neuausrichtung der Impfstrategie“. Danach werden die Impfzentren ab dem 30.9. fast überall geschlossen.

21.6.2021

Maskenpflicht wird gelockert

23.8.2021

Minister Spahn: „Die Inzidenz als Maßstab für Corona-Maß-nahmen wird abgeschafft“· Corona-Kabinett beschließt: „Inzidenz hat ausgedient; jetzt entscheidet die Hospitalisierung“

30.8.2021

Laschet, Scholz und Baerbock erklären: Kein neuer Lockdown

30.9.2021

Bayern und NRW lockern Corona-Maßnahmen

8.10.2021

Die FDP-Niedersachsen fordert ein Ende aller Corona-Maßnahmen. Ähnlich die FDP (und die AfD) in anderen Bundesländern.

23.11.202

1Noch-Kanzlerin Merkel bestellt die Ampel-Spitzen zu sich. Sie will einen sofortigen Lockdown. „Wir befinden uns auf dem Weg in eine Notlage, wie wir sie noch nie hatten“. Die Ampel lehnt Maßnahmen ab. Sie will den Koalitionsvertrag vorstellen und keine schlechte Stimmung.

25.11.2021

Bundestag und Bundestag beschließen das „Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Der Bund gibt Kompetenzen zur Bekämpfung der Pandemie ab.

Die Zahl der offiziell registrierten Corona-Toten übersteigt die Marke von 100.000.