quartalslüge II/MMXX

„Die Corona-Epidemie konnte in Deutschland so gut eingedämmt werden, weil der Abbau der Bettenkapazitäten hierzulande moderat war“

Am 12. April veröffentlichte die Financial Times einen Beitrag unter der Überschrift „Oversupply of hospital beds helps Germany to fight virus“ – in Deutschland gäbe es ein Überangebot an Krankenhausbetten, was es dem Land besser als anderen Ländern ermöglichen würde, die Corona-Epidemie zu bekämpfen. Eine ähnliche Sicht präsentierte im Mai 2020 die ehemalige Krankenhausdezernentin Cornelia Heintze. In ihrer im Magazin Sozialismus (5/2020) veröffentlichten Analyse des deutschen Kliniksektors im internationalen Vergleich heißt es, der Abbau der Krankenhausbetten sei in Deutschland „vergleichsweise moderat“ gewesen. In anderen Ländern seien 35 und bis zu mehr als 50 Prozent der Bettenkapazitäten abgebaut worden, in Deutschland nur rund 15 Prozent. Tatsächlich ist die Behauptung „eher geringer Bettenabbau“ in Deutschland eine Quartalslüge. Und zwar dann, wenn erstens ein längerer Zeitraum in den Blick genommen wird, und wenn zweitens – was statistisch notwendig ist – die DDR-Krankenhausbetten berücksichtigt werden.

In der aktuellen Corona-Epidemie tauchen vielfach Zahlen auf, die auch über eine längere Zeit von 50 Jahren hinweg dokumentieren, dass es in Deutschland zu einem deutlichen Abbau der Zahl der Krankenhäuser und der Bettenzahl gekommen ist. Das Seltsame ist, dass dabei der Umstand der Existenz zweier deutscher Staaten auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland, die es bis zum Jahr 1989 gab, nirgendwo auftaucht. Diese Tatsache findet erstaunlicherweise auch in der fortschrittlichen Literatur zur Entwicklung des deutschen Gesundheitssektors keine Beachtung.1

Sucht man beispielsweise bei Wikipedia unter https://de.wikipedia.org/wiki/Krankenhaus, enthält der entsprechende Beitrag einen Abschnitt, überschrieben mit „Krankenhausstatistik Deutschland“. Dort erfährt man: Es gab im Jahr 1971 noch 3545 Krankenhäuser mit 690.336 Betten, 1991 waren es 2411 Krankenhäuser mit 665.565 Betten. Und für 2015, das letzte dort aufgeführte Jahr, werden noch 1956 Krankenhäuser mit 499.351 Betten genannt.2 Danach wurde im 45-Jahreszeitraum die Zahl der Krankenhäuser „nur“ um 46,2 Prozent und die Zahl der Krankenhausbetten „nur“ um 27,4 Prozent abgebaut. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die DDR-Realitäten werden dabei schlicht ignoriert.

Nun mögen Original-Angaben zum DDR-Gesundheitssektor heute schwer erhältlich, also im DDR-Jargon „Bückware“, sein. Und die elektronische Fassung der offiziellen deutschen Statistik mag Angaben zur DDR nicht mehr enthalten. Doch in der Printfassung der Statistischen Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland gab es bis zum Jahr 1989 noch in jeder Ausgabe eine rund 50-seitige Abteilung mit den elementaren statistischen Daten zur DDR. Danach existierten 1971 noch 620 DDR-Krankenhäuser mit 187.756 Betten. Vier Jahre vor der Vereinigung, 1986, waren es noch 542 Krankenhäusern mit 169.179 Betten. Führt man die Zahlen zusammen und ergänzt sie mit Zahlen aus der Nach-Wende-Zeit, dann erhält man das Bild wie in der Tabelle und in der Grafik wiedergegeben.

Danach gab es auf deutschem Boden 1971 noch 4165 Krankenhäuser, davon 3545 in Westdeutschland und 620 in Ostdeutschland. Diese verfügten zusammen über 877.992 „aufgestellte Krankenbetten“. 1986 waren es gesamtdeutsch noch 3613 Krankenhäuser mit insgesamt 843.563 Krankenbetten. Danach – mit der Wende und bis 2015 – kam es zu einem gewaltigen Abbau bei der Zahl der Krankenbetten und zu einer nochmals stärkeren Reduktion der Zahl der Krankenhäuser.

Wenn wir die beiden Krankenhaus-Systeme als fiktive Einheit nehmen, wird die gesamte Dramatik des Kahlschlags deutlich. Diese Zusammenführung ist methodisch ein Muss. Schließlich ist das Gebiet, für das die Krankenversorgung bis 1989 vorzuhalten war und für das sie heute vorzuhalten ist, identisch. Die Einwohnerzahl auf diesem Gebiet stieg sogar deutlich – von 78,3 Millionen im Jahr 1971 auf 82,2 Millionen 2015 (oder um 5 Prozent). Auch erhöhte sich die Lebenserwartung der gesamtdeutschen Bevölkerung im angegebenen Zeitraum um rund ein Jahrzehnt. Damit erhöhte sich auch die gesamtgesellschaftliche Lebenszeit um mehr als ein Zehntel, für die der Kranken-haussektor Leistungen zu erbringen hat. Sprich: Es gab viele Gründe für einen Ausbau des Krankenhauswesens. Doch es fand der entgegengesetzte Prozess statt.3

Berücksichtigt man die beiden Krankenhaus-Systeme auf deutschem Boden, dann gab es im Zeitraum 1971 bis 2015 mehr als eine Halbierung bei der Zahl der Krankenhäuser (-53%), einen Abbau der Zahl der Krankenbetten um 43,1 Prozent und fast eine Halbierung der Bettenzahl je 100.000 Einwohner (-45,5%). „Moderat“? Der Kahlschlag ist so groß wie derjenige in den anderen westeuropäischen Ländern. Es gibt zwei Gründe dafür, dass die Epidemie in Deutschland nicht derart viele Opfer forderte wie z.B. in Italien oder Frankreich: Erstens war das Ausgangsniveau dort ein höheres. Und zweitens „erwischte“ es Deutschland später; es gab rund zwei Wochen mehr Vorbereitungszeit und Wirkungsmöglichkeit beim Lockdown.

Anmerkungen:

1 In der hervorragenden Broschüre Krankenhaus statt Fabrik, herausgegeben vom Bündnis Krankenhaus statt Fabrik (April 2020) gibt es mehrere Tabellen und Grafiken, die in den Zeiten vor der Vereinigung von BRD/DDR beginnen (zur Verweildauer oder zur Lohnquote), die jedoch den Einschnitt 1989/90 komplett „übersehen“.

2 Bei den Zahlen für 1966 und 1971 gibt es bei Wikipedia ein Sternchen (*) ; man erfährt im Kleingedruckten: „Daten nur von Westdeutschland und Westberlin“. Verwiesen wird dann in einer Fußnote mit Ziffer 10 auf „Statistisches Bundesamt: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/Krankenhaeuser/GrunddatenKrankenhaeuser2120611157004.pdf?__blob=publicationFile

Grunddaten der Krankenhäuser 2015 – Fachserie 12 Reihe 6.1.1. (PDF).“ Doch diese Grunddaten sind beim Statistischen Bundesamt (destatis) nicht – nicht mehr – abrufbar.

3 Im angegebenen Zeitraum gab es auch einen deutlichen Fortschritt in der Medizin und eine Teilverlagerung von medizinischer Versorgung, die in früheren Zeiten in Krankenhäusern stattfand, in den ambulanten Bereich. Dieser wiegt jedoch die erheblich längere Lebenszeit, die deutliche Zunahme von Krankheiten im höheren Alter nicht auf. Die Reduktion der Kapazitäten bei einer Zunahme der „Nachfrage“ konnte nur wettgemacht werden durch den Umbau der Krankenhäuser in Gewinnmaschinen – mit massiven negativen Folgen für die Pflegekräfte und für die Patientinnen und Patienten. Siehe die Artikel auf den Seiten 48ff.