Neue LP21-Rubrik in Kooperation mit dem Berliner Institut für Kritische Theorie
1983 wurde das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM), anlässlich des hundertsten Todestages von Karl Marx, von Wolfgang Fritz Haug ins Leben gerufen. Von dieser Ausgabe an werden wir in Lunapark21 – abgesprochen mit den Verantwortlichen dieses beeindruckenden Projekts – regelmäßig ein Stichwort aus diesem Wörterbuch aufgreifen und in einem Auszug dokumentieren. Wir werden dabei auf die Quelle hinweisen und dazu einige ergänzende aktuelle Kurznachrichten bringen.
Damit verbinden wir zwei Absichten: Erstens bedarf es für die heutige Linke im engeren und weiteren Sinn der theoretischen Weiterbildung. Dafür ist in den einzelnen Artikeln des Lunaparks oft nicht genügend Raum. Was liegt da näher, als auf eine schon vorhandene und weiter wachsende Sammlung eines Wörterbuchs zurückzugreifen, das als Gesamtvorhaben konzeptionell „den historisch-kritischen Umgang mit dem Werk von Marx und Engels sowie mit dessen praktischer und theoretischer Fortwirkung im Marxismus“ (Wolfgang Fritz Haug im Vorwort zur Ausgabe von Bd. 9 I 2018) anstrebt. Unter Mitwirkung von mehr als 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist das Projekt des Historisch-Kritischen Wörterbuchs in den 80er Jahren beschlossen und vom Spiritus Rector W. F. Haug mit der Ausgabe des 1. Bandes 1994 begonnen worden. Unsere zweite Absicht ist es, einen Austausch zwischen den Leserschaften des Lunaparks und des HKWM zu öffnen und zu fördern, von dem wir uns gegenseitige Befruchtungseffekte versprechen. Gemeinsam ist uns die „theoretisch-praktische Suche nach solidarischer und umweltverträglicher Vergesellschaftung“ (W.F. Haug, 2018, im Vorwort).
Der im Folgenden wiedergegebene Ausschnitt zur „Finanzkrise“ aus dem HKWM enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.org/neuinkrit/index.php/de/publikationen/hkwm zum Stichwort Finanzkrise findet, aber wesentlich weniger als beim (unter anderem gedruckten) Original. Das beginnt genauso, nämlich nach der Begriffsnennung und den Übersetzungen, mit einer allgemeinen Definition, erläutert darüber hinaus in weiteren sieben Abschnitten historisch und philologisch-systematisch die Bedeutung. Am Ende befindet sich eine umfangreiche Bibliographie. Autorinnen und Autoren, die im Text erwähnt und am Ende bibliographisch erfasst sind, werden bei besonderer Wichtigkeit in Großbuchstaben, sonst in üblicher Schreibweise mit Erscheinungsjahr der Publikation zitiert. Wer das Original lesen und die Bibliographie haben will, muss nicht das gesamte Wörterbuch kaufen, sondern kann sich jedes einzelne interessierende Stichwort direkt beim Institut für Kritische Theorie – InkriT (gegen einen geringen Betrag) bestellen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. Wer ein weiterführendes Lemma [altgriechisch für Schlagwort; Plural: Lemmata] am Ende des Artikels im Internet aufruft, kommt direkt auf die Stichwortseite des InkriT. Jürgen Hahn-Schröder
Finanzkrise
ist ein Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Es ist thematisch und inhaltlich von brennender Aktualität, auch wenn es schon vor 20 Jahren geschrieben worden ist.E: financial crisis. – F: crise financière. – R: finansovyj krizis. – S: crisis financiera. – C: jinrong weiji Mario Candeias HKWM 4, 1999, Spalten 524- 535
Unter Finanzkrise [F] wird jede Krise verstanden, die sich in der Sphäre der Geld-, Kapital-, Kredit- und Devisenmärkte abspielt und sich – im äußersten Falle – in Bankzusammenbrüchen, bankrotten Investmentgesellschaften, illiquiden Versicherungsunternehmen, Börsencrashs, wertlos gewordenen Wertpapieren, extremen Preisschwankungen auf den Valutametallmärkten, inflationären oder deflationären Prozessen, einem Devisenabfluss, einer Abwertung der Währung, einem Zusammenbruch des internationalen Zahlungssystems und in zahlungsunfähigen öffentlichen Haushalten zeigt. Die F verschlingt sich mit Geld-, Kredit-, Währungs-, Bank-, Börsen-, Außenhandels- und Haushaltskrisen, mit zyklischen Wirtschaftskrisen und Strukturkrisen, mit Krisen auf Rohstoff-, Investitionsgüter- und Immobilienmärkten und mit Krisen des politischen Systems. Ihre weltpolitische Bedeutung hat sich besonders in der Großen Depression gezeigt, die Ende 1929 in den USA ihren Anfang nahm und u.a. zu weltweiten Regierungskrisen und zum Aufstieg faschistischer Bewegungen beitrug. Im ausgehenden 20. Jh. gewannen die F.n erneut ausschlaggebende Relevanz für die weitere weltwirtschaftliche und soziale Entwicklung der Menschheit. […]
Die Liberalisierung und Deregulierung der Geld- und Kapitalmärkte seit Beginn der 1970er Jahre hat zur Expansion und Entwicklung der Weltfinanzmärkte als selbständige Verwertungsphäre für Kapital geführt, welche nun selbst zu einem wesentlichen Krisenfaktor in der Weltökonomie avancierte. Die Freigabe der Kurse und die sich daraus ergebenden tägtäglichen Schwankungen beträchtlichen Ausmaßes ermöglichen neue Möglichkeiten für Spekulationsgeschäfte. CONERT (1998) beziffert den Umfang der Finanztransaktionen auf den nun liberalisierten und deregulierten internationalen Geld- und Devisenmärkten auf jährlich über 350 Billionen Dollar. Bei einem [Mitte der 1990er Jahre] jährlichen Welthandelsvolumen von über 5 Billionen Dollar und unter Berücksichtigung von Auslandsforderungen und –verbindlichkeiten der Banken in der Größenordnung von 9000 Milliarden US-Dollar waren 1996 nach Berechnungen Altvaters (1998,17) nur noch ca. 4% des Umsatzes für die Finanzierung des gesamten Welthandels und von Auslandsverbindlichkeiten, also für die Abwicklung realer Transaktionen, ausreichend, der Rest entfiel auf internationale Spekulationsgeschäfte. Die Aktivitäten auf den Weltfinanzmärkten lösen sich also von realen Prozessen und drängen die Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel gegenüber seiner Funktion als Zahlungsmittel zurück. Es entsteht der Eindruck, dass wachsende Geldvermögen und Einkommen aus der Spekulation mit Aktien und Anleihen, Devisen oder Derivaten erwirtschaftet odergewonnen werden könnten. Der moderne Kapitalismus erscheint auf diese Weise als eine Art >>Perpetuum mobile<< (Altvater/Mahnkopf 1996, 177). […]
Durch Bankgeschäfte per Internet, Online-Orders von Wertpapieren und Computerhandel an den Börsen wird auf den Finanzmärkten die letzte Geschwindigkeitsmauer (Virilio 1993,8) erreicht: Geld und Kapital lässt sich nun in einem entterritorialisierten, virtuellen, doch sehr realen Cyberspace per Knopfdruck mit Lichtgeschwindigkeit von einem Ort an jeden beliebigen anderen transferieren. Dies gilt insbesondere für den Devisenhandel. Aber auch der Derivatehandel, ursprünglich entwickelt als Absicherungsinstrument, das Zins-, Wertpapier- und Währungskursrisiken für Unternehmen kalkulierbar machen sollte, verselbständigt sich zu einem hochspekulativen Geschäft (Huffschmidt 1997). Diese Beschleunigung der Transaktionen erhöht, angesichts von Informationsasymmetrien und möglichen Kettenreaktionen an den internationalen Börsenplätzen, das systemische Risiko. Langfristige Investitionen erscheinen als zu riskant; doch die Hast nach kurzfristigen, vermeintlich sicheren Spekulationsgewinnen lässt als kumulativen Effekt spekulative Blasen Heine/Herr 1996) entstehen und verstärkt die Instabilitäten auf den Weltfinanzmärkten. Verantwortlich für Dysfunktionalitäten auf den Finanzmärkten, die dann zur Destabilisierung der untergeordneten Güter- und Arbeitsmärkte führen, sind aus post- bzw. geldkeynesianischer Sicht nicht ökonomisch-strukturelle Prozesse, sondern politische Handlungsdefizite einer verfehlten Finanz- und Geldpolitik. Dahinter steht die Annahme, das Geld sei den realwirtschaftlichen Prozessen äußerlich und nicht aus ihnen selbst hervorgebracht. Es ist Medium oder Instrument zur Steuerung wirtschaftlicher Prozesse, welches von den Zentralbanken gottgleich aus dem Nichts (Heine/Herr 1996, 206) geschaffen oder geschöpft wurde. Eine arbeitsgesellschaftliche Wertfundierung des Geldes (und der Geldmenge) findet nicht statt. Mittels maßvoller Geld- und Zinspolitik werden dann Güter- und Arbeitsmärkte gesteuert. Aber ohne die Wertfundierung des Geldes durch Arbeit im MARXschen Sinne, ohne die Produktion eines gesellschaftlichen Mehrwerts, hätte Geldschöpfung keine Substanz und bestünde nur in inflationistischer Aufblähung. Geld ist demnach der Repräsentant des gesamtwirtschaftlichen Wertproduktes, und das Wachstum des gesellschaftlichen Mehrproduktes bestimmt (zusammen mit dem Kreditbedarf der Unternehmen für die Produktion künftiger Werte) das Wachstum der Geldmenge. Wird Geld jedoch mangels ausreichender Profiterwartungen im großen Maßstab dem produktiven Bereich entzogen und für Finanzspekulationen genutzt, wird aus dem Zirkulationsprozess Geld-Ware-Geld´ ein Kreislauf mit der Eigenschaft Geld-Geld´. Diese Form der Monetarisierung (Amin 1997, 77) erwirtschaftet aber kein Mehrprodukt – die Zunahme der Geldvermögen kann somit nur durch Umverteilung zugunsten zinstragenden Geldkapitals erfolgen. Diese Form der Bereicherung läuft sich tot, wenn nicht irgendwo eine Basis für die Erweiterung der produktiven Sphäre entsteht (78).
Eine derartige Entkopplung von Produktion und Finanzsphäre verweist also auf strukturelle Fehlentwicklungen und Inkonsistenzen mit bedrohlichen Konsequenzen. Künftige F.n in einem Casino-Kapitalismus (Strange, 1986) können Vehikel für eine erneute beschleunigte Kapitalakkumulation sein. Der hohe Preis dafür wäre nicht alleine eine gigantische Vernichtung von bloßen Eigentumsansprüchen, von fiktivem Kapital und die Entwertung von Kapitalwerten, sondern auch die Vernichtung von Kapital in allen seinen Formen, einschließlich der Arbeitskraft. Die Eliminierung sozialstaatlicher Strukturen und die soziale Ausgrenzung eines erheblichen Teils der arbeitsfähigen Bevölkerung in den kapitalistischen Metropolen und zunehmende Verelendung und Dezimierung der Weltbevölkerung auf dem Trikont wären die Folgen.
Stichworte / Suchfunktionen:
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meldungen finanzkrise
Börsen-Zickzack
Alle wichtigen europäischen und US-Börsenindizes haben bis Ende Mai und im Vergleich zum jeweils höchsten Kursniveau zuvor (das in der Regel Mitte Februar erreicht worden war) zwischen einem Fünftel und einem Viertel des Werts der dort jeweils gehandelten Aktien eingebüßt. Dabei lagen zeitweilig die Einbrüche an den relevanten Börsenplätzen bei 35 und 40 Prozent. Am stärksten verloren oft die Bankaktien. Die Erholung der Kurse hat nichts mit einem besseren Konjunkturverlauf zu tun – im Gegenteil: die Wirtschaftskrise steht erst bevor. Sie hat vor allem mit den gewaltigen Geldsummen zu tun, mit denen der Finanzsektor aus Angst vor einem Crash bedacht wurde.
Ein Geldregen wie noch nie
Im Zeitraum Mitte März bis Ende Mai ergriffen die Zentralbanken, die Regierungen in Westeuropa und in den USA und die internationalen Institutionen IWF und Weltbank Maßnahmen zur Eindämmung der Krise. Dabei regnete es aus einem Füllhorn staatlicher und überstaatlicher Institutionen bislang unvorstellbare Summen. Insgesamt bezifferte der IWF die weltweiten Hilfspakete, die bis Anfang Mai ausgereicht wurden, auf 7,8 Billionen oder 7.800 Milliarden US-Dollar. Das sind (ohne Berücksichtigung der Inflation) rund 50 Prozent mehr als das, was in den Jahren 2008 und 2009 für die Bankenrettung ausgegeben wurde. Dabei muss bedacht werden, dass diese Summen in den ersten drei Monaten der neuen Krise „spendiert“ wurden, wohingegen die Rettungsprogramme in der letzten Krise in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr aufgelegt wurden. Davon entfällt auf die USA mit rund 3 Billionen US-Dollar in absoluten Summen der Löwenanteil.
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt allerdings Deutschland auf Rang 1: Die hier beschlossenen Rettungspakete addieren sich auf rund 700 Milliarden Euro auf.
Spekulanten verspekulieren sich
Auffallend ist, dass auch große Unternehmen und Großspekulanten erhebliche Verluste hinnehmen mussten. So fuhr der Uber-Konzern im ersten Quartal 2020 einen Rekordverlust von 2,9 Milliarden US-Dollar ein. Hertz ging pleite. Warren Buffet, der in der Krise 2008/09 durch kluge Spekulationsgeschäfte noch hinzugewonnen hatte, musste einen Rekordverlust in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar eingestehen.
Deutsche Bank-Millionäre wollen Staatsknete
Die Deutsche Bank läuft sich warm, um Kurzarbeitergeld bei den Sozialkassen zu beantragen. Auf die extrem hohen Einkommen der Top-Manager soll aber nicht verzichtet werden. So sind bei der Bank aktuell 583 Einkommensmillionäre beschäftigt, Leute, die im Jahr mehr als eine Million Einkommen von der Bank beziehen.
Was ist anders gegenüber 2008?
Die Parallelen zwischen der aktuellen Krise und derjenigen von 2008/2009 liegen auf der Hand. Doch es gibt auch zwei wesentliche Unterschiede. Diese sprechen eher dafür, dass es schlimmer kommt als vor zwölf Jahren. 2008/2009 stiegen die Arbeitslosenzahlen insgesamt nur um 25 bis 30 Prozent. In Deutschland sogar noch weniger. 2020 erhöht sich die Massenarbeitslosigkeit mit solchen 30-Prozemnt-Margen in Europa bereits im ersten Vierteljahr. In den USA gab es sogar eine Verdopplung binnen zweier Monate. Und das Schlimmste wird noch kommen – Ende 2020. Sodann trafen sich vor zwölf Jahren bereits im November 2008, wenige Wochen nach der Lehman-Pleite, die Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industriestaaten, um ein Rettungspaket abzustimmen. 2020 agieren fast alle OECD-Staaten auf eigene Rechnung. Trump erhöht das Konfliktpotential noch, indem er die VR China zum Schuldigen erklärt und den Handelskrieg zu verschärfen droht.