Profit statt Prophylaxe

In der Corona-Pandemie verkommt der Infektionsschutz zur Privatangelegenheit

Zwei Jahre ist es nun her, dass ein Virus aus der Tierwelt auf die Menschen übersprang und sich in kürzester Zeit auf dem ganzen Globus verbreitet hat. In diesen zwei Jahren sind Millionen Menschen gestorben, Milliarden Menschen sind von den Auswirkungen einer unzulänglichen Pandemiepolitik betroffen. Während die einen bereits ein Ende der Pandemie erkennen wollen, warnen die anderen vor einem neuerlichen dramatischen Anstieg der Zahlen.

Die einen, das sind die Politiker in Deutschland und vielen anderen Ländern, die sich um Wahlen und Umfragewerte mehr sorgen, als um die Gesundheit ihres Elektorats. Die anderen, das sind die Forscherinnen und Experten, die in den vergangenen Monaten das Kommende stets richtig prognostizierten. So warnte Christian Drosten bereits Anfang September, dass gesamtgesellschaftliche Kontaktbeschränkungen im Herbst wieder nötig würden. Die Hospitalisierungsrate bei der Delta-Variante sei zu hoch und die Impfquote zu niedrig.

Auch zurückhaltende Modellierungen des RKI von Ende Juli zeichnen für Deutschland ein beschleunigtes Infektionsgeschehen ab Mitte Oktober mit einem Peak im Januar/Februar 2022. Es wird erneut zu vielen Todesfällen und einer Überlastung medizinischer Kapazitäten kommen. Diese Szenarien beinhalten bereits, dass ab November die Kontakte wieder um 30 Prozent reduziert würden. Zugleich wurden Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock im Wahlkampf nicht müde, zu betonen, dass sie einen neuerlichen Lockdown im Herbst 2021 ausschließen. Ihr Repertoire in der Pandemiebekämpfung reduzierte sich auf einen Appell zum vermehrten Impfen. Doch was, wenn diesem nicht genügend Menschen nachkommen?

Nichts deutet darauf hin, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen die Zeit der niedrigen Inzidenzen und die Erfahrung der ersten drei Wellen genutzt hätten, um die dringenden Präventionsappelle des RKI umzusetzen. Das notwendige zusätzliche Personal in Krankenhäusern, Gesundheitsämtern, Pflegeheimen und an den Schulen gibt es weiterhin nicht. Wer die vierte Welle stoppen will, darf nicht warten, bis sie da ist. Doch genau dies passiert erneut.

Realismus

In Deutschland stiegen die Inzidenzen im Sommer 2021 deutlich früher und schneller als im Sommer 2020 – und das trotz ebenfalls steigender Impfquote. Die Nachverfolgung von Infektionsketten war den Gesundheitsämtern Anfang August bereits nicht mehr möglich. In Österreich waren Ende August nicht nur die Infektionszahlen, sondern auch die Fälle auf den Intensivstationen um den Faktor 4 höher als im Jahr zuvor. In der Schweiz wurde bereits Anfang September vermeldet, dass das Zürcher Stadtspital Triemli mit Corona-Intensivpatientinnen ausgelastet ist, so dass erneut Operationen abgesagt oder verschoben werden müssen. Das Wasser dieser vermeidbaren Welle stand bereits wieder bis zum Halse.

Die Menschen selbst sind in ihrer Einschätzung deutlich realistischer. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov ergab Anfang Juli – also zu Zeiten einer Niedrigst-Inzidenz unter 5 –, dass 76 Prozent der Befragten einen Anstieg der Infektionszahlen erwarten und 74 Prozent von Verschärfungen der Maßnahmen gegen die Pandemie im Herbst ausgehen.

War es bereits im Sommer 2020 irrsinnig davon auszugehen, dass Deutschland einer zweiten Welle entgehen könne, so ist es ein Jahr später nur noch offensichtliche Ignoranz der unmittelbaren Realität. Eine Ignoranz, die aus zynischem Kalkül schöpft. Denn diese Ignoranz maskiert nichts anderes als die Inkaufnahme unzähliger Toter, um die Wirtschaft störungsfrei am Laufen zu halten.

Die Regierungen Deutschlands und vieler anderer Länder haben ihre Pandemiepolitik der Aufrechterhaltung der Mehrwertproduktion untergeordnet und die „Gesundheit der Wirtschaft“ in den Mittelpunkt ihrer Anstrengungen gestellt. Die Gesundheit der Menschen blieb ein individuelles Problem, solange daraus keine größeren gesellschaftlichen Verwerfungen zu folgen drohten. Eine Flatten-the-Curve-Strategie ließ stets das Sterben zu – immer knapp entlang der ausgereizten medizinischen Kapazitäten und einer Triage im Dunklen der Pflegeheime.

Dennoch ist es eine Frage des Standpunktes, ob 93.000 Tote in Deutschland, konservativ geschätzt 800.000 Long Covid Fälle, eine mit 2,2 Billionen Euro historisch hohe Staatsverschuldung, eine weiterhin erhöhte Arbeitslosenquote als ein Scheitern der deutschen Politik aufgefasst werden kann. Wer den Staat vorrangig in seiner Funktion zur Sicherung der Kapitalakkumulation begreift, wird kaum vom Scheitern sprechen. Die Lasten der Pandemie werden auf dem Rücken der Menschen ausgetragen. Die sozial Schwächsten zahlen den höchsten Preis.

Gesunde Wirtschaft

Anders als in gewissen Bereichen im Dienstleistungssektor, gab es in der Industrie keinerlei Schließungen im Namen des Gesundheitsschutzes. Die wichtigsten Kapitalfraktionen kamen ausgesprochen gut durch die Krise. Vor allem auch weil der Staat den Löwenanteil der Verluste absorbierte. Sei es durch Transferzahlungen wie Kurzarbeit, ausgesetzte Steuerforderungen oder das Konjunkturpaket in Höhe von 167 Milliarden Euro. Im Gegensatz dazu muten die gesamt nur 550 Millionen als Prämie für die Pflegekräfte wie eine Verspottung derjenigen an, die an vorderster Stelle und teils jenseits ihrer Belastungsgrenzen die Krise bewältigen müssen. In Österreich ist ein 500 Euro Corona-Bonus für das Gesundheitspersonal nicht minder lächerlich.

Die Lücke zwischen ideeller Erwartung der Bürgerinnen, dass ein Staat das Leben der Menschen schützt, und der traurigen Realität, die sich wenig um das Wohl und die Gesundheit schert, wurde nicht offengelegt. Darin zeigt sich ein Scheitern linker Kräfte, die nicht die Regierungspolitik als unzureichend anprangerten, sondern stattdessen die Pandemie zu relativieren suchten.

Doch wie lässt sich das Sterben von weltweit täglich 10.000 Menschen über Monate hinweg relativieren? Wird die moralische Erschütterung geringer, weil gleichzeitig 24.000 Menschen an Hunger, 2.000 Menschen an Aids, 1100 Menschen an Malaria und 500 an Cholera sterben? Es gibt keine Relativierung von Toten, keine Aufrechnung von Kollateralschäden, es gibt nur den bloßen Zynismus gegenüber menschlichem Elend und die ignorante Auslöschung von Leben, welches dem Verwertungsprozess des Kapitals nicht mehr zuträglich und damit überschüssig geworden ist.

Viele Analysen weisen darauf hin, dass das Ausmaß des Sterbens höher ist als die offiziellen Statistiken es mit 4,6 Millionen im September erfassten. Die University of Washington berechnete, dass bis Mai 2021 bereits 6,9 Millionen Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen seien. Die Zahl beinhaltet noch nicht die verheerende Pandemiewelle in Indien. Auch eine kontinuierliche Analyse von Sterbestatistiken der Zeitschrift The Economist ging davon aus, dass aufgrund der Übersterblichkeit bis Anfang Mai 2021 bereits 7 bis 13 Millionen Menschen an dem Virus und den Begleiterscheinungen gestorben sind. Diese unsichtbaren Toten sterben in Ländern Asiens und Afrikas, aber auch in Südamerika oder in Russland, wo die Untererfassung ebenfalls ausgesprochen hoch ist.

Selfie

Zugleich haben hierzulande angesichts des Rückgangs der Infektionszahlen, sowie des zunehmenden Impffortschritts im Frühsommer manche Linke ein Ende der Pandemie ausgerufen – gern in Verbindung mit einem Selfie des eigenen frisch geimpften Armes. Die Generalisierung der subjektiven Lebensrealität zeigte häufig, wie wenig über den eigenen nationalen Tellerrand hinausgeschaut wurde und setzte ein Muster fort, das seit Anbeginn der Pandemie in einer Mischung aus Ignoranz, eurozentristischer Überheblichkeit, Relativierung und Negation das Ausmaß der Pandemie verkannte.

Weiterhin werden die nachhaltigen Gesundheitsfolgen durch Long Covid oder die Gefahr von Mutationen ignoriert. Gerade Länder wie Deutschland mit einem hohen Anteil Geimpfter bei gleichzeitig vielen frei zirkulierenden Viren ist die ideale Petrischale für sogenannte Escape-Mutationen, welche dem Virus erlauben, die durch eine Impfung oder Infektion gelernte Immunabwehr zu umgehen.

Wenn linke und gewerkschaftliche Organisationen zur Eindämmung der Pandemie vor allem auf eine rasche Durchimpfung der Bevölkerung setzen, lassen sie die unsägliche Realität der imperialen Impfstoffpolitik außer Acht. Während in Europa Anfang September durchschnittlich rund 70 Prozent der Bevölkerung voll immunisiert sind, sind es in Afrika nicht einmal zwei Prozent. Je heftiger hierzulande die vierte Welle um sich greifen kann, umso drängender werden weitere Auffrischungsimpfungen. Jede Impfung hier, im Zentrum Europas, ist eine, die in ärmeren Ländern fehlt. Daran ändert auch die Forderung nach der Freigabe von Patenten auf Impfstoffe nichts.

Globale Verantwortung

Gerade Deutschland setzte durch, dass die EU einem Vorstoß des amerikanischen Präsidenten Joe Biden zur Lockerung des Patentschutzes mit einem klaren Veto begegnete. Die scheidende Bundeskanzlerin hat erst jüngst bei einem Besuch des Biontech Standortes in Marburg bekräftigt, dass Deutschland seine Führerschaft im Bereich der Biotechnologie ausbauen will. Deutschland soll wieder „Apotheke der Welt“ werden. Während anlässlich Merkels Abschiedsbesuch in den USA vielerorts vor deutschen Vertretungen gegen die deutsche Impfstoffpolitik protestiert wurde, blieb es hierzulande mit Ausnahme weniger kleiner Aktionen äußerst still. All jene Linken, die seit Monaten die Pandemie als Manöver einzelner Kapitalfraktionen, allen voran der Pharmaindustrie, deuteten, waren nicht wahrzunehmen.

Ungeachtet der Patentfrage kann die Impfstoffproduktion nicht kurzfristig in dem Maße hochgefahren werden, wie eine globale Massenimpfkampagne es verlangen würde. Dazu fehlten Produktionskapazitäten, Vorprodukte und qualifiziertes Personal. Es ist ein Akt globaler Verantwortung, die Inzidenzen in jenen Ländern, die es sich leisten können, niedrig zu halten, um die vorhanden Impfstoffe dort einsetzen zu können, wo Menschen zur Sicherung ihrer Existenzgrundlage der Pandemie nicht ausweichen können.

In einer Pandemie ausschließlich auf eine medizinisch-technische Lösung, wie eine Impfung, zu setzen, verkennt ihren Charakter. Epidemien sind keine zufälligen Ereignisse, sondern stets eng verbunden mit den Gesellschaften, in denen sie auftreten. Sie machen die Struktur einer Gesellschaft, ihre Lebensweise und ihre politischen Prioritäten sichtbar. Auch wenn das Virus ein Teil der Natur ist und den Gesetzen von Ökologie und Evolution folgt, über Artgrenzen springt, sich verbreitet und mutiert, so ist eine Pandemie keine Naturkatastrophe, sondern kann durch gesellschaftlich geplantes Handeln in ihrer Dynamik beeinflusst und gebrochen werden. Es mutet paradox an, dass es gerade die Virologinnen und Mediziner, die Physikerinnen und Mikrobiologen waren, die die Bedeutung „nicht-pharmazeutischer Maßnahmen“ in der Pandemiebekämpfung immer und immer wieder betonten, während auch kritische Sozialwissenschafter:innen auf eine schnelle technische Lösung set zten. Anstatt einem gesamtgesellschaftlichen Problem mit kollektivem und geplantem Handeln zu begegnen, wurde zur Verteidigung individueller liberaler Bürgerrechte aufgerufen. Was bedeutet es, wenn linken Kräften die gesellschaftliche Vorstellungskraft abhanden gekommen ist?

Privates Risiko

Umso drängender stellt sich diese Frage, wenn nun zunehmend die Regierenden die Pandemie explizit zur Privatsache erklären. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz formulierte dies im Sommer besonders deutlich: „Die Krise redimensioniert sich. Sie wandelt sich von einer akuten gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem“ und würde nur noch jene betreffen, die sich aus freiem Willen nicht impfen lassen wollen. Sobald der österreichische Staat allen Bürger:innen ein Impfangebot gemacht habe, trage er keine Verantwortung mehr. Die gesamtgesellschaftliche Krise wird den Individuen überantwortet. Doch diese Regierungsrhetorik räsoniert in einer vom Neoliberalismus zerfressenen Gesellschaft und zeigt sich auch im Impuls, die Impfung als rein individuelle Entscheidung und nicht als einen solidarischen Akt am Kollektiv der Gesellschaft zu verstehen. Es verwundert folglich nicht, dass Deutschland zu jenen Länd ern gehört, die mit rund 25 Prozent den größten Anteil an überzeugten Impfgegnern weltweit haben. Die medizinisch-technische Lösung droht an ihrer gesellschaftlichen Komponente zu scheitern.

Um die Pandemie einzudämmen, braucht es neben medizinischer und pharmazeutischer Entwicklungen grundlegend verbindende soziale Praktiken – was auch zeitweise physische Distanzierung notwendig machen kann. Diese müssen von unten organisiert werden, gerade auch als Gegenpol zu den autoritären Tendenzen, die sich in der Pandemiepolitik zeigten. Linke und gewerkschaftliche Organisationen verabsäumten es, den Missmut der Menschen mit der Regierungspolitik in einer solidarischen Perspektive zu bündeln, womit sie eine Mitverantwortung am Auftreten der Querdenkerbewegungen im Sommer 2020 tragen.

Dein starker Arm

Die Initiative ZeroCovid konnte über die bloße Sphäre der Diskursverschiebung hinaus keinen Druck von unten materialisieren. Gewerkschaften hätte hier eine wichtige Rolle zukommen können. Doch statt die Gesundheit der Beschäftigten in den Mittelpunkt zu stellen, haben sie sich einmal mehr im gemeinsamen Krisenmanagement mit den Unternehmensleitungen eingerichtet. Die Gewerkschaftsführungen haben sich zu Mittätern gemacht. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen galt mehr als die Gesundheit der Arbeitenden und deren Familien. IG-Metall Chef Jörg Hofmann spielte gar Gesundheitsschutz und Sozialstaat gegeneinander aus, indem er ein Runterfahren der industriellen Produktion ausschloss, denn „dann würde unsere Wirtschaftskraft zusammenbrechen. Doch diese Kraft brauchen wir dringend, um uns weiter alle sozialstaatlichen Maßnahmen zur Abfederung der Folgen der Krise leisten zu können.“ Der Chefökonom des Schweizer Gewerkschaftsbundes Daniel L ampart sprach sich ebenfalls gegen jegliche Pause für die Betriebe aus: „Eine solche radikale Maßnahme wäre viel zu schädlich für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze“. Gewerkschaftsführungen, die das Wohl der Lohnabhängigen aus dem Wohl der Unternehmen ableiten, machen sich überflüssig – zumindest für die Beschäftigten.

Anstatt die Arbeitsstätten als Pandemietreiber zu benennen und im Austausch mit den Beschäftigten Daten dazu zu sammeln oder Schutzmaßnahmen auf Betriebsebene durchzusetzen, haben die Gewerkschaften sich mit dem Regierunsgdiskurs angeschlossen und den Arbeitsplatz als Ort der Ansteckung beschwiegen. Die Pandemie gab es nur außerhalb der Fabrikstore, wurde auch hier zu einer Pandemie im Privaten.

Doch solange es die Pandemie gibt, bleibt sie ein Allgemeinübel. Auf das es gemeinschaftliche Antworten braucht. Auch eine neue Regierung wird diese nicht formulieren. Das zögerliche Verhalten von Angela Merkel im Herbst 2020 und der späte Lockdown haben gemäß Analysen vermutlich 30 Tausend Menschenleben gekostet. Wieviele werden es dieses Mal sein? Wer trägt die Verantwortung für all diese Leben? Und wie werden sich die linken Kräfte in dieser neuerlichen Situation verhalten? Was haben sie gelernt?

Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre lassen viel Raum für Pessimismus – oder viel Luft nach oben.

Siehe dazu Frank Snowden im Buch „Epidemics and Society: From the Black Death to the Present“.

Verena Kreilinger ist Medienwissenschaftlerin und hat mit Christian Zeller und Winfried Wolf das Buch „Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in Zeiten der Pandemie“ verfasst.