„Covidfreies“ Australien:

Jetzt mit Covid leben?

Bis vor einigen Wochen galten Australien und Neuseeland als die Aushängeschilder des Zero-Covid. Dann ging alles ganz schnell, ausgehend von einem einzigen Limousinenchauffeur, der seine amerikanische Pilotencrew vom Flughafen zum Qurantänehotel brachte, ohne geimpft zu sein oder auch nur eine Gesichtsmaske zu tragen, und dann die nächsten Tage sich in Kneipen, Cafes und Einkaufszentren Sydneys vergnügte. Als die erste Infektionswelle bekannt wurde, empörte sich die Presse über so viel Leichtsinn und rief die Polizei auf den Plan, doch die eigentliche Verantwortung lag bei den Politikern und Bürokraten, die es versäumt hatten, die simpelsten Quarantäneregeln auch für kommerzielle Flugbesatzungen vorzuschreiben.

Das war im Juni. Heute (Stand 5. September 2021) hat Sydney 1500 tägliche Neueinfektionen mit exponentieller Wachstumskurve, eine akute Kapazitätskrise in den Krankenhäusern, berittene Polizei und Armeeeinheiten auf den Straßen. Die Seuche hat sich im ländlichen Teil des Bundestaates New South Wales (NSW) und seiner verarmten und krankheitsanfälligen indigenen Bevölkerung, sowie in Melbourne und dem zweitgrössten australischen Bundestaat Victoria, der Hauptstadtsenklave Canberra, und in Neuseeland verbreitet. Nun droht die radikale Abwendung von Zero-Covid unter der Parole „Mit Covid leben“.

Die Kehrtwende wird mit der Behauptung „Delta is different“ begründet: Dieser Variante sei mit den Mitteln des Contact Tracing und des Lockdown nicht beizukommen. Es bleibe nichts anderes übrig, als soviele Menschen wie möglich, und so schnell wie möglich, zu immunisieren und bei 70 bis 80 Prozent Geimpften eine „neue Freiheit“ für die Besitzer eines gültigen Impfpasses auszurufen. 70 bis 80 Prozent der über 16-Jährigen sind aber nur die Hälfte bis zwei Drittel der Gesamtbevölkerung, also eine gesundheitspolitische Zweidrittelgesellschaft mit einer fortwütenden „Pandemie der Ungeimpften“ wie in Boris Johnson’s Großbritannien.

Natürlich ist Delta infektiöser als bisherige Covidvarianten. Aber ohne die fahrlässige Handhabung der Grenzquarantäne hätte Delta gar nicht erst in Australien ankommen können. Alle vorherigen Covid-Ausbrüche resultierten aus ähnlichen Pannen, zumeist in Touristenhotels, denn die zuständige Zentralregierung weigerte sich, die Mittel für adäquate Quarantänestationen bereitzustellen. Die Labor-Regierung in Victoria hatte schon bei einem früheren Ausbruch demonstriert, wie auch Delta durch ein schnelles und konsequentes Lockdown unterdrückt werden kann – so, wie es gerade jetzt wieder in Neuseeland geschieht. Das späte und halbherzige Lockdown der liberal-konservativen Premierministerin Gladys Berejiklian in NSW seit Juli dagegen – mit wochenlangem business as usual für Einkaufszentren, Baustellen, und McDonald‘s-Filialen – konnte die Seuchenkurve um keinen Deut verflachen. Jedenfalls nicht in den ärmeren südwestlichen, v on asiatischer, arabischer und osteuropäischer Immigration geprägten Vororten Sydneys, deren Arbeitskraft das australische Gesundheitssystem, die Bauindustrie und den Einzelhandel aufrecht hält, während die Bürokräfte, Lehrer, and Manager in den wohlhabenderen östlichen Vierteln ihre Laptops auf den Küchentischen ausbreiten und nach getaner Heimarbeit an den Stränden von Bondi, Coogee und Manly flanieren. Als im Osten die täglichen Infektionsziffern explodierten, wurde der Lockdown für zwölf Stadtbezirke durch nächtliche Ausgangssperre, Polizeikontrollen, und Militärpatrouillen verschärft.

Berejiklian und ihr Parteifreund, der australische Premierminister Scott Morrison, setzen jetzt auf die Impfkarte. Es wächst aber der Widerstand, angeführt von den Regierungschefs der Bundestaaten, die sich weigern, „Delta aus Sydney zu importieren“.

Die trotz der intensiven Kampagne der letzten Wochen noch immer nur bei 38 Prozent der Über-16-jährigen liegende Impfquote wird nicht nur von der Labor-Opposition der Morrison-Regierung angelastet. Die habe, so Labour-Führer Anthony Albanese, in ihren wichtigsten Aufgaben, für eine effektive Außenqurantäne und die Bereitstellung von Impfstoffen zu sorgen, versagt. Die Chance, Zero Covid zumindest so lange zu halten, bis alle Australier in den Genuss eines vollen Impfschutzes gekommen sind, wurde vertan.

Der Widerstand der noch covidfreien Bundesstaaten ist nicht die einzige Schwachstelle des Morrison-Berejiklian-Plans für ein Leben mit Covid. Immer noch sind die Schulen geschlossen. Die 12- bis 16-Jährigen sollen zwar jetzt im Schnellverfahren geimpft werden, aber selbst wenn dies rechtzeitig für eine Öffnung vor Weihnachten gelingen sollte, verbleiben die jüngeren Schulkinder, für die noch kein Impfstoff verfügbar ist. Sie noch für weitere Monate vor ihren Heimcomputern, sofern vorhanden, sitzen zu lassen, ist politisch genau so brisant wie die Alternative: sie inmitten einer neuen Infektionswelle in die Schulen zurückzuschicken. Da liegt noch Zündstoff auf dem Weg zur “Normalisierung” – und im Mai kommenden Jahres stehen Parlamentswahlen an.

Günter Minnerup ist Historiker und lebt seit zwei Jahrzehnten in Australien.