„Mir ging es darum, das Werk endlich auf dem Stand zu präsentieren, den Marx selbst fixiert hatte“

Ein Gespräch mit Thomas Kuczynski, dem Herausgeber der neuen Textausgabe von Karl Marx, Das Kapital

Ende 2017 erschien im Verlag VSA, Hamburg, „Karl Marx Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie – Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals“ in Form einer „Neuen Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski“. In weniger als einem halben Jahr war die erste Auflage vergriffen, eine zweite befindet sich im Verkauf. Das macht deutlich: Das Interesse an der „Neuen Textausgabe“ ist groß. Gleichzeitig gab es aber auch kritische Stimmen, die den enormen Aufwand, den Thomas Kuczynski als Herausgeber und Bearbeiter dieses Werkes zu leisten hatte, hinterfragten: Reichen die „Blauen Bände“, die Marx-Engels-Werke (MEW), und die hochwissenschaftliche MEGA nicht? Warum brauchen wir eine „Neue Textausgabe“? Warum wird in ein solches Projekt ein Jahrzehnt Arbeit eines Wissenschaftlers „investiert“?

Lunapark21 stellte diese Fragen demjenigen, der diese gewaltige Leistung selbst bewerkstelligte: Thomas Kuczynski, der im Übrigen seit der ersten Ausgabe von Lunapark21 im Rahmen der Rubrik „Geschichte und Ökonomie“ in dieser Zeitschrift präsent ist.

Thomas K. wurde von Jürgen Bönig, Autor des 2017 erschienenen Buchs „Karl Marx in Hamburg“ und Mitglied der LP21-Redaktion, interviewt.

Du hast ein Jahrzehnt lang an der Neuen Textausgabe [im Folgenden auch als NTA bezeichnet; d. Red.] von Das Kapital Erster Band gearbeitet, um den Leserinnen und Lesern einen Text an die Hand zu geben, der den Intentionen von Karl Marx sehr nahe kommt. Sind die bei den Übersetzungen und Neubearbeitungen entstandenen neuen Formulierungen von Karl Marx wirklich so gravierend, dass wir sie nicht entbehren können?

Thomas Kuczynski: Marx hat an dem in Band I des Kapitals enthaltenen Grundkonzept nach dem Erscheinen der Erstausgabe nichts geändert. Wer es begreifen will, kann das schon anhand der Erstausgabe tun. Er selbst aber hat sich zweimal der Mühe unterzogen, große Passagen des Buches zu überarbeiten – in der zweiten deutschen Ausgabe vor allem die ersten beiden Abschnitte, in der französischen die letzten beiden. Eben deshalb wies er potentielle Übersetzer an, bei ihrer Arbeit beide Ausgaben sorgfältig miteinander zu vergleichen. Ende 1881 hatte er sogar vor, das Buch in großen Teilen umzuarbeiten, ist allerdings nicht über das erste Unterkapitel hinausgekommen.

Ich halte diese Änderungen und Zusätze deshalb für wesentlich, weil sie alle zu einer verbesserten Darstellung des unverändert beibehaltenen Grundkonzepts beitragen. Mir ging es vor allem darum, das Werk endlich auf dem Stand zu präsentieren, den Marx bei seinen Überarbeitungen, den Eintragungen in seinen Handexemplaren und den Anweisungen an potentielle Übersetzer schriftlich fixiert hatte.

Marx war immer am besten, wenn er sich mit Einwänden auseinandersetzen und in der Kritik seine eigenen Auffassungen darlegen konnte. Beim Kapital Erster Band kannten nur er selber und vielleicht seine Frau Jenny den Text. Der Verleger Meissner hat durch die Vergabe des Satzes und die einmalige Schlussrevision verhindert, dass Marx noch während des Satzprozesses Ergänzungen einfügen konnte und somit die Auseinandersetzung von Marx mit seiner Darstellung erst in den Neuauflagen und den Ausgaben in Französisch, Englisch und Russisch stattfinden konnte. Sind bei diesen Bearbeitungen von Marx neue Begriffe verwendet, Begrifflichkeiten konsequenter durchgehalten oder neue Erläuterungen benutzt worden?

Th. K.: In der ersten Auflage hatte Marx die Termini Tauschwert und Wert geradezu synonym verwendet. In der zweiten differenzierte er dann zwischen beiden sehr viel schärfer, ohne dies jedoch konsequent durchzuhalten. Wer also eine begrifflich konsistente Darstellung der Arbeitswerttheorie geben will, wird nicht um eine kritische Analyse dieser Passagen herumkommen. Wichtig ist auch, dass sich die Unterscheidung zwischen Konzentration und Zentralisation des Kapitals erst in der französischen Ausgabe findet, aus der sie Engels in die von ihm herausgegebenen Ausgaben übernommen hat. Dagegen hat Engels den Begriff „outillages“ (Ausrüstungen), der bei Marx alle von Menschenhand geschaffenen Produktionsmittel umfasst, in seiner Übersetzung auf Arbeitsmittel reduziert und die den Terminus erläuternde Note weggelassen (vgl. NTA S. 535f). Für wesentlich halte ich, dass Marx in der französischen Ausgabe die Logik der Darstellung so stark verbessert hatte, dass sie auch dem deutschen Lesepublikum zugänglich sein sollte.

 Der erste Leser des Korrekturandrucks der ersten Kapitel des Kapital nach Marx, Ludwig Kugelmann, fand die Darstellung unverständlich und den gewöhnlichen Leser überfordernd, eine Auffassung, der sich Engels anschloss, als er den gedruckten Text der ersten 32 Seiten zu Gesicht bekam. Der daraufhin von Marx formulierte „schulmeisterliche“ Anhang über die „Werthform“ in der Erstausgabe ist in der zweiten Auflage von Marx nach vorne gerückt und zu dem sehr herausfordernden Kapitel über „Werth, Waare und Geld“ verwoben worden. Hast Du Anzeichen gefunden, dass Marx mit dieser Fassung jetzt zufrieden war oder möglicherweise nach den Erfahrungen mit der französischen und englischen Übersetzung seiner Begriffe noch eine andere Darlegung seiner Erkenntnismethode gewählt hätte?

Th. K.: Die im November 1881 begonnene Neubearbeitung des ersten Unterkapitels zeigt meines Erachtens ganz deutlich, dass er mit den zuvor gegebenen Fassungen nicht zufrieden war. Deshalb habe ich diese Neuansätze so weit wie möglich in der NTA berücksichtigt; im dazugehörigen historisch-kritischen Apparat ist ihre für Marx sehr mühevolle Erarbeitung Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Ebenso möchte ich in diesem Zusammenhang an seine damals verfassten kritischen Bemerkungen zu Adolph Wagners “Lehrbuch der politischen Ökonomie” erinnern (vgl. MEW, Bd. 19, S. 355-383), in denen manche Autoren auch ein Stück Selbstkritik der in Band I publizierten Darstellung sehen.

Marx hat den Umfang seines Textes bei der Übergabe an seinen Verleger um die Hälfte unterschätzt: Es waren50 Druckbogen mit insgesamt knapp zwei Millionen Zeichen anstelle von 25 Druckbogen. Hinzu kam noch eine Menge argumentierenden Text, versteckt in kleiner gesetzten Fußnoten. Gehören die ausführlichen Fußnoten von Marx in den eigentlichen Text des Kapital oder mindestens in den Argumentationsgang, den man nachvollziehen sollte, oder führen sie vom Haupttext ab?

Th. K.: Die Fußnoten sind ein wesentlicher Bestandteil der Marx’schen Darstellung. Wer wissen will, was Marx unter Vulgärökonomie verstanden hat, muss die Schlussnote zum Unterkapitel über die Wertform lesen (NTA, S. 46), denn nirgendwo anders hat er das so klar formuliert. Auf die bedeutende Rolle, die der Protestantismus für die Entstehung des Kapitalismus in Europa gespielt hat, weist Marx, lange vor Max Weber, in einer Fußnote hin, die übrigens auf seiner Lektüre der hundert Jahre zuvor formulierten Ansichten von Richard Cantillon basiert (NTA, S. 232). Auch seine historisch-kritischen Bemerkungen zur politökonomischen Literatur finden sich zumeist in den Fußnoten. Wer das Werk als Lehrbuch oder als Katechismus missversteht, mag diese Anmerkungen als vom Haupttext ablenkend bewerten. Aber Marx hat weder das eine noch das andre geschrieben, und deshalb gehören die Fußnoten ebenso dazu wie die realhistorischen Darstellungen, die er in dem Werk gegeben hat, und die von vielen Marxologen als von der Theorie ablenkend abgewertet worden sind. Sicherlich ist manches Überflüssige und Unsortierte dabei, das hatte schon Engels bei der Lektüre der Erstausgabe angemerkt, aber die Noten, die ein allzu flüssiges Lesen und Überlesen (!) unterbrechen, bewirken vielleicht auch ein tieferes Nachdenken über die im Haupttext vorgetragenen Argumentationen.

Der Übergang zum 2. Band des Kapital fällt am Ende des Ersten Bandes sehr dünn und kurz aus. Gibt es Anzeichen dafür, dass Marx eine andere Verflechtung der drei Bände des Kapital gewählt hätte als sie Friedrich Engels bei der Herausgabe von Band 2 und 3 verwendet hat?

Th. K.: Das ist ein schwieriges Problem. Ursprünglich hatte Marx vor, in Band I des Kapitals das erste und das zweite Buch zu veröffentlichen, und noch 1881 wollte er in Band II das zweite und das dritte Buch publizieren; diese Differenz zwischen Band und Buch ist im Folgenden zu beachten. Marx hatte 1864 für das erste Buch ein Kapitel 6 entworfen, in dem er die “Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses” darstellen wollte. [1] Das sollte wohl das Schlusskapitel des ersten Buches werden. Warum er es – umgestellt und überarbeitet – nicht in die Erstausgabe aufgenommen hat, darüber gibt es verschiedene Hypothesen, die von „nicht mehr notwendig” bis “einfach vergessen” reichen, aber allesamt unbewiesen sind. Den stattdessen in der Erstausgabe vorhandenen Schlussabsatz hat er später selber weggelassen. Ob er bei der 1881 ins Auge gefassten Überarbeitung einen anderen Übergang gewählt hätte, weiß niemand. Sicher aber ist, dass Engels hier nicht eingegriffen hat, denn der von ihm herausgegebene Band beginnt genauso wie der letzte von Marx 1878 verfasste Entwurf von Kapitel 1 des 2. Buches.

Ist Dir jemals der Gedanke gekommen, auch für den 2. oder gar für den 3. Band des Kapital eine Neue Textausgabe zu beginnen oder zu initiieren, die jedenfalls für die Arbeit von Engels und deren Bewertung eine getreuliche Textgrundlage liefern könnte?

Th. K.: Die Problematik einer Neuedition der Bücher II und III liegt auf einer völlig anderen Ebene als die von Buch I. Bei Buch II liegen insgesamt acht Teilmanuskripte und mehrere Fragmente vor, allesamt unvollendet, aus denen Engels seine Edition komponieren musste. Bei Buch III liegt ein ganz unvollständiger Rohentwurf vor, den Engels, um ihn lesbar zu gestalten, ergänzen und überarbeiten musste. Sicherlich hat er dabei nicht alles richtig gemacht, aber mein Vorschlag, dass die Engels-Kritiker nun, nachdem die Kapital-Edition in der MEGA abgeschlossen ist, auf der Grundlage der Marx’schen Manuskripte und Fragmente dem interessierten Lesepublikum eine besser gelungene Ausgabe vorlegen könnten, scheint bislang kein Gehör gefunden zu haben. Es ist halt einfacher, die Resultate andrer zu kritisieren, als selber etwas vorzulegen.

Unterstellen wir einmal, Marx wäre bei der weiteren Bearbeitung des Kapital nicht so krank gewesen, wie er war, und er hätte nicht ständig fürchten müssen, früh zu sterben. Wäre er beispielsweise so alt geworden wie sein Verleger Otto Meissner, nämlich 81 Jahre, hätten wir dann eine gänzlich andere Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise, als sie im 1. Band und den Manuskripten zum 2. und 3. Band vor uns liegt?

Th. K.: Eine gänzlich andere Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise hätte Marx ganz sicher nicht geschrieben, denn das hätte ja bedeutet, dass er zu der Erkenntnis gelangt wäre, bislang alles falsch gemacht zu haben. Dafür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Aktualisiert hätte er vieles, Russland und die USA viel stärker berücksichtigt, wohl auch China, vielleicht auch manche Schwerpunkte anders gesetzt. Aber all das wissen wir nicht, und es ist meines Erachtens müßig, darüber zu spekulieren. Dasselbe gilt natürlich noch viel mehr für Buch III, dessen 1865 geschriebenes Hauptmanuskript er – von den andauernden Versuchen, das Verhältnis von Mehrwert- und Profitrate mathematisch zu fassen, abgesehen – faktisch nie wieder angerührt hat.

Hat Marx nach dem Schreiben des Ersten Bandes des Kapital und der Arbeit am 2. und 3. Band seinen Sechs-Bücher-Plan aufgegeben? Oder hätten wir seine Auffassungen zur Politik und zur Rolle und Funktionsweise des Staates weiterhin in gesonderten Büchern über Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, internationalen Handel und Weltmarkt erfahren? Oder hätte sich diese Thematik mit der Gesamtdarstellung des Kapital dann doch erledigt?

Th. K.: Es liegt mir fern, den im April 1858 in einem Brief an Engels skizzierten “Sechs-Bücher-Plan” [2] als momentane Eingebung abzutun, denn Marx hatte zu diesem Zeitpunkt schon das letzte Heft seiner “Grundrisse” in Arbeit, redete also nicht einfach ins Blaue hinein. Aber einiges scheint dafür zu sprechen, dass Marx später zu anderen Einsichten gelangt ist. So findet sich der im Brief konzipierte “Übergang von Kapital auf Grundeigentum” (vom 1. zum 2. Buch) im “Kapital” faktisch als Kapitel 6 vom 3. Buch (“Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente”). Und der im Brief konzipierte “Übergang des Grundeigentums in die Lohnarbeit” (vom 2. zum 3. Buch) entfiel zu Gunsten von zwei Unterkapiteln in der Erstausgabe, in denen er den Arbeitslohn (Unterkapitel 5.4.) und die ursprüngliche Akkumulation (Unterkapitel 6.2.) abgehandelt hat. Dass er das Kapitel 6 des 3. Buches aufgrund seiner ausgedehnten Studien zu Russland weiter ausgebaut hätte, halte ich für sicher, vielleicht hätte er sogar ein ganzes Buch dazu geschrieben, aber bestimmt nicht in Anlehnung an den alten “Sechs-Bücher-Plan”.

In der Neuen Textausgabe lässt sich der durchgehende Text von Marx mit allen Literaturverweisen von Marx lesen und parallel dazu als elektronische Datei der historisch-kritische Apparat zeilengenau nachverfolgen, so dass der Lesegenuss des gedruckten Textes nicht durch ständige Anmerkungen im gedruckten Text gestört wird. Wäre nicht an eine historisch-kritische elektronische Ausgabe die Anforderung zu stellen, die verschiedenen Schichten der Manuskripterarbeitung, der Varianten, der verschiedenen Textausgaben und der Anmerkungen und kritischen Kommentare in einem elektronischen Dokument zur Verfügung zu haben, in dem sich zwischen den verschiedenen Ebenen wechseln lässt?

Th. K.: Das wäre wunderbar, setzte aber den Einsatz von wissenschaftlich-technischen Hilfskräften, eines weitaus besseren elektronischen Instrumentariums und last not least beträchtlicher Finanzmittel voraus – alles Dinge, die mir als Einzelnem nicht zur Verfügung standen. Wenn sich eine Institution fände, die die Neue Textausgabe als Anregung zu einer solchen elektronischen Ausgabe aufgriffe und sie realisierte, würde mich das sehr freuen. So wie es Hippolyte Taine (1828–96) in der Vorrede zu seinen 1894 erschienenen “letzten Studien” formulierte: Die größte Freude eines arbeitenden Geistes besteht in dem Gedanken an die Arbeit, welche andere später machen werden.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Bd.II/4.1, S. 24-130, sowie Karl Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Sechstes Kapitel des Ersten Bandes des “Kapitals” (Entwurf). Berlin 2009.

[2] Vgl. Marx-Engels-Werke, Bd. 29, S. 311-18, bzw. MEGA, Bd. III/9, S. 121-25, sowie die Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2013 (Marx’ Sechs-Bücher-Plan. Eine Debatte). Hamburg 2015.